Adolphe Thiers
Adolphe Thiers, der 1797 in Marseille geboren war und 1877 in St. Germain-en-Laye bei Paris starb, hat in seinem achtzigjährigen Leben, während dessen er immer im Vordergrund der politischen Bühne Frankreichs stand und handelte, viele Beinamen erhalten. Gambetta nannte ihn während des 1870er Krieges »den unheimlichen Greis«, für den Royalisten de Meaux war er nach dem Friedensschluß »der unvermeidliche Mann«, die Männer des von ihm niedergeworfenen Kommune-Aufstandes bezeichneten ihn kurz als den »Massenmörder«, die Geschichte aber wird ihm den Ehrentitel des »Befreiers des Staatsgebietes« lassen, den ihm Gambetta, ehemals sein heftiger Gegner, bei einem denkwürdigen Anlaß widmete. Das war in der Kammersitzung vom 16. Juni 1877, während eines leidenschaftlichen Redekampfes über Mac Mahons parlamentarischen Staatsstreich vom 16. Mai. Auf Angriffe gegen die Rückschrittspartei und die Nationalversammlung von 1871, in der sie die große Mehrheit hatte, rief de Fourtou, der gewalttätigste Minister im Faustkabinett des Herzogs von Broglie: »Die Nationalversammlung hat das Staatsgebiet befreit!« Mit seiner gewohnten Schlagfertigkeit erwiderte Gambetta auffahrend: »Der Befreier des Staatsgebietes ist dieser hier!« und wies mit weit ausgestrecktem Arm auf Thiers, der still, gekrümmt, geschrumpft auf seinem Platze saß. Die ganze Linke der Kammer sprang auf, wandte sich dem in sich versunkenen Greis zu, klatschte minutenlang wütend in die Hände und wurde nicht müde, donnernde Hochrufe auszubringen. Der Auftritt wurde von Ehrmann in einem großen Gemälde von mäßigem künstlerischen Verdienst, doch starkem anekdotischen Interesse festgehalten, das sich jetzt in Versailles befindet. Eine derartige Apotheose ist der Lohn eines dem Gemeinwesen gewidmeten Lebens und weist ihrem Helden seinen dauernden Platz in der Geschichte seines Vaterlandes und des Weltteils an.
Thiers ist eine so vollendete Verkörperung des französischen Bürgertums, seiner Vorzüge und seiner Begrenzungen, seine Laufbahn so bezeichnend für die Möglichkeiten, die eine freie Demokratie einer hochbegabten und starken Persönlichkeit bietet, daß man glauben möchte, ein synthetisierender Romandichter von tiefster Geschichtsauffassung, großartiger menschenbildnerischer Kraft und gelegentlicher leiser Ironie habe die Gestalt, ihre Entwicklung und Geschichte frei erfunden, um einen Schulfall zur Verdeutlichung einer politischen und sozialen Theorie zu schaffen.
Der Abkömmling einer Familie, die wahrscheinlich aus dem provenzalischen Städtchen Thiers stammt und jedenfalls von ihr den Namen angenommen hat, studierte er die Rechte und ging 1821 nach Paris, um in der überlieferten Weise der Südfranzosen – vielleicht war er einer der Urheber dieser Überlieferung – die große Stadt und den trägern, mattern Norden zu erobern, wie Alphonse Daudet es später in seinem als Beitrag zur Volkskunde wertvollen Roman »Numa Roumestan« ohne Wohlwollen schildern sollte. Er begann, wie in Frankreich selbstverständlich, als Tagesschriftsteller. Villemain hat französische Verhältnisse richtig gekennzeichnet, als er den Ausspruch tat: »Der Journalismus führt zu allem, unter der Bedingung, daß man aus ihm heraustritt.« Man kann sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn man zu verzeichnen hat, daß der junge Ringer aus dem Süden sich zunächst, wie alle Welt, auf die Kunstkritik warf und über den Salon von 1822 und 1824 schrieb. Er war nämlich der Philister ohne eigenes Kunstempfinden, doch von ehrerbietigem Konventionalismus, wie er im Buche steht, bildete sich jedoch ein, über Schönheitswerte und Schöpfergabe ein Urteil zu besitzen, und wandte sein Leben lang der Kunst ein rührendes Interesse zu. Wie jeder ehrbare und wohlhabende Spießbürger sammelte er alles mögliche. Als er jedoch letztwillig seine Schätze dem Louvremuseum vermachte und sein Trödel von bedauerlichen Bildern und Plastiken bis zu banalem Porzellangeschirr an dieser erlauchten Stätte aufgestellt wurde, stießen die berufenen Hüter des Geschmacks einen Schrei des Entsetzens und der Entrüstung aus und forderten stürmisch die Ausschließung der seltsamen Kostbarkeiten, die ihnen jedoch wegen der dem Andenken Thiers' schuldigen Achtung nicht bewilligt werden konnte.
Er erwarb einen kleinen Anteil an der Aktiengesellschaft, die den oppositionellen »Constitutionnel« gründete, und trat, ein merkwürdiger und wenig bekannter kleiner Zug, zum erstenmal in Beziehung zu Deutschland, indem ihn der Stuttgarter Klassiker-Cotta, der gleichfalls an dem Pariser Blatte mit seinem Kapital beteiligt war, zum bevollmächtigten Vertreter seiner Interessen im Aufsichtsrat bestellte. Bald darauf wurde er Mitbegründer des »National«, wo das System eingeführt wurde, daß die Gründer der Reihe nach je ein Jahr lang die oberste Leitung des Blattes ausübten. 1830 war das Jahr der Leitung Thiers' und damals geschah es, daß der Minister Karls X., Fürst von Polignac, die Verordnung erließ, die mit Vergewaltigung der Charte von 1814 der Presse die letzten geringen Freiheiten entriß. Thiers verfaßte die gemeinsame Verwahrung aller Blätter gegen die ministerielle Gewalttat und unterschrieb sie an erster Stelle. Er forderte die Bürger zum Widerstande gegen Polignacs Maßregel auf, dachte aber nur an den gesetzlichen Widerstand durch Wort, Schrift und Stimmzettel. Das Volk ging im ersten Anlauf weit über diese Einschränkung hinaus und vollzog den Juli-Aufstand, der den Bourbonenthron wegfegte. Damals griff Thiers zum erstenmal, und gleich entscheidend, in die Geschicke seines Vaterlandes ein. Die Straßenkämpfer der drei Julitage schlugen sich auf ihren Barrikaden mit Hochrufen auf die Republik. Thiers aber schrieb noch am 30. Juli in seinem Blatte: »Die Republik würde uns entsetzlichen Spaltungen aussetzen.« Einundvierzig Jahre später sollte er genau das Gegenteil sagen. Er forderte 1871 die Republik mit der Begründung: »Sie ist es, die uns am wenigsten spaltet.«
Dieser Widerspruch ist ein besonders schroffer, doch durchaus nicht der einzige in seinen Anschauungen. Seine vielfachen Wandlungen und Schwankungen erklären sich sämtlich aus einem ursprünglichen Gegensatz zwischen seinem Gefühl und seinem Verstand. In seinem Unterbewußtsein war er ein Mann der Ordnung, der Autorität, der guten alten Gewohnheiten, der sich an Symmetrie ergötzte, Regelwidrigkeiten verabscheute, Zucht und Botmäßigkeit forderte. In seinem bewußten Denken erkannte er die große Umwälzung als die Ursache der Weltstellung und Größe Frankreichs, als die Grundlage seiner lebendigen Einrichtungen, als die Bedingung, die allein einem geringen Sohne des dritten Standes, einem kleinen Bürger ohne Geburt und Namen wie ihm jeden Ehrgeiz gestattete und jeden Erfolg versprach. Bald ließ er sich von seinem Gefühl eines starren Konservativen, bald von seiner Einsicht eines vernünftigen Schätzers der Geistesverfassung des französischen Volkes bestimmen. Nur in zwei Punkten herrschte volle Übereinstimmung zwischen seinem Fühlen und Denken: in seiner Unzugänglichkeit für religiöse Vorstellungen und in seiner leidenschaftlichen Vaterlandsliebe. Er war ein Sohn Voltaires, der nie seinen geistigen Vater verleugnete, und er war ein stolzer Franzose, der für sein Land den ersten Platz beanspruchte, von dessen unvergleichlicher Bestimmung durchdrungen war und sich in seinem andächtigen Glauben durch keine Niederlage und Demütigung irremachen ließ.
Kaum 26 Jahre alt, begann er seine »Geschichte der Revolution« zu schreiben. Die Größe dieses Werkes vergegenwärtigt man sich heute schwer. Er hatte keinen Vorgänger. Er brach Urboden auf. Er sammelte die Tatsachen weit mehr aus den mündlichen Erzählungen der überlebenden Zeugen als aus den Urkunden und zeichnete viele Charakterbilder nach seinen persönlichen Eindrücken von den Modellen und nach den Aussagen der Männer, die sie gekannt hatten, nicht nach Büchern und abgezogenen Folgerungen. Nach ihm kam Lamartine mit seiner sentimentalen Teilnahme für eine Partei, die Girondisten, Louis Blanc mit seinem Bemühen um die Aufdeckung tiefliegender und entfernter Ursachen, Michelet, ein begeisterter Skalde, der Balladen singt, kein nüchterner Geschichtschreiber, Taine, der gallsüchtige Absprecher und Hasser des profanum vulgus, Aulard, der gewissenhafte Erforscher alles kleinen und kleinsten Tatsächlichen. Diese Nachfolger überflügelten und verdunkelten ihn. Nichts aber kann sein Verdienst schmälern, die Ereignisse von 1789 bis 1799 zuerst als eine zusammenhängende monumentale Freske dargestellt, sie schlicht, klar, fließend in einer Sprache erzählt zu haben, die nicht durch stilistische Künsteleien, sondern durch die Gewalt der vorgetragenen Tatsachen wirken will.
In der ersten Ausgabe seiner »Geschichte der Revolution« stand Thiers auf dem Standpunkt, den 60 Jahre später Clemenceau einnahm, als er in der Kammerdebatte über die Aufführung von Sardous »Thermidor« im staatlich unterstützten Théâtre français die Umwälzung für einen »Block« erklärte, den man im ganzen annehmen müßte, ohne das Recht, gegen einzelne Teile Vorbehalte zu machen oder sie abzulehnen. Thiers hatte auch für die Schreckensherrschaft Erklärungen und Entschuldigungen, merzte jedoch in den späteren Auslagen diese Stellen aus seinem Werke aus. Ein Gegenrevolutionär, G. de Mortillet, machte sich das boshafte Vergnügen, in einer besonderen Schrift, »Monsieur Thiers altéré par lui-même«, »Herr Thiers, von ihm selbst geändert«, Paris, 1846, die Stellen zusammenzutragen, in denen er sich selbst verleugnete. Auf Widersprüche dieser Art stoßen wir bei Thiers fortwährend. Man hätte indes unrecht, ihm aus ihnen einen Vorwurf zu machen. Er war kein...