1 Medizinische Aspekte
Lebenshilfe. Sterbehilfe. Tötungshilfe.
Palliative Versorgung statt Beihilfe zum Suizid oder Tötung auf Verlangen
Von Thomas Sitte
Ärzte, Patienten, Angehörige wollen völlige Sicherheit? Diese werden wir nie bekommen können.
Wir werden es auch nicht verhindern können, dass sich Menschen aus Gründen ihrer eigenen subjektiven Bilanzierung ihres von ihnen als nicht mehr lebenswert empfundenen Zustandes das Leben nehmen werden.
Was wir als sehr wohlhabende Gesellschaft sehr wohl und zu weit über 99 Prozent verhindern können, ist der Wunsch nach Lebensverkürzung aus Angst vor Schmerzen, Atemnot oder gar aus Verlassenheit heraus oder insbesondere auch wegen einer sehr konkreten Situation körperlichen Leidens.
Im August 2015 habe ich als Beitrag zur aktuellen Diskussion eine wissenschaftliche Arbeit zu lebensverkürzenden Maßnahmen fertiggestellt.1 Ende 2014 und im Frühjahr 2015 hatte ich dazu zwei umfangreiche Umfragen bei Palliativmedizinern durchgeführt, deren beruflicher Alltag in großem Maße davon bestimmt wird, Menschen bis zum Tod beizustehen. Insgesamt versorgten diese Ärzte im Jahr 2014 weit über 19.000 Palliativpatienten bis zu deren Tod. Übereinstimmend gaben die Ärzte an, dass bei keinem dieser Patienten eine Beihilfe zur Selbsttötung notwendig war, weil Leiden des Patienten ansonsten nicht hätte gelindert werden können. Auch wenn die Linderung nicht »perfekt« gewesen wäre, so wäre immer noch eine palliative Sedierung möglich gewesen.
Diesen Befund kann ich aus meiner eigenen gut 20-jährigen palliativen Arbeit heraus bestätigen.
Wenn ein solches Ergebnis im Rahmen der aktuellen, politischen Diskussion bewertet werden soll, müssen die Fakten sachlich abgewogen werden. Gleichzeitig sollten auftretende Fragen aus einer ethischen, juristischen, religiösen und medizinischen Sicht heraus beleuchtet werden. Zudem sollte ein Verfasser dabei seine eigene Position transparent machen.
So möchte ich meine eigene Position zu Beginn darstellen.
»Es gibt eine Passivität, ohne die der Mensch nicht menschlich wäre. Dazu gehört, dass man geboren wird. Dazu gehört, dass man geliebt wird. Dazu gehört, dass man stirbt.«2
Ich trete dafür ein, dass organisierte, gewerbliche und geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung in Deutschland unterbunden und stattdessen die hospizlich-palliative Versorgung ausgebaut wird.
Es darf in Fragen der Beihilfe zur Selbsttötung keine Sonderregelung für Ärzte geben: weder um ihnen eine Beihilfe zum Suizid zu erleichtern, noch um sie in besonderer Weise strafrechtlich zu belangen. Es gehört nie zu den ärztlichen Aufgaben, Beihilfe zum Suizid zu leisten. Es kann dennoch in seltenen Einzelfällen geboten sein, dass hier ein Arzt unabhängig von seiner Profession nach seinem Gewissen entscheidet. Wer seine persönliche Position zum Leben, Sterben, Töten darlegen will oder wenn über verschiedene Positionen diskutiert wird, bedarf dies zwingend vorab der eindeutigen Klärung der Begrifflichkeiten, um nicht unbewusst oder auch gezielt aneinander vorbeizureden. Hier wird das von der PalliativStiftung und dem Fachverband SAPV mit vielen zahlreichen anderen fachlichen Beteiligten abgestimmte und veröffentlichte »Glossar zur Diskussion über die Beihilfe zur Selbsttötung« zugrunde gelegt, das auch am Ende des Buches zu finden ist.
Zuallererst: Wenn ich dem Patientenwillen folge,
- •ihn leidenslindernd behandle oder auch
- •seiner Nichteinwilligung folgend z. B. nicht beatme,
- •nach Rückzug der Einwilligung seine Beatmung beende und der Patient unmittelbar danach unter Sedierung stirbt,
- •nicht Antibiotika gegen eine Entzündung gebe oder
- •beim Patienten, der nicht mehr ausreichend schlucken kann, nicht ernähre und keine Flüssigkeit gebe,
so stellt dies ethisch, juristisch, medizinisch, christlich korrektes Handeln und Behandeln dar.
Diskussionen werden zumeist aus der eigenen moralischen Position heraus geführt und sollten den eigenen ethischen Prinzipien treu bleiben und die eigenen wie die Erfahrungen anderer berücksichtigen.
Aus meiner Erfahrung in der Sterbebegleitung glaube ich, dass ein barrierefreier Zugang zu Tötungserleichterungen nicht suizidpräventiv wirkt. Dies zu beweisen ist ebenso schwierig, wie die Nicht-Schädlichkeit von Tötungshilfe zu beweisen. Patientenschutz als Schutz der schwächsten Patienten bestimmt meine Einstellung zur Tötungshilfe: Jegliche Form aktiver Lebensverkürzung ist strikt abzulehnen. Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung sind dabei eine sehr gute Leitlinie.
Graduell sind im Rahmen der Beihilfe durch Ärzte zu lebensverkürzenden Maßnahmen drei Bereiche zu unterscheiden:
- 1.Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit.
- 2.Die Selbsttötung.
- 3.Die Tötung.
Aus meiner persönlichen Sicht wie aus meinem Verständnis als Arzt heraus ist die Unterschiedlichkeit dieser Trias nicht ohne Weiteres als quantitativ oder qualitativ einzuordnen.
Dem Arzt ist es verboten, Patienten auch auf deren Verlangen hin zu töten. Der Arzt soll eine Handlung der Lebensverkürzung nicht unterstützen. Ärzte haben die Aufgabe, Leben zu schützen und zu erhalten.
Diskutiert wird teilweise auch über den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Am Lebensende, beim kranken, schwachen, hochbetagten, lebenssatten Menschen ist dies völlig normal, dass im Sterbeprozess ohne Hunger und Durst nicht mehr gegessen und getrunken wird. Dies ist der Situation angemessen und führt beim Patienten zu einem besseren (!) Befinden, was auch viele Ärzte sich nicht recht vor Augen führen. Anders ist es beim willentlichen, freiwilligen Verzicht. Dann will ein Mensch ohne Todesnähe bewusst den Tod durch Nahrungs- und Flüssigkeitsentzug herbeiführen. Bei so einem Verzicht kann man eher von einer Selbsttötung sprechen. Eine ärztliche Begleitung wäre dann eher als Beihilfe zur Selbsttötung zu sehen.
Insbesondere wenn Patientenverfügungen vorliegen, darf schon heute niemand gegen seinen Wunsch behandelt oder am Leben erhalten werden. Dieser Patientenwille hat höchste Priorität. Umso mehr haben die Gesellschaft und vor allem die fachlichen Stellen die Pflicht, über die Möglichkeiten von Hospizarbeit und Palliativversorgung als lebensbejahende Alternativen bestmöglich zu informieren und zudem dafür zu sorgen, dass diese auch für jeden verfügbar sind.
Es ist unstrittig, dass in Ausnahmefällen menschliches Leid trotz aller hospizlichen, palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Anstrengungen sehr groß werden kann und der Wunsch nach einer wirksamen Therapie erfüllt werden muss. Besonders in diesen Einzelfällen bedarf es höchstmöglicher Professionalität bei der so wichtigen lindernden Hilfe, die das Leid der Patienten begrenzt, erträglich macht oder zumindest die Wahrnehmung des Leids reduzieren kann.
In derartigen Ausnahmefällen stellt eine konsequente palliative Sedierung – auch unter gleichzeitiger Nichtfortführung nicht mehr gewollter, sterbensverlängernder Therapien – eine allgemein zulässige, sogar zwingend erforderliche Handlungsform dar. Diese sehr wenigen Ausnahmesituationen allerdings rechtfertigen keine gewerbsmäßige, geschäftsmäßige und organisierte Beihilfe zur Selbsttötung oder gar Tötung auf Verlangen.
Es wird auch unter den bestmöglichen Rahmenbedingungen immer wieder Menschen geben, die – entschlossen zum Suizid – jede andere Form der medizinischen Unterstützung ablehnen. Es ist allerdings nicht zielführend, hier sämtliche Wege durch alle möglichen Vorkehrungen verbauen zu wollen. Nach meiner eigenen ärztlichen Erfahrung ist es zielführender, in einem offenen, intensiven und verlässlichen Austausch mit dem Suizidenten Wege offenzulassen und seinen eigenen Willen (zum Leben) auch dadurch zu stärken, dass über Optionen zum Suizid tatsächlich gesprochen wird. Dies ist immer eine Gratwanderung, in einer Extremsituation muss sie es bleiben.
Straffreiheit gilt für alle Berufsgruppen, für alle Menschen gleichermaßen, die in besonderen, nicht vorhersehbaren, seltenen Fällen ihrem Gewissen folgen. Derartige Fälle entziehen sich allein aufgrund der immer sehr individuellen Ausgestaltung einer gesetzlichen und standesrechtlichen Regelung und müssen jeweils als Einzelfall bewertet werden.
Für diese höchst seltenen Ausnahmefälle gilt dabei, dass eine Verantwortungsübernahme auch eine Bereitschaft zur Schuldübernahme durch den Helfenden bedeutet.
Schon in den 1960er-Jahren prägte Cicely Saunders den Gedanken des Palliative Care. Doch auch gut 50 Jahre nach dem Beginn dieser Hospizarbeit und Palliativversorgung sind deren Anforderungen und Möglichkeiten vielfach unbekannt. Dabei kann das englische Wort »care« zwar mit dem Deutschen »Versorgung« wiedergegeben werden, umfasst aber deutlich mehr: »Sorgen für« und »Pflegen«, »medizinische Behandlung« und insbesondere auch die »hospizliche Haltung« und »ehrenamtliche Begleitung« sind hierin eingeschlossen.
Zunehmend wird vor allem von sachunkundiger oder politisch interessierter Seite im Zusammenhang mit Tötung auf Verlangen und Beihilfe zur Selbsttötung über Palliativversorgung und deren...