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E-Book

Im Kino

Texte vom Sehen & Hören

AutorKarsten Witte
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl228 Seiten
ISBN9783105608098
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Die hier versammelten Schriften zum Film zeigen, aus welchen Bruchstücken die Phantasiemaschine Kino besteht. Damit sie läuft, laufen auch Wünsche in die Maschine Kino ein: z. B. Fliegende Elefanten (Marx Brothers), Der springende Narziß (Fred Astaire) und Illusionen aus zweiter Hand (Marlene Dietrich). »Im Kino« stellt Filmtheorie durch Anschauung her. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Karsten Witte (1944-1995), freier Autor und Filmwissenschaftler, lehrte an den Universitäten Frankfurt am Main, Köln und Berlin und der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin Geschichte und Theorie des Films.

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Leseprobe

Vorwort


Eine Frau, drei Kinder, ein Haus und eine Professur für Medizingeschichte, hat genug von ihrem Beruf. Sie wirft den Bettel hin und steigt aus. Was tun? fragte der Zürcher ›Tagesanzeiger‹. »Ich möchte, neben der Haus- und Gartenarbeit, wieder schreiben. Filmkritiken oder sonst lustige Sachen verfassen.«

Ist Filmkritik lustig? Ein idealer Zeitvertreib für Aussteiger von oben? Diese Einschätzung deckt sich mit der kurrenten Meinung. In der Hierarchie kultureller Werte steht das Medium Film, ein Flegelkind vom Jahrmarkt, ganz unten. Damit lassen Zeitungen gern Anfänger und freie Mitarbeiter sich befassen.

Die Kritik einer Sache wird, so lehrt das Beispiel der fidelen Professorin, nur so ernstgenommen wie die Sache selber. Film ist Unterhaltung. Also muß Filmkritik auch lustig sein.

Ich finde das Verfassen von Filmkritiken immer weniger lustig, immer seltener lustvoll. Im Maße, wie Filme darauf verzichten, ein Teil der Kritik des Alltagslebens zu sein, schwindet der kritische Sinn, der ein scharfes Auge auf diesen Mangel wirft.

Seine Kritik an Steven Spielbergs Mythen-Epos INDIANA JONES überschrieb ein Kritiker mit der Einschätzung: »Einfach geil.« So überschreibt man sich eher einem Film. Was bleibt, danach, zu sagen? Was als Kritik sich formuliert, ist im Konjunktiv geschrieben: Man könnte ja (gegen INDIANA JONES) einwenden, aber. Das wäre ein bierernstes Wort zu einem verrückten Spaß.

Ist INDIANA JONES kein Film mehr im Verhältnis zur Kritik, die keine sein will? Kalkuliert Spielbergs Firma das Millionenprodukt im Konjunktiv? Wie immer, die Wirkung des Films scheint magisch zu sein. Sie, behauptet jene Kritik, entwaffne die Kritik. Wie stumpf, so darf man fragen, waren denn die Waffen der Kritik? Wie vordringlich wäre da eine Kritik jener Waffen.

Wenn das Schreiben von Filmkritik so lustig ist und die Filme einfach geil sind, dann wäre es ja eine Lust zu leben. Dann allerdings sind dem herkömmlichen Kritiker die Hände gebunden durch den Pakt, den er einverständig mit der Industrie schloß. Sind die Interessen, die die Filmbank hat, die Interessen, die der Zuschauer zu haben hat?

»Allzulange waren Kritiker, Liebhaber und Filmindustrie damit befaßt«, schrieb Miriam Hansen, »eine GmbH auf gegenseitige Bewunderung zu gründen« (in ›Raritan‹, Sommer 1984).

Dieser Vertrag wird besiegelt in dem Augenblick, wo der Zuschauer sich, überwältigt, enteignen läßt. Nicht er konsumiert den Film, sondern der Film konsumiert ihn. INDIANA JONES vollzieht diese Verzehrung in seiner Dramaturgie des Trommelfeuerschocks auf Augen und Ohren. Das Hören & Sehen soll einem vergehen. Wer als Schaulustiger das Kino zu diesem Film betrat, verläßt es als Benommener.

Der Philosoph Cioran bedachte das Dilemma vom Schwinden der kritischen Sinne im Essay ›Denken wider sich selbst‹ folgendermaßen: »Überflutet von Sinnesreizen und ihrer logischen Folge, dem Werden, sind wir Unerlöste aus Neigung und Prinzip, Wahlverdammte, dem Fieber des Sichtbaren unterworfen, Schnüffler in den Rätseln der Oberfläche, nach dem Maß unserer Bedrückung und unserer Erregtheit« (E.M. Cioran: ›Dasein als Versuchung‹, Stuttgart 1983).

Was wurde dem Zuschauer von INDIANA JONES oder dem »Schnüffler in den Rätseln der Oberfläche« genommen? In dieser gewalttätigen Revue aus Kitsch und Tod kämpft, mit allen Mitteln märchenhafter Erlösung, ein weißer Amerikaner gegen Chinesen im Bürgerkrieg, gegen Inder in ihrem Befreiungskampf von den Engländern. Dieser Kampf findet nicht statt im Namen politischer Moral oder Kunst. Er findet statt im Namen des Geldes.

So hat es seine erzählerische Logik, wenn der Film hauptsächlich von der Verfilmung seiner Produktionskosten erzählt. Er zeigt an allen Orten, welches schöne Stück Geld sich in INDIANA JONES und seinen rasenden Schnittfolgen verflüssigt. Geld macht sinnlich, wie bekannt. Manchmal auch: geil. Das einzige Mal, wo der Archäologe Dr. Jones wissenschaftlich wird, meint ein anderes Interesse. Seine Rede von der »Feldarbeit«, mit der er eine begehrte, aber dumme Sängerin umgarnt, wird zur Sexualmetapher. Die Frau fängt der Wissenschaftler, nicht wie ein Cowboy seine Kuh mit dem Lasso, sondern mit der Peitsche ein. Diese Western-Geste gilt als komische Entlastung vom fernöstlichen Alptraum.

Der Held Indiana Jones trägt den Namen eines nordamerikanischen Bundesstaates. Er ist ein Stück amerikanischer Naturgewalt. Die ihn national belehnende Kraft schafft Ordnung auf dem Kriegsschauplatz im fernen Asien. Die Schieber von Shanghai und die Ölgötzen Indiens haben das Nachsehen. Der verrückte Spaß an diesem Film ist die willige Unterwerfung eines schon kolonisierten Zuschauerblicks. Eine neue Provinz hat sich dem Imperium der Phantasie-Statthalter aufgetan.

INDIANA JONES ist ein Film ganz ohne Konjunktiv. Dafür verfügt er über Genretraditionen, Attitüdenprägung und ästhetisch eingänglichen Schliff. Ihn nicht zu kritisieren, gleicht einer Kapitulation und einem Einverständnis mit dem Titelsong des Films. Die Revuesängerin Willie singt ihn im Nachtclub des 1935 von den Japanern bombardierten Shanghai. Er lautet: »Anything Goes.« Das ist etwas anderes als das Programm des libertären Philosophen Paul Feyerabend, der »Anything Goes« an kalifornischen Universitäten lehrt.

Anything Goes ist die Tendenz des Tages: das Schwinden der kritischen Sinne.

Es mangelt der Filmkritik an Selbstverständnis über ihre Geschichte. Denn die Geschichte der Filmkritik ist nicht die Geschichte des Films, die intervallisch in der Filmgeschichtsschreibung aufgehoben ist. Die Geschichte der Filmkritik ist noch gar nicht sichtbar. Wo sie auftaucht, wird sie von gierigen Seiten der Industrie, des Publikums und der Medien verschüttet. Sich nur an Filme zu erinnern, ist nicht genug. Die Filmkritik braucht ein eigenes Gedächtnis, das ein anderes Haus sucht als eine Cinémathèque Imaginaire.

Sie könnte sich, am Beispiel INDIANA JONES, an die Theorie der Sinne erinnern, um sich inne zu werden, daß die Geschichte der Wahrnehmungsinstrumente des Menschen eine andere ist als die Geschichte seiner Kunstprodukte. Das ist von André Bazin über Pierre Bourdieu zu Alexander Kluge ein alter Hut der Theorie, der nicht deshalb démodé sein kann, weil ihn zur Zeit keiner trägt.

Der Kritiker sieht. Aber wie? Diesen Grundbestand von Weltaneignung hat der New Yorker Künstler Jasper Johns in einem Halbrelief modelliert: »The Critic Sees« (abgebildet in der Zeitschrift ›Traverses‹, Nr. 14/15, 1979).

Im Zentrum von Johns’ Plastik steht eine Brille. Die Sehkraft des Kritikers ist keine natürliche mehr. Sie ist korrekturbedürftig. Der Kritiker braucht Verstärkung. Zwischen seine Augen und den Gegenstand, in den jene sich versenken, tritt eine instrumentelle Vermittlung, die Brille. Sie rückt den Gegenstand näher und verrückt zugleich die Blickdistanz.

Hinter den Brillengläsern des Kritikers, wie Jasper Johns ihn sieht, liegen nun zwei Münder, nicht zwei Augen. Ein Mund setzt zum Sprechen an. Der andere zeigt seine Zähne. Der Kritiker, von der Kunst angeblickt, spricht mit den Augen, und er sieht, um zu sprechen. Und zwar in zwei Zungen, denn einen Sinn zu artikulieren, reicht nicht hin, um die Zweideutigkeit eines Werks zu erfassen. Es scheint, als glichen die Sinne ihre Defekte und Depravationen untereinander aus.

Bezeichnend ist nur die Reduktion, die Johns vornimmt. Die Ohren kommen beim Kritiker, der sieht, nicht in sein Bild. So widersprechen sich die dargestellten Sinne. Aus zwei Mündern sind auch zwei verschiedene Meinungen zu hören: der greifbare Widerspruch.

Das Selbstverständnis der Filmkritik ist, wie jetzt sichtbarer wird, da geschwächt, wo sie den Anspruch auf den Zusammenhang der Sinne mit dem Wahrgenommenen aufgab. Es wird zuviel geteilt und spezialisiert, so auch in der Ästhetik des Films, die immer noch aus dem organisierten Zusammenhang der Erzeugung von Licht und Dunkel, von Ton und Verstummen besteht.

Zur Verdeutlichung: den Straub/Huillet-Film KLASSENVERHÄLTNISSE, der von einem Kafka-Roman ausging, um sich ein neues Ziel zu suchen, besprechen Literaturkritiker. In der Pressevorführung des Milos-Forman-Films AMADEUS sitzen überwiegend Musikkritiker, als ob es reichte, sich bei Mozart auszukennen, um Musik im Film zu beurteilen.

Schaden kann die Spezialisierung nicht, aber sie läuft zu schnell darauf hinaus, einen Film und das Medium über Stoff und Thema zu bestimmen. Wäre das so richtig, dann sollte man doch arbeitslose Gangster in Sergio Leones Film ES WAR EINMAL IN AMERIKA zum Rezensieren schicken. Auch das wäre ein Weg, die Stoff-Liebhaber der Filmkritik zu entkleiden.

Ich nenne diese Sammlung von Kritiken aus den letzten zehn Jahren »Texte vom Sehen & Hören«, um an eine Theorie der Sinne anzuknüpfen, die noch nicht selbst zur Theorie verfestigt ist, noch sich zum Fürsprecher unkomplizierter Geilheit macht. Dagegen dem Film mit Eisensteins Worten »höchste Intellektualität und äußerste Sinnlichkeit« abzuverlangen, klingt nach einer unbilligen Forderung. Es stimmt, sie ist unbillig. Eine Anstrengung gehört schon dazu. Bloßes Entgegenkommen findet überall statt.

»Es giebt vielleicht keine Arbeit«, sagte der Aufklärer Georg Forster in seinen ›Ansichten vom Niederrhein‹, »welche so die Kräfte erschöpft, als dieses unaufhörliche, mit aufmerksamer Spannung verbundene Sehen und Hören.«

Wem diese Texte eine Vorliebe zum Abseitigen...

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