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Offene-Tür-Menschen und Geschlossene-Tür-Menschen
In meiner Universität gab es Pflichtgottesdienste. Eigens dazu abgestellte Studenten – die wir liebevoll als „Kirchenspitzel“ bezeichneten – saßen auf besonderen Plätzen und führten Anwesenheitslisten, also musste die Uni jedes Semester eine systematische Sitzordnung für die Gottesdienste entwerfen. Meist wurden wir alphabetisch platziert oder nach Hauptfach oder nach dem Bundesstaat, aus dem wir kamen. In einem Semester platzierten uns die Kirchenspitzel nach Durchschnittsnoten. Etwa in der dritten Woche des Semesters kam uns etwas von diesem System zu Ohren. Uns wurde bewusst, dass man anhand unseres Sitzplatzes schnell herausfinden konnte, wie klug wir waren – die Studenten mit einem besseren Schnitt saßen vorn, die mit einem schlechteren Schnitt weiter hinten. Als dies bekannt wurde, gab es einen kleinen Aufstand. Die Organisatoren mussten die gesamte Studentenschaft umsetzen und die Anwesenheitslisten des ersten Monats vernichten. Wen interessiert es schon, ob andere Leute wissen, wie klug wir sind?
Laut der Forscherin Carol Dweck gibt es zwei Arten von Menschen: Die einen interessiert es sehr und die anderen kaum. Und das wiederum hängt damit zusammen, ob diese Menschen durch offene Türen hindurchgehen oder eher nicht.
Carol Dweck erforscht die Denkweise von Menschen und ihre Fähigkeit, Widrigkeiten zu bewältigen. Sie interessiert sich besonders dafür, wie Menschen mit Begrenzungen, Hindernissen, Versagen und Veränderungen umgehen. In einer Studie gab sie einer Gruppe von Zehnjährigen Mathematikaufgaben mit steigendem Schwierigkeitsgrad zu lösen, um zu sehen, wie sie mit Versagen zurechtkommen. Die meisten Schüler waren nach einer Weile entmutigt und niedergeschlagen, doch einige wenige reagierten ganz anders. Ein Kind rieb sich angesichts seines Misserfolgs die Hände, schnalzte mit der Zunge und sagte: „Ich mag Herausforderungen!“ Ein anderes Kind, das bei einer Matheaufgabe nach der anderen aufgeben musste, sagte: „Wissen Sie, ich hatte mir gewünscht, dass das hier eine lehrreiche Sache ist.“
Die Forscherin fragte sich, was an diesen Kindern anders war. „Ich dachte immer, entweder kommt man mit Versagen zurecht oder eben nicht. Ich hätte nie gedacht, dass jemand Misserfolge mögen könnte. Waren das außerirdische Kinder, oder waren sie etwas Wichtigem auf der Spur?“9
Carol Dweck erkannte, dass diese Kinder sich nicht nur nicht von ihrem Versagen entmutigen ließen, sondern dass sie es vielmehr gar nicht als Versagen betrachteten. Sie gingen davon aus, dass sie etwas lernten. Die Forscherin zog daraus die Schlussfolgerung, dass Menschen aus zwei ganz verschiedenen, fast gegensätzlichen Richtungen ans Leben herangehen. Eine dieser grundsätzlichen Einstellungen möchte ich als „geschlossene Denkweise“ bezeichnen. Menschen mit einer geschlossenen Denkweise gehen davon aus, dass das Leben eine festgelegte Menge an Gaben und Talenten enthält und ihr Wert als Mensch davon abhängt, wie talentiert sie sind. Darum halten sie es für ihre Aufgabe, andere davon zu überzeugen, dass sie „es“ haben, was auch immer dieses „es“ ist.
Wenn ich so über mein Leben denke, dann sind offene Türen natürlich etwas, dem ich größtenteils aus dem Weg gehe, denn bei jeder Herausforderung steht mein Wert als Mensch auf dem Spiel: Vielleicht habe ich nicht genug von diesem „es“. Ich versuche, mein Leben so zu gestalten, dass ich immer Erfolg habe und niemals versage. Ich will nie einen Fehler machen, denn wenn ich einen Fehler mache, könnten die anderen ja denken, ich habe „es“ nicht.
Das zeigt sich schon früh im Leben. Wenn Kinder in der Schule eine große Klassenarbeit schreiben, sagen manche zu ihren Mitschülern: „Ich habe nicht mal für die Arbeit gelernt.“ Warum sagen sie so etwas? Nun, wenn sie eine schlechte Note bekommen und andere davon erfahren, werden die anderen sie nicht für dumm halten. Sie sind trotzdem klug; sie haben „es“ trotzdem. Und wenn sie eine gute Note bekommen und die anderen Kinder denken, sie hätten nicht gelernt, haben sie sogar noch mehr von ihrem „es“.
Aus diesem Grund waren alle Studenten an meiner Universität so aufgebracht, dass sie nach ihren Durchschnittsnoten platziert wurden – außer denen, die in der ersten Reihe saßen. (Ich saß übrigens auf der Empore. Aber nur, weil ich vor der letzten Prüfung nachts nicht geschlafen hatte. Und ich hatte mich auch nicht besonders angestrengt. Außerdem bin ich einen anderen Prüfungsstil gewohnt. Nicht, dass es mich interessieren würde, was Sie denken.)
Carol Dweck ist der Überzeugung, dass es auch noch einen anderen Weg gibt, durchs Leben zu gehen, und zwar mit einer „offenen Denkweise“. Menschen mit einer offenen Denkweise gehen davon aus, dass die reine Fähigkeit nicht so wichtig ist wie Weiterentwicklung. Wachstum ist immer möglich. Wer sich um Weiterentwicklung bemüht, lässt sich auf Herausforderungen ein. Das Ziel ist also nicht, klüger oder kompetenter zu scheinen als andere Menschen, sondern über das hinauszuwachsen, wo man heute steht. Daher sind Misserfolge unverzichtbar, weil man aus ihnen lernen kann.
Letzten Endes bildet der Glaube das beste Fundament für eine offene Denkweise. Ich muss meinen Wert als Mensch nicht unter Beweis stellen, weil ich von Gott bedingungslos geliebt bin. Ich kann offen für das Morgen sein, weil Gott bereits dort ist.
Wenn wir durch die offene Tür gehen wollen, müssen wir aufhören, Gott, unser Leben und uns selbst mit einer „geschlossenen Denkweise“ zu betrachten. Diese tarnt sich womöglich als Besonnenheit oder gesunder Menschenverstand, doch im Grunde steckt hinter ihr die ängstliche Weigerung, Gott zu vertrauen. Davids Brüder sahen nur die verschlossene Tür, als sie ihm sagten, Goliat sei unbesiegbar. Die Israeliten sahen nur die verschlossene Tür, als sie Josua und Kaleb erklärten, ihre Feinde seien wie Riesen und sie selbst im Gegensatz dazu nur Grashüpfer und deshalb sollten sie nach Ägypten und in die Sklaverei zurückkehren. Auch der junge reiche Mann sah nur die verschlossene Tür, als er beschloss, Jesus nachzufolgen sei ganz nett, käme ihm aber zu teuer zu stehen. Und ich sehe nur die verschlossene Tür immer dann, wenn ich horte, statt großzügig zu sein, wenn ich schweige, statt in Liebe die harte Wahrheit zu sagen. Ich sehe nur die verschlossene Tür, wenn ich behaupte, an Gott zu glauben, aber mich nicht vom Fleck bewege, wenn er sagt: „Geh!“ Eine geschlossene Denkweise mag sicher aussehen, doch in Wirklichkeit ist sie unglaublich gefährlich, weil sie Gott auf der anderen Seite der Tür stehen lässt.
Ein „Offene-Tür-Mensch“ zu sein heißt, im Denken offen zu sein. Natürlich gibt es auch einige Dinge, die wir tun und die uns helfen können, uns regelmäßig auf offene Türen einzulassen und hindurchzugehen. Schauen wir uns einmal einige Eigenschaften von „Offene-Tür-Menschen“ an, die sie dazu befähigen, durch Gottes offene Türen zu gehen.
Offene-Tür-Menschen sind bereit – auch wenn sie nicht bereit sind
Offene Türen wirken immer beängstigender als geschlossene. Wir wissen nie genau, was passiert, wenn wir hindurchgehen.
Wenn wir große Entscheidungen zu treffen haben – eine Arbeitsstelle annehmen, umziehen, eine Beziehung eingehen, ein Kind bekommen –, wollen wir alle schon vorher genau wissen, worauf wir uns da einlassen.
Aber wir wissen es nie.
Das ist sehr gut so, denn oft würden wir uns gar nicht darauf einlassen, wenn wir wüssten, was uns erwartet. Frederick Buechner schreibt: „Gott kommt immer unvorhergesehen, und der Grund dafür ist, vermute ich, dass wir uns in den meisten Fällen schon längst rargemacht hätten, bevor er eintrifft, wenn er uns vorwarnen würde.“10
Die Wahrheit übers Bereitsein ist, dass wir nie bereit sind. Als unser erstes Kind geboren wurde, bekam Nancy eine Nierenentzündung. Sie hatte also nicht nur gerade ein Kind zur Welt gebracht, sondern war auch noch krank. Irgendwann bekam sie Panik: „Was, wenn das Baby krank wird? Was, wenn einer von uns es aus Versehen fallen lässt? Was, wenn wir unsere Tochter zu oft bestrafen? Oder zu selten? Was, wenn wir einen zu ungesunden Lebensstil haben? Was, wenn wir ihr einen Schaden fürs Leben zufügen?“
Ich erklärte ihr geduldig: „Nancy, wir können jederzeit andere Kinder bekommen.“
Fast alle Eltern, die ich kenne, denken: Ich bin noch nicht so weit!, wenn sie mit ihrem ersten Kind nach Hause kommen. Dann wächst dieses Kind heran, und es wird Zeit, dass es von daheim auszieht und sich der Welt stellt, aber die Welt ist furchterregend und teuer, und das Kind sagt: „Ich bin noch nicht so weit!“ Und seine Eltern sagen: „Augen zu und durch!“
Diese Angst hat sogar einem ganzen Krankheitsbild einen Namen gegeben: „Nesthockersyndrom“. Menschen haben oft Angst, durch offene Türen der wirtschaftlichen Unabhängigkeit, beruflichen Zielstrebigkeit und Beziehungsfähigkeit zu gehen, weil sie sich nicht bereit fühlen. Doch die Welt sagt: „Bereit oder nicht – ich komme!“
Das Leben, Chancen, Herausforderungen, Beziehungen, irgendwann das Altern und am Ende das Sterben – all diese Dinge sagen irgendwie zu uns: „Bereit oder nicht – ich komme!“
Die Unumgänglichkeiten des Lebens bedeuten nicht, dass Vorbereitung unwichtig ist. Mir ist ein Gehirnchirurg, der vor der Operation ein paar Kurse belegt hat, lieber als ein blutiger Anfänger. Aber „sich bereit fühlen“ ist nicht...