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E-Book

Außenseiter in München

Vom Umgang der Stadtgesellschaft mit ihren Randgruppen

AutorKarl Stankiewitz
VerlagVerlag Friedrich Pustet
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl136 Seiten
ISBN9783791760780
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Nach seinem jüngsten Buch 'Minderheiten in München', das Zuwanderungen und Integration vom Mittelalter bis zur jüngsten Flüchtlingswelle beschreibt, dokumentiert der Münchner Autor und Journalist Karl Stankiewitz nun die vielfältigen 'Randgruppen' seiner Heimatstadt. Der Band berichtet von der Geschichte der Armen, Obdachlosen, Homosexuellen, Kinderarbeiter, Gefangenen, Kommunisten, Separatisten, Prostituierten, geistig Behinderten und der sogenannten 'Nestbeschmutzer'. Ganz unterschiedliche Personengruppen also, die eines gemeinsam haben: Sie entstammen der Mitte des städtischen Milieus, das sie aber oftmals an den Rand verbannte. Durch den ihm eigenen eher journalistischen denn historisierenden Zugriff stellt der Autor auch dieses Thema zur aktuellen Diskussion.

Karl Stankiewitz, geb. 1928, ist Journalist und Buchautor; zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema München, Bayern und Zeitgeschichte.

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Leseprobe

Die Armen


Zwei Brezen pro Jahr


Den Armen beizustehen war und ist von jeher Christenpflicht. Schon Jesus hat das gepredigt, und Kirchenvater Augustinus hat die biblische Botschaft als Auftrag an die „Reichen“ postuliert. Mit Almosen und Spenden konnten sich Nicht-Arme einen guten Platz im Himmelreich oder zumindest eine kürzere Wartezeit im Fegefeuer sichern, was den „Wohltätern“ – bis zu Luthers Gegenkampagne – sogar in Form von Ablass garantiert war. Noch in der stadtbürgerlichen Gesellschaft vor dem Siegeszug des Kapitalismus galt der Grundsatz „Armut schändet nicht“. In der christlichen Welt ist die Nächstenliebe, die Caritas, bis heute das probate Mittel zur Linderung der Armut.

So hat denn auch das ebenso fromme wie wohlhabende und einflussreiche Münchner Ehepaar Burkhard und Heilwig Wadler jede Woche eine Speisung für die (kranken oder gebrechlichen) Insassen des Heiliggeistspitals bezahlt – und jedes Jahr zwei Brezen für die ambulanten Armen in der noch jungen Stadt. Das geht aus der Stadtchronik vom 12. Juli 1318 hervor. In jenem Jahr hatte die Stadtkammer begonnen, alle Einnahmen und Ausgaben zu erfassen und jährlich abzurechnen. Davor hatten vermutlich auch schon Arme in München gelebt und private oder wahrscheinlich städtische Almosen empfangen. Danach aber war in den amtlichen Annalen lange nichts mehr über diese wohl nicht ganz kleine Minderheit zu berichten.

Arme waren im Mittelalter offenbar kein städtischer Rechnungsposten. Sie gehörten einfach ins Stadtbild. Sie fielen nicht auf, selbst wenn sie noch so zerlumpt und ausgehungert daherkamen. Nur als Bettler, als die Ärmsten der Armen, wurden sie auffällig und somit erwähnenswert für die Stadtschreiber. Deshalb versuchten die Ratsherren im Oktober 1562, das Bettelwesen erstmals durch eine Verordnung zu regeln, wonach notleidende Mitbürger aus einem separaten Unterstützungsfonds versorgt werden sollten. Im Zuge von Gegenreformation und intensivierter herzoglicher Macht wurde die Praxis immer rigider: Zehn Jahre später wurde das Betteln nur noch Blinden und „Sondersiechen“ erlaubt; fremde Bettelleute wurden von den mit Spießen bewaffneten Stadttorwachen zurückgestoßen. Auch der Zutritt in Gotteshäuser war den Lumpenbürgern verwehrt, sie harrten draußen vor der Kirchentür. Dafür besoldete die Stadt eigene Bettelrichter.

Nachdem das Heer der Besitzlosen und unfreiwilligen Müßiggänger immer größer wurde, beschloss der Stadtrat im Februar 1601, den für die öffentliche Ordnung verantwortlichen Handwerksmeistern einzuschärfen, dass kein Bürger mehr an Werktagen in den Bräu-, Met-, Branntwein- und Kochhäusern „liegen und zehren und zechen“ solle, außer wenn ihn ein Fremder dazu einlade. Zwei Jahre später gründete sich die St.-Benno-Bruderschaft, die verarmte Bürger und Handwerker, bedürftige Lehrlinge und Schüler unterstützen sollte. Der Bruderschaft, die sogar vom Papst bestätigt wurde, mussten auch Angehörige des Rats angehören.

„Eine Wende in der landesherrlichen Armenpolitik“ verzeichnete der Chronist am 6. Februar 1630. Mitten im Dreißigjährigen Krieg erließ Kurfürst Maximilian eine Bettelordnung, die das Betteln generell untersagte. Bedürftige wurden in Register erfasst. Sie durften nur noch „aus obrigkeitlich durchgeführten Almosensammlungen“ unterstützt werden. Die Verteilung übernahm ein Armenvogt. Bald wurden eigene Armenhäuser gebaut und von der Stadt gefördert, das erste beim Leprosenhaus am Gasteig, während Tagwerker im Spitalhof des Vorortes Sendling verköstigt wurden. Auch einige Klöster sowie Privatleute mit sozialem Gewissen halfen den Armen. So gründete der Lehrer Johann Michael Pöppel 1751 in der Au ein „Gemein waysen Stuben“ für 30 elternlose Kinder, die singend und sammelnd von Haus zu Haus zogen; er gewann 72 „Sponsoren“ für sein Waisenhaus.

Rumfords Reformen


Eine weitere Wende wagte der aus Amerika zugewanderte Benjamin Thompson alias Graf Rumford, der als Superminister dem aufklärerischen Kurfürsten Karl Theodor diente. Am Neujahrstag 1790 ließ der frühere Bürgerkriegsgeneral drei Münchner Infanterie-Regimenter aufmarschieren und in Gegenwart städtischer Beamter über 2000 verwahrloste Menschen aufgreifen. Die Aktion diente der Beseitigung des Bettlerunwesen, das längst katastrophale Züge angenommen hatte; damit sollte die bisher gängige Praxis des Almosengebens zurückgedrängt werden. Zu jener Zeit tummelten sich in der Residenzstadt, die etwa 36 000 Einwohner zählte, mindestens 2600 Bettler beiderlei Geschlechts und jeglichen Alters.

Diejenigen, die dem großen „Petlerfang“ anheimfielen, sowie Behinderte und Waisen kamen in eine Tuchfabrik in der Au, die der mit vielen Reformen beschäftigte Rumford als Arbeitshaus herrichten ließ – ein Meilenstein der Sozialfürsorge in München. Rumford schuf Werkstätten mit Webstühlen, wo 600 bis 800 arme Männer und Frauen unter Anleitung von Fachleuten allerlei Produkte herstellten, von der (ebenfalls reformierten) Soldatenuniform bis zum Damenschal. Er beschäftigte dort einen Arzt und einen „Chirurg“. Für Kinder schuf er eine Schule. Nebenbei konstruierte der General einen neuartigen Herd, auf dem er eine Suppe aus Kartoffeln, Brot und Erbsen nach eigenem Rezept kochen und täglich an 2000 Bedürftige ausgeben ließ.

Doch in der 1808 zur Stadt erklärten Au sowie in den Nachbardörfern Giesing und Haidhausen brodelte die Armut weiter. Wohin sie führte, sah bald ein Mann voraus, der als Wegbereiter der romantischen Naturphilosophie gilt: der 1765 in München geborene Franz von Baader. Er, einer von 13 Söhnen eines herzoglichen Leibarztes, erarbeitete mit seiner Schrift „Über das dermalige Mißverhältnis des Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen“ eine der ersten Analysen des industriellen Frühkapitalismus.

Viele, zu viele Menschen drängten im 19. Jahrhundert vom größer gewordenen Land Bayern in die Hauptstadt, die ja immer mehr Arbeitsplätze zu bieten schien: im Bau, in Mühlen, im Handwerk und schließlich auch in der Industrie. Besoldet wurden die Beschäftigten vom Land – Lumpensammler, Mörtelträger, Loderer, Kistler, Wäscherinnen, Biermädel und so weiter – denkbar schlecht. Im Nu waren die meist kinderreichen Familien total verarmt.

In den östlichen Vororten Münchens blieben die Lebensumstände noch lange besonders prekär. Dort hausten die zugewanderten Menschen in selbstgebauten, oft baufälligen Herbergen aus Holz, die nur im nostalgischen Rückblick als Idylle empfunden werden. Mehrere Familien waren mit den vielen Kindern in winzige Räume gepfercht. Die hygienischen Zustände waren erbärmlich, die zwischenmenschlichen verheerend. Viele Männer verbrachten die arbeitsfreie Zeit im Wirtshaus oder unter den Isarbrücken. Razzien der Polizei und der Seuchenpolizei änderten wenig.

„Von dieser östlichen Anhöhe herab erscheinen die älteren Gebäude und Ansiedeleien der Au wie ein ungestalteter Haufen ärmlicher Hütten, welche der absichtsloseste Zufall, ohne Plan und Zweck, herabgeschüttet und in ihren Stellen und Gestalten gleichwohl dem guten Glück überlassen hat.“

Aus: „Topographie und Statistik des Kgl. Bayer. Landgerichtes Au“

Bis 1835 bereits war die Bevölkerungszahl in der Au auf über 10 000 gewachsen. Davon waren – nach amtlicher Statistik – tausend arbeitslos, 500 erwerbsbeschränkt und knapp 400 erwerbsfähig. Die übrigen Männer verdingten sich als Tagelöhner bei Handwerkern, als Fuhrknechte und zunehmend als Bauhilfsarbeiter. In der Landwirtschaft bekam ein Tagelöhner 94 Pfennige auf die Hand gezählt. Entlassungen – mit schnell drohender Verelendung – waren an der Tagesordnung.

Mädchen und Frauen bemühten sich indes um eine Stellung bei einer „Herrschaft“ in der Stadt. Für Dienstboten galten strenge Vorschriften. Gegenüber dem Dienstherrn mussten sie ehrerbietig und gehorsam sein, mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit mussten sie ihre Aufgaben erfüllen. Verboten war beispielsweise, ohne Zustimmung des Dienstherrn an Sonn- oder Feiertagen auszugehen. Die Bestrafung war Bestandteil im „Arbeitsrecht“ – bei Aufsässigkeit drohte ein Jahr Arbeitshaus. Und niemand durfte sich „erkühnen“, mehr als den „gewöhnlichen billigen Lohn, und etwa wohl herkömmliche Naturalien“ zu fordern.

Die Behörden taten, was sie konnten. Allerdings waren für die Mittellosen im Großraum München grundsätzlich deren Heimatgemeinden zuständig, und die waren damit meist finanziell überfordert. So gab es jahrelang Streit zwischen dem Magistrat und den (erst 1854 nach München eingemeindeten) Gemeinden rechts der Isar – bis der Haidhauser „Armenarzt“ Dr. Winterhalter eine lokale Armen- und Krankenversorgungsanstalt konzipierte. 1834 wurde sie anstelle eines auf „die Gant“ gekommenen (versteigerten) Kaffeehauses eröffnet. 216 „Individuen“ konnten hier versorgt und verarztet werden. Wer verdiente, musste monatlich zehn Kreuzer zahlen. Sonst sprang die Armenpflege ein.

Neue Arbeitsplätze in Manufakturen, in der Gastronomie, im Bauwesen und bei der privaten Eisenbahn, einer technischen Neuheit, machten immer mehr Bürger reich, andere jedoch immer ärmer, weil ihre kargen Einkommen mit den steigenden Preisen und Mieten nicht Schritt hielten. Damit begann ein Prozess, der heute noch oder wieder sichtbar ist: In der Gesellschaft öffnete sich eine Schere. Schon 1847 beklagte der Distriktsvorsteher Traugott Ertel eine „gegenwärtig über Hand nehmende Verarmung“. Zehn Jahre später erkannte auch der weitblickende Bürgermeister Jakob Bauer „eine bei weitem größere Zahl von Minderbemittelten wie dieses immer der Fall ist, wenn Reichtum in einer Stadt ansteigt“. Gleichzeitig...

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