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Mirjams Sohn - Gottes Gesalbter

Mit den vier Evangelisten Jesus entdecken

AutorKlaus Wengst
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl656 Seiten
ISBN9783641196110
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis32,99 EUR
Jesus, wie die Bibel ihn sieht
Das Bemühen, »hinter« den Evangelien zu suchen, wer der »historische Jesus« war, geht an dem für die Evangelisten zentralen Punkt vorbei. Sie wollen zeigen, wer Jesus ist, indem sie seine Geschichte als eine Geschichte von Gottes Mitsein erzählen. Wer wissen will, wer Jesus ist, muss darum die vier kanonischen Evangelien als die einzig relevanten Zeugnisse über ihn lesen und zu verstehen suchen. Deshalb stellt dieses Buch ihre Jesus-Darstellungen je für sich ins Zentrum, fragt nach deren Grundlinien, Inhalten, Hintergründen und nach ihrer Anschlussfähigkeit für heute. Wer den wirklichen Jesus sucht, findet hier Einsichten, die zum eigenen Weiterdenken herausfordern.
  • Jesu Weg und Wirkung - verständlich erklärt
  • Die Jesusbilder der Evangelien: Gundlinien, Inhalte und Hintergründe


Klaus Wengst, geb. 1942 in Remsfeld (Bezirk Kassel); 1961-1967 Studium der evangelischen Theologie in Bethel, Tübingen, Heidelberg und Bonn; 1967 Promotion und 1970 Habilitation in Bonn; 1981 Professor für Neues Testament in Bochum; infolge der Studentenbewegung und daraus resultierender politischer Betätigung sozialgeschichtlich orientierte Exegese; seit Ende der 80er Jahre Begegnung mit dem Judentum, 1991 Studienaufenthalt an der Hebräischen Universität in Jerusalem; seit August 2007 pensioniert; Er war langjähriger Vorsitzender und Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag und des Evangelischen Studienkreises Kirche und Israel in Rheinland und Westfalen.

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Leseprobe

2. Der Ansatz historischer Jesusforschung steht im Gegensatz zum Grundsatz der Evangelien.

Gegenüber den Evangelien als ihren einzig relevanten Quellen hat historische Jesusforschung ein völlig anderes Interesse, nämlich historisch verwertbares Datenmaterial zu gewinnen. Sie muss dieses Datenmaterial Quellen abringen, die zwar die Geschichte eines bestimmten Menschen im Blick haben, aber sie auf einer anderen Ebene als der Ebene bloßer historischer Fakten bieten. Sie stellen die Geschichte Jesu in die Dimension Gottes und erzählen daher legendarisch. Historische Jesusforschung muss den Konstruktionspunkt der Evangelien, das Zeugnis von der Auferweckung Jesu, ausschalten und hinter den vorliegenden Texten nach dem tatsächlichen Geschehen suchen. Vor dieses Grundproblem sieht sie sich seit ihrem Beginn mit Hermann Samuel Reimarus im 18. Jahrhundert gestellt. Dieser sah in großer Klarheit, dass die Darstellung der Evangelien ganz und gar auf der Behauptung der Auferstehung gründet. Diese Behauptung hielt er für einen Betrug – eine Erfindung der Apostel, nachdem sie Jesu Leichnam hätten verschwinden lassen. Was sie von dieser Erfindung her der Darstellung der Geschichte Jesu hinzugefügt hätten, nannte er »die Tünche der Apostel«. Er war so optimistisch, diese »Tünche« wegnehmen zu können und so zu dem vorzudringen, was Jesus tatsächlich gesagt und getan hat.

Das ist in meinen Augen das Elend aller historischen Jesusforschung: Sie muss sich ihre Ausgangsbasis hinter ihren Quellen erst selbst konstruieren. Der Konstruktionspunkt der Evangelien, das Zeugnis von der Auferweckung Jesu, kann für sie nicht akzeptabel sein, da das damit Bezeichnete analogielos und also historisch nicht verifizierbar ist. So muss sie das jeweilige Gesamtbild der Evangelien und dessen Zusammenhang zerschlagen. Dadurch erhält sie kontextlose Trümmerstücke. Mit kontextlosen Trümmerstücken kann man aber historisch nichts anfangen. Also muss man für sie neue Kontexte imaginieren und zu einem selbstgemachten neuen Gesamtbild gestalten. Daran hat aller Wechsel der Methoden nichts geändert und kann er auch nichts ändern. Seit Rudolf Bultmann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dann besonders während der »neuen Frage nach dem historischen Jesus« seit Ernst Käsemann zu Beginn der zweiten Hälfte meinte man, mit dem »doppelten Differenzkriterium« sicheren Boden unter die Füße bekommen zu haben. Danach gilt solche Tradition als »authentisch«, die »weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann« (Käsemann). Aus dem zuerst genannten Kriterium ergibt sich zwangsläufig ein unjüdischer Jesus. Dieses Kriterium hat man inzwischen fallen gelassen. Es wurde im Lehrbuch »Der historische Jesus« von Gerd Theißen und Annette Merz (1. Auflage 1996) durch das doppelte Plausibilitätskriterium ersetzt: »Historisch ist in den Quellen das, was sich als Auswirkung Jesu begreifen läßt und gleichzeitig nur in einem jüdischen Kontext entstanden sein kann.« In den Evangelien ist jedoch alles »als Auswirkung Jesu« dargestellt. Man müsste also schon vorgängig etwas über Jesus wissen, damit dieses Kriterium funktionieren kann. Aber dieses Wissen soll ja allererst mit Hilfe dieses Kriteriums erschlossen werden. Was den anderen Aspekt betrifft, dass historisch sei, was nur im jüdischen Kontext entstanden sein kann, so greift auch das nicht. Denn sowohl die von den Evangelisten aufgenommenen Traditionen als auch die Evangelien im Ganzen sind »in einem jüdischen Kontext entstanden«. Sie sind von Haus aus – das wird die Besprechung ihrer Jesusbilder zeigen – jüdische Schriften. Innerhalb dieses jüdischen Kontextes kann man zwischen der Zeit vor und nach 70 mit dem für das Judentum katastrophalen Ende des Krieges gegen Rom unterscheiden. Doch lässt sich damit nur negativ feststellen, dass in der Zeit nach 70 entstandene Aussagen nicht auf den »historischen« Jesus zurückgeführt werden können. Für Aussagen, die sich als davor entstanden wahrscheinlich machen lassen, ist damit noch nicht der positive Beweis erbracht, dass sie auch vom »historischen« Jesus stammen. Im Übrigen taugt für die Zuschreibung von Aussagen in die Zeit vor 70 das dabei häufig angewandte argumentum e silentio hier so wenig wie sonst, dass sich also über ein historisch fixierbares Geschehen in einem Text kein Wissen fände und daher dieser Text vor diesem Geschehen abgefasst sein müsse.

Man kann es daher verstehen, dass etwa Wolfgang Stegemann in seinem enzyklopädischen Buch über »Jesus und seine Zeit« (2010) auf Authentizitätsnachweise für einzelne Texte verzichtet und sich allgemein auf die Kategorie der Plausibilität verlegt. Er nimmt aus den Texten für den »historischen« Jesus das auf, was ihm unter dem Gesichtspunkt neuzeitlicher Vernunft als plausibel erscheint. Allerdings: Plausibel ist, was dem jeweils Argumentierenden als plausibel erscheint. Anderen erscheint anderes als plausibel, wie die äußerst divergenten Jesusrekonstruktionen zeigen, worauf noch einzugehen ist.

Zusammenfassend: Aufgrund des Gegensatzes zwischen dem eigenen Interesse und dem Interesse der Evangelien als den einzig relevanten Quellen gewinnt historische Jesusforschung aus ihnen nur zusammenhangloses, spärliches Datenmaterial und bedarf der eigenen Imagination, um ein Gesamtbild zu erhalten.

3. Was historisch als »sehr wahrscheinlich« gelten kann, ist sehr wenig.

David Friedrich Strauß hat in seinem »Leben Jesu« von 1835 unter der historischen Fragestellung den gesamten Textbestand der Evangelien einer kritischen Durchsicht unterzogen. Was ich im ersten Punkt als Eigenart der Evangelien herausgestellt habe, dass die Evangelisten aus der Perspektive ihres Glaubens an die Auferweckung Jesu dessen Geschichte betrachten und also auf einer anderen Ebene als der Ebene historischer Fakten darstellen, wird von Strauß mit dem Begriff »mythisch« gekennzeichnet. Er zitiert aus einem 1832 erschienenen Aufsatz von Usteri als »die richtige Einsicht«, »wie viel an den so entstandenen Mythen geschichtliche Grundlage auf der einen und poetische Symbolik auf der anderen Seite sei, lasse sich jetzt nicht mehr unterscheiden, durch kein noch so scharfes kritisches Messer lassen sich diese beiden Elemente jetzt noch voneinander sondern«. Diese Illusion haben allerdings die historischen Jesussucher. Als Ergebnis seiner Kritik, was sich als »historischer Grund und Boden« der Evangelien ergibt, benennt Strauß »das einfache historische Gerüste des Lebens Jesu, daß er zu Nazaret aufgewachsen sei, von Johannes sich habe taufen lassen, Jünger gesammelt habe, im jüdischen Lande lehrend umhergezogen sei, überall dem Pharisäismus sich entgegengestellt und zum Messiasreiche eingeladen habe, daß er aber am Ende dem Haß und Neid der pharisäischen Partei erlegen, und am Kreuze gestorben sei«. Von den acht Punkten dieses Gerüstes müssen noch zwei, die eng zusammengehören, gestrichen werden, nämlich die den Pharisäismus betreffenden. Hier ist Strauß dem negativen Bild der christlichen Tradition von den Pharisäern aufgesessen, das sich seinerseits von dem negativen Bild über die Pharisäer speiste, das vor allem das Matthäus- und Johannesevangelium bieten. Das wiederum resultiert aus den innerjüdischen Auseinandersetzungen, in denen sich diese Evangelisten und ihre Gemeinden als an Jesus glaubende jüdische Minderheit in der Zeit nach 70 vorfanden – im Gegenüber zu der sich unter pharisäischer Führung neu konstituierenden jüdischen Mehrheit. Diese Mehrheit ergriff gegenüber der Minderheit distanzierende Maßnahmen in sozialer, wirtschaftlicher und religiöser Hinsicht, was die Minderheit als bedrängend erfuhr. Diese Erfahrung bedingte das negative Pharisäerbild, das die Evangelisten in ihre Darstellung der Zeit Jesu zurückprojizieren. Also: Ohne diese beiden die Pharisäer betreffenden Punkte ist »das einfache historische Gerüste des Lebens Jesu« von David Friedrich Strauß im Wesentlichen alles, was eine im Sinne Martin Kählers bescheidene historische Kritik als »sehr« oder auch »höchst wahrscheinlich« herausbekommen kann. Was darüber hinausgehend vorgebracht wird, findet sich sofort im Streit der Meinungen wieder: Es kann so, es kann aber auch anders gewesen sein. Das zeigt sich selbst bei einem in der christlichen Tradition so zentral gewordenen Stück wie dem Vaterunser. In einer noch nicht lange zurückliegenden Kontroverse wurde es von dem einen Neutestamentler dem »historischen« Jesus abgesprochen und von dem anderen als authentisch verteidigt. Beide haben selbstverständlich Argumente. Aber es ist ein Streit um des Kaisers Bart. Was ist damit gewonnen, wenn der eine oder der andere Recht hätte? Was trägt das zum Verstehen dieses Gebetes bei? Es steht im Matthäusevangelium und in etwas kürzerer und variierter Fassung im Lukasevangelium. Das ist genug.

Dem unentwegten Streit der Meinungen, was Jesus zuzuschreiben ist und was nicht, entspricht es, dass es in allen Abschnitten der historischen Jesusforschung – wie immer man sie gliedert – ein Chaos unterschiedlichster Jesusbilder gab. Das ist für historische Forschung, die sich der Erkenntnis des tatsächlich Geschehenen nähern will, das ja immer nur ein bestimmtes Einziges gewesen sein kann, alles andere als eine Empfehlung. Käsemann hat gemeint, die »unverwechselbare Eigenart Jesu« herausstellen zu können, und jeder und jede andere, die oder der nach dem »historischen« Jesus sucht, intendiert das auch. Angesichts der Permanenz des Chaos von Darstellungen des »historischen« Jesus muss schlicht und klar festgestellt werden: Der »historische« Jesus ist ein Wechselbalg.

Die Unterschiedlichkeit der Rekonstruktionen gründet in der...

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