Einleitung:
Die geheime Sprache der Angst
In einer dunklen Zeit beginnt das Auge zu sehen …
THEODORE ROETHKE: IN A DARK TIME
Dieses Buch ist das Ergebnis einer persönlichen Mission. Sie hat mich einmal um die ganze Welt und zurück zu meinen Wurzeln gebracht. Und sie hat mir einen Berufsweg eröffnet, den ich mir zu Beginn der Reise nicht hätte träumen lassen. Seit mehr als 20 Jahren arbeite ich nun mit Menschen, die an Depressionen, Ängsten, chronischen Erkrankungen, Phobien, Zwangsgedanken, posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen lähmenden Zuständen leiden. Viele von ihnen waren entmutigt und hatten schon fast die Hoffnung verloren, als sie zu mir kamen. Weder eine jahrelange Gesprächstherapie noch Medikamente oder andere Maßnahmen hatten den Ursprung ihrer Symptome aufdecken und ihren Leidensdruck mildern können.
Aus eigener Erfahrung sowie durch meine Ausbildung und klinische Praxis ist mir heute klar, dass die Ursache womöglich gar nicht in unserer eigenen Geschichte zu suchen ist. Sie verbirgt sich eher in der Geschichte unserer Eltern, Großeltern und sogar Urgroßeltern. Auch die Ergebnisse der neuesten wissenschaftlichen Studien, die es mittlerweile sogar in die Schlagzeilen geschafft haben, sagen uns: Traumafolgen können von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Dieses »Erbe« besteht in dem, was unter dem Schlagwort »vererbte familiäre Traumata« bekannt geworden ist. Und es wird immer deutlicher, dass wir es hier mit einem sehr realen Phänomen zu tun haben. Schmerz löst sich im Laufe der Zeit nicht immer von selbst auf. Er wird auch nicht unbedingt von selbst weniger. Selbst wenn die Person, die das Trauma ursprünglich erlebt hat, schon längst gestorben ist, selbst wenn ihre Geschichte jahrelang verschwiegen wurde, selbst dann können Fragmente von Erlebnissen, Erinnerungen und Körperempfindungen aus ihrem Leben weiterleben. Es ist, als tauchten sie Hilfe suchend aus der Vergangenheit auf, um über den Geist und Körper der heute Lebenden Erlösung zu finden.
Auf den folgenden Seiten erfahren Sie, wie meine empirischen Beobachtungen aus der Praxis als Leiter des Family Constellation Institute in San Francisco mit den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaft, Epigenetik und Sprachwissenschaft zusammenhängen. Und wie ich das, was ich von Bert Hellinger, dem bekannten deutschen Psychotherapeuten, gelernt habe, dabei einbringen kann. Sein familientherapeutischer Ansatz hat die psychologischen und physischen Auswirkungen vererbter familiärer Traumata auf mehrere nachfolgende Generationen aufgezeigt.
Ein Schwerpunkt dieses Buches ist die Frage, woran wir vererbte familiäre Muster erkennen. Es geht um Ängste und andere Gefühle sowie um Verhaltensweisen, die wir unwissentlich von unseren Vorfahren übernommen haben und die den Leidenskreislauf Generation für Generation aufrechterhalten. Und es geht um das Kernthema meiner Arbeit: wie wir diesem Leiden ein Ende bereiten können. Vielleicht ergeht es Ihnen wie mir, und Sie bemerken, dass viele unserer Muster gar nicht unsere eigenen sind, sondern aus der Familiengeschichte stammen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es in dieser Familiengeschichte etwas gibt, das erzählt werden und endlich ans Licht gebracht werden will. Lassen Sie mich an dieser Stelle meine eigene Geschichte erzählen.
Ich hatte nie geplant, eine Methode zu entwickeln, die dabei helfen sollte, Ängste zu überwinden. Mein Weg dorthin begann mit dem Tag, an dem meine Sehkraft plötzlich nachließ. Von einem Moment auf den anderen war meine erste Augenmigräne da. Keine nennenswerten körperlichen Schmerzen im eigentlichen Sinne – »nur« ein Sturm schieren Entsetzens, während alles um mich herum verschwamm. Ich war damals gerade einmal 34, und nun stolperte ich wie im Dunkeln durch mein Büro, tastete halb blind nach meinem Telefon und setzte einen Notruf ab. Bald würde sich ein Krankenwagen auf den Weg zu mir machen.
Eine Augenmigräne ist in der Regel keine schwerwiegende Erkrankung. Man sieht zwar kurzzeitig verschwommen, doch meist normalisiert sich das Sehvermögen innerhalb einer Stunde. Das Schlimme ist nur, dass man das zunächst nicht unbedingt weiß. Bei mir allerdings war die Augenmigräne nur der Anfang. Innerhalb weniger Wochen konnte ich auf dem linken Auge fast nichts mehr sehen. Ob Gesicht oder Verkehrsschild – alles verschwamm zu einer grauen Masse.
Die Ärzte klärten mich darüber auf, dass ich unter einer sogenannten Retinopathia centralis serosa litt, einer unheilbaren Erkrankung, deren Ursache unbekannt ist. Bei ihr tritt Flüssigkeit aus der Aderhaut aus und sammelt sich unter der Netzhaut, sodass diese sich abhebt. Die Folge ist eine Narbenbildung auf der Netzhaut und unscharfes Sehen. Einige der Betroffenen – jene fünf Prozent mit der chronischen Verlaufsform, an der auch ich litt – erblinden. So wie es bei mir aussah, sagte man mir, ich müsse mich darauf einstellen, dass irgendwann wohl beide Augen befallen sein würden. Es sei nur eine Frage der Zeit.
Kein Arzt konnte mir sagen, was meinen Sehverlust ausgelöst hatte und was Heilung verspräche. Alles, was ich auf eigene Faust ausprobierte – Vitamine, Saftfasten, Heilen durch Handauflegen –, schien die Symptome nur noch zu verschlimmern. Ich war völlig verwirrt. Das, wovor ich am meisten Angst hatte, stand mir bevor, und ich war absolut hilflos, etwas dagegen zu unternehmen. Blind zu sein, außerstande, ein eigenständiges Leben zu führen und völlig auf mich allein gestellt – das würde ich nicht durchstehen. Mein Leben wäre ruiniert. Ich würde jeden Lebenswillen verlieren.
Immer wieder ließ ich dieses Szenarium in meinem Kopf ablaufen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto tiefer nistete sich die Hoffnungslosigkeit in meinem Körper ein. Ich versank in einem zähen Morast. So sehr ich versuchte, mich aus diesem Sumpf zu befreien, er hielt mich fest, und in meinen Gedanken kreiste das Bild, wie ich völlig allein, hilflos und ruiniert sein würde. Genau diese Worte – allein, hilflos und ruiniert – gehörten zu meiner persönlichen Sprache der Angst. In ihnen klang das Echo von Traumata nach, die sich noch vor meiner Geburt in meiner Familiengeschichte ereignet hatten. Einmal freigesetzt, beherrschten sie meine Gedanken, bis sich alles in meinem Kopf drehte und mein Körper regelrecht durchgerüttelt wurde.
Ich fragte mich, warum ich meinen Gedanken solche Macht zugestand. Andere Menschen machten schließlich weitaus Schlimmeres durch als ich, ohne dass es sie so massiv herunterzog. Was brachte mich dazu, so tief in der Angst stecken zu bleiben? Es sollte noch Jahre dauern, bis ich diese Frage beantworten konnte.
Damals galt für mich nur noch das Motto »nichts wie weg«. Ich beendete meine Beziehung, meinen Job, verließ meine Familie, meine Stadt – alles, was mir vertraut war. Ich wollte Antworten. Antworten, die in der Welt, in der ich lebte – eine Welt, in der viele Menschen orientierungslos und unglücklich schienen –, nicht zu finden waren. Ich hatte tausend Fragen und wollte keinesfalls mit dem mir bekannten Leben weitermachen. Ich verkauftet meine Firma, ein erfolgreiches Eventmanagement, an jemanden, der mir gerade über den Weg gelaufen war. Und weg war ich, auf nach Osten – so weit östlich, wie ich nur irgend konnte –, bis ich Südostasien erreichte. Ich wollte geheilt werden. Nur hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie.
Ich las Bücher und saß mit den Lehrern zusammen, die sie geschrieben hatten. Wann immer ich von jemandem hörte, der oder die mir vielleicht helfen könnte – eine bestimmte alte Frau, die in einer Hütte lebte, ein immerzu Lachender in langer Robe –, war ich sofort dort. Ich nahm an Seminaren teil und sang Mantras mit Gurus. Einer dieser Gurus sagte zu uns, die wir gekommen waren, um ihn sprechen zu hören, er wolle sich nur mit »Findern« umgeben. Suchende, meinte er, blieben einfach immer genau das, was der Begriff ausdrückt: ständig auf der Suche.
Ich wollte ein Finder sein. Ich meditierte jeden Tag. Ich fastete regelmäßig. Ich bereitete mir Heilkräutertees und bekämpfte damit die aggressiven giftigen Stoffe, die in meiner Vorstellung in mich eingedrungen waren. Und über alldem nahm mein Sehvermögen weiter ab und ich geriet immer tiefer in eine Depression.
Was mir damals nicht klar war: Wenn wir uns dagegen wehren, etwas Schmerzhaftes zu empfinden, hält sich der Schmerz oft noch hartnäckiger – das beste Rezept, um dauerhaft zu leiden. Hinzu kommt, dass das Suchen selbst verhindern kann, dass wir das Gesuchte finden. Wenn wir zu sehr außerhalb von uns selbst suchen, merken wir nicht, wenn wir am Ziel angekommen sind. In unserem Innern mag sich etwas Wertvolles ereignen, aber wenn wir es nicht wahrnehmen, kann es uns leicht entgehen.
»Was willst du nicht sehen?«, gaben mir die Heiler immer wieder zu bedenken und provozierten mich dazu, tiefer zu blicken. Woher sollte ich das wissen? Ich tappte im Dunkeln.
Ein Guru in Indonesien brachte mich einen Schritt weiter, als er fragte: »Für wen hältst du dich, dass du meinst, du solltest keine Probleme mit den Augen haben?« Und er fuhr fort: »Vielleicht hören Johanns Ohren nicht so gut wie die von Gerhard, und Elisabeths Lungen sind vielleicht nicht so kräftig wie die von Gerda. Und Dietrich kann nicht annähernd so gut laufen wie Sebastian.« (Alle in dem damaligen Training waren entweder aus den Niederlanden oder aus Deutschland und litten offenbar unter diversen chronischen Erkrankungen.) Irgendwie kam die Botschaft an. Er hatte ja recht. Für wen hielt ich mich, dass ich meinte, ich sollte doch bitte keine Probleme mit...