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E-Book

Allgemeine Pädagogik

Die Grundlagen von Erziehung und Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft

AutorHans-Jochen Gamm
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl314 Seiten
ISBN9783688102020
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Der hier vorgelegte Versuch einer Allgemeinen Pädagogik umfaßt sechs Teile, die in einem kompositorischen Verhältnis zueinander stehen. Nach einleitenden wissenschaftlichen Vorbemerkungen und Überlegungen zur Funktion von Allgemeiner Pädagogik wird die Anthropogenese als Ursprung aller Erziehung erläutert. Es folgt eine Skizze der bürgerlichen Gesellschaft, an der das historische Faktum Kindheit sowie die Grundbegriffe Erziehung und Bildung exemplarisch diskutiert werden. In einem dritten Schritt wird die Lernfähigkeits- und Bildsamkeitsthese mit der organisierten Schule, den Konzepten von Didaktik und der Professionalisierung von Lehrrollen in Verbindung gebracht. Von dort aus wird der Blick auf das Individuum gelenkt, wie es durch seine jeweilige gesellschaftliche Definition in eigentümliche pädagogische Verhältnisse gerät und wie unter dem Begriff des gesamten Lebens eine erzieherische Korrespondenz denkbar ist. Diese Überlegungen verknüpfen sich mit der Frage nach den Traditionsbeständen jeglicher Erziehung und wie aus ihnen strukturelle Widersprüche und Kontroversen resultieren. Damit ist schließlich die Reflexion eröffnet, wie Theorie und Praxis unter erzieherischer Prämisse überhaupt zusammenhängen und welche Hoffnungen sich mit dem pädagogischen Handeln verknüpfen.

Hans-Jochen Gamm wurde 1925 in Jörnstorf/Mecklenburg geboren und legte 1943 die Reifeprüfung in Schwerin ab; von 1943-1945 war er Soldat. Die Jahre 1945-1949 verbrachte er in amerikanischer, sowjetischer und polnischer Kriegsgefangenschaft. Nach der Heimkehr studierte er zwischen 1949 und 1953 an den Universitäten Rostock und Hamburg geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer. Von 1953-1959 war er Lehrer, 1959-1961 Dozent am Pädagogischen Institut der Universität Hamburg, 1961-1967 an der Pädagogischen Hochschule Oldenburg, zeitweise deren Rektor; ab 1967 Professor für Pädagogik an der Technischen Hochschule Darmstadt. Hans-Jochen Gamm starb 2011 in Darmstadt.Buchveröffentlichungen u.a.: «Einführung in das Studium der Erziehungswissenschaft» (1974); «Umgang mit sich selbst. Grundriß einer Verhaltenslehre» (1977, Oktober 1979) sowie «Allgemeine Pädagogik» (1979).

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Leseprobe

I. Abstammung und Aufbruch


Kapitel 1 Vorbedingungen der Erziehung. Zur Anthropogenese. Arbeit und Bewußtsein


Mühsam erst tastet sich die Menschheit durch eine Kombination wissenschaftlicher Verfahren an die Ursprünge der Lebensentstehung auf dem Planeten Erde heran. Vieles dabei ist einstweilen hypothetisch, manches dürfte auch in Zukunft dunkel bleiben, denn die Funde aus der Erdrinde, die meist dem Zufall zu danken sind, können wohl kaum eine lückenlose Ableitung und Übersicht der verschiedenen Entwicklungsstufen ergeben. Evolutionsforscher und Paläontologen werden auch fortan mit dem heuristischen Prinzip arbeiten müssen. Auf einem anderen Wege treffen sich Chemiker, Physiker und Biologen, indem sie die Bedingungen der Uratmosphäre experimentell herstellen und damit den qualitativen Sprung von der Materie zum Leben als unvergleichliches Ereignis simulieren können: die Vorbedingung der Organisation höherer Lebewesen, Voraussetzung aller menschlichen Geschichte und Kultur.

Die Rekonstruktion der Lebensanlässe, die Frage von JACQUES MONOD nach «Zufall und Notwendigkeit»[1], ist selbst bereits geschichtliche Folge einer langdauernden Revolution des Denkens. Mythos, Religion, Philosophie und Naturwissenschaft haben nebeneinander – und oft noch in Gegensätzen vielfältig verquickt – ihre Traumbilder, Dogmen, Lehren und Theorien vorgetragen. Diese Geschichte repräsentiert den Kampf um die Wahrheit: GIORDANO BRUNO diente ihr durch den Tod, GALILEO GALILEI durch Widerruf, beides sind Zeugnisse für die Wahrheit, wie KARL JASPERS einmal bemerkte: Die eine Wahrheit, eine «lebendige», konnte nur durch den Tod bezeugt und erhärtet werden; die andere, eine naturgesetzliche, durfte widerrufen werden, da ihre Objektivität durch subjektive Beschränktheit nicht dauerhaft verdunkelt bleiben würde.[2]GALILEI konnte, als der sich selbst Nächste, sein Leben folglich sparen, indem er es nicht zum Brandopfer für die Torheit und den blinden Haß damaliger Kleriker hinwarf.

Auf jeden Fall hat sich der menschliche Geist mit der Frage nach seinem eigenen Ursprung und dem Bekenntnis zu ihm als das zentrale historische Phänomen selbst bestimmt, und alle bisherige Geschichte geht in die Frage nach dem Woher oder nach der Lebenssubstanz als solcher ein. Die Epochen erklären die Ursache jener qualitativen Sprünge des Evolutionsrätsels unterschiedlich. Die Intensität, mit der ein Zeitalter sich der Aufhellung seiner fernsten Vergangenheit widmet, sagt immer auch etwas über diese Zeit aus. Das Daseinsverständnis einer Epoche ist ohne die verhüllten Anfänge nicht vollständig. Die Selbstinterpretation jeder Zeitgenossenschaft enthält implizit auch Vorstellungen über den Urbeginn, mögen sie auch an den Objektivationen nicht unmittelbar kenntlich sein. Denn jeder Versuch von Standortbestimmung geht davon aus, daß der Eintritt der Gattung in die Geschichte bis zur Erfahrung jeweiliger Gegenwart in einem Kontinuum von Sinn beschlossen wird. Diese sinnkonstituierende Leistung ist das Untersuchungsfeld EDMUND HUSSERLS anhand der Frage, wie das Seiende Seinssinn erhalten kann.

Wenn die bisherigen Resultate der Evolutionsforschung zutreffen und weiterhin untermauert werden können, dann hat sich aus dem seit etwa 50 Millionen Jahren bestehenden Stamm der Anthropoiden und Primaten der Zweig der Vormenschen weiterentwickelt; dies dürfte vor vielleicht 5 Millionen Jahren geschehen sein. Schädel- und Knochenfunde, die auf ein Alter von ca. 2 Millionen Jahren datiert werden, belegen die körperliche Entwicklung der «Herrentiere», zu denen der Mensch, biologisch gesehen, das heißt nach der Säugetierordnung, rechnet. Von den verschiedenen damals aufgetretenen Hominidenstämmen ist der Homo sapiens die einzige bis heute bestehengebliebene Gattung.

Der Übergangsprozeß vom Tier zum Menschen ist durch zwei primär biologische Entwicklungen zu kennzeichnen, zunächst durch die unvergleichliche Vergrößerung des Gehirnvolumens. Beim Vormenschen betrug es vielleicht 500 ccm, beim Menschen unserer Zeit im Durchschnitt 1500 ccm. Dabei nehmen die Verbindungen zwischen den einzelnen Gehirnpartien gegenüber allen höher entwickelten Tieren stark zu. Die Sinneseindrücke können koordiniert und verarbeitet werden. Erfahrung und Informationen lassen sich über das Gedächtnis speichern, zeitunabhängig halten und für andere Situationen abrufen. Das multifunktionale Gehirn und das ihm verbundene Zentralnervensystem ermöglichen dadurch bewußte Handlung.

Die andere Entwicklung wird durch die Veränderung der Körperhaltung zum aufrechten Gang als der fortan normalen Fortbewegungsform bezeichnet. Die Menschenaffen benutzen ihre langen Arme, sobald sie sich aufrichten, als Stützen der Beine; die Arme haben also eine Art Krückenfunktion, sind zusätzliche Fortbewegungsmittel geblieben; man spricht vom «Knöchelgang». Erst der Mensch hat im wahren Wortsinn freie Hand. Die Geschicklichkeit dieser Hand wird von keinem anderen Wesen erreicht. Zwar haben Affen und Menschen gemeinsam opponierbare Daumen an beiden Händen und können dadurch Gegenstände relativ sicher anfassen und bewegen. Aber der Präzisionsgriff hat sich erst beim Homo sapiens wesentlich verfeinert. Das Evolutionsergebnis verwandelte die Hand zum universellen Werkzeug, zum sensiblen Instrument. Die materialistische Interpretation sieht darin die Voraussetzung aller Kultur.

Das kombinatorische Vermögen und der aufrechte Gang boten die elementaren Voraussetzungen für ein Weltbild jenes Wesens im Übergangsfeld vom Tier zum Menschen. Zwar hatte die Wirbelsäule erhebliche Belastungen zu bestehen: «Wir wurden zu Lebewesen, die ihre Vordergliedmaßen nicht mehr zur Fortbewegung brauchten und statt dessen in technischen Fertigkeiten üben konnten. Hinzu kam ein großes Hirnvolumen, das komplizierte Anweisungen an diese befreiten Hände weitergeben und von ihnen detaillierte Informationen empfangen konnte. So wurde der Mensch ein hervorragender Handwerker, der jedoch noch immer unter der Tatsache leidet, daß er physisch nicht perfekt ist. Die Nachteile des Wunders sind nämlich Plattfüße, Hämorrhoiden und Bandscheibenschmerzen.»[3]

Zum genannten Weltbild gehört auch, daß die Sichtweise des Menschen sich grundlegend änderte. Sein Geruchszentrum hat sich gegenüber dem der Primaten verkleinert, während sich das Sehzentrum im Gehirn vergrößerte. Die frontal stehenden Augen erlauben das räumliche Sehen. Entfernungen können geschätzt, Distanzen denkend überbrückt werden. Aus einer spezifischen und eingeschränkten Umwelt der Tiere, wie sie als einer der ersten JAKOB VON UEXKÜLL erforschte, wird die offene Welt des Menschen. Gehirn, aufrechter Gang, Auge und Hand wirken zusammen, um das Werkzeug schaffende Wesen hervorzubringen. Eine Deutung dieses Geschehens auf den «Punkt Omega» hin hat der Theologe und Paläontologe TEILHARD DE CHARDIN versucht, indem er das Entwicklungsprinzip als Schöpfung faßte, deren Anerkennung durch kontemplatives Vermögen eingeleitet wird. Freilich stößt eine solche Interpretation, die im Sinne THOMAS VON AQUINS die Natur in der «Übernatur» aufgehen und sich legitimieren läßt, durchaus auf vielfältige Ablehnung, weil die Grenzlinie zwischen Wissen und Glauben überschritten ist.

Wenn die Anthropogenese als Theorieversuch von Spekulation möglichst freigehalten werden soll, so wird man nach dem entscheidenden Merkmal zu fragen haben, durch das sich humane Existenz von allen tierischen Vorformen abhebt. Im Phänomen der Arbeit läßt es sich benennen. Zwar «arbeiten» auch Tiere – Bienen und Ameisen sogar in komplizierten Sozialverhältnissen – und bringen es dabei bekanntlich zu erstaunlichen Gebilden, aber es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen tierischer und menschlicher Tätigkeit, den KARL MARX eindeutig benannt hat:

Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sieverändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit. Wir haben es hier nicht mit den ersten tierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit zu tun. Dem Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer seiner eignen Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt, ist in urzeitlichen Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte. Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er...

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