Was wir nicht wissen
Seit den Anfängen seines Erfolgs als Schriftsteller hat Michel Houellebecq ziemlich viele Dinge gesagt, die man ihm nicht auf Anhieb glauben wollte. Das ironische Spiel – etwas von sich zu erkennen zu geben und es bei nächster Gelegenheit zu widerrufen – hat er perfektioniert. Das entspricht seinem Humor. Es gibt aber einen Satz, den man ihm sofort abnahm und der einen keine Sekunde lang auf die Idee brachte, er könne Ausdruck seiner Koketterie sein: Wer sich einen Reim auf ihn machen wolle, so Michel Houellebecq, der solle seine Bücher lesen, am besten in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Sein Leben hingegen: eine denkbar schlechte Quelle.
Michel Houellebecqs Romane sind keine Geständnisliteratur. Der Antrieb seines Schreibens ist kein autobiographischer. Das heißt nicht, dass es in seinem Werk keine autobiographischen Bezüge gäbe. Es gibt sogar sehr viele – allen voran die Tatsache, dass die Hauptfiguren seiner Romane beinahe ausnahmslos Michel heißen und eine deutliche Ähnlichkeit mit ihrem Erfinder haben. Dieser Autor achtet aber zugleich darauf, dass die Ähnlichkeiten nicht zu groß werden und immer genügend Spielraum für jene Ambiguität bleibt, die ihn an der Literatur interessiert. Literatur ist für ihn dazu da, Gewissheiten ins Wanken zu bringen, den Zweifel zu nähren. Wie sehr ihm das gelingt, zeigt die Aufregung, die jedes seiner Bücher auslöst.
Eine Ausnahme hat er allerdings gemacht. Oder er hat sich dazu hinreißen lassen, es auszuprobieren und etwas über sein Leben festzuhalten, und zwar in Form eines Tagebuchs. Es sind nur ein paar Tage, einer im Februar – genauer gesagt der 26. Februar 2005, der 47. Geburtstag von Michel Houellebecq – und ein paar aufeinanderfolgende Augusttage im selben Jahr. Houellebecq hat gerade das Manuskript seines Romans «Die Möglichkeit einer Insel» abgeschlossen und an seinen Verleger geschickt. Hinter ihm liegt eine Zeit intensiver Arbeit, er weiß, dass ihm sein Leben jetzt leer vorkommen wird. Er ist überzeugt davon, gerade ein «Meisterwerk» abgeliefert zu haben, und ebenso sicher, dass das, was er in diesem Moment zu schreiben beginnt, keinerlei Bedeutung hat: «Ich halte nicht viel von Autobiographien und von Tagebüchern kaum mehr; ich betrachte sie als primitive Formen des Schaffens, mit denen man weder an die Wahrheit des Romans herankommt noch an den Grad reiner Emotion wie in der Dichtung.» Wenn er sich dem nun trotzdem widme, dann nur, weil er gerade außerstande sei, irgendetwas anderes zu tun. Im Übrigen wisse er auch jetzt schon, dass daraus kein Buch entstehen werde.
Und dann fängt er – am 20. August 2005 um drei Uhr morgens – tatsächlich ganz von vorne an: «Ich bin im Jahr 1956 oder 1958 geboren», schreibt er, «ich weiß es nicht. Wahrscheinlicher ist 1958. Meine Mutter hat mir immer erzählt, mein Geburtsjahr falsch angegeben zu haben, damit ich, anstatt mit sechs, schon mit vier Jahren zur Schule gehen konnte. Sie war überzeugt davon, dass ich hochbegabt sei – weil ich mir mit drei Jahren anscheinend selbst das Lesen beigebracht habe. Als sie eines Abends nach Hause kam, war ich zu ihrer großen Überraschung dabei, in aller Ruhe Zeitung zu lesen.» Ob seine Mutter aber tatsächlich nur gute Absichten verfolgt habe, als sie das Datum fälschte, wisse er nicht. Sie sei immer eine Expertin darin gewesen, die Dinge rückblickend so zu erzählen, dass sie für sie schmeichelhaft waren. «Ich erinnere mich, wie ich es einmal – ziemlich schüchtern – gewagt habe, ihr vorzuwerfen, dass sie sich in den Jahren meiner Kindheit vielleicht nicht genügend um mich gekümmert hätte, und wie ich mir dann die Schilderung ihrer Jahre als Ärztin für Arme in La Réunion angehört habe, die sie in ein heroisches Licht setzte. Ging es nach ihr, war sie eine Art Mutter Teresa der Medizin, die niemals zögerte, sogar mitten in der Nacht aufzustehen, um einer schwarzen Frau in einer verlorenen Berghütte bei der Geburt zu helfen (es folgte die Beschreibung des vom Sturm zerfurchten Wegs, der mit dem Landrover gestreiften Abhänge). Tatsächlich, wie ich später erfahren musste, arbeitete sie vor allem als Vertretung und nahm sechs Monate Urlaub im Jahr.» Es sei also gut möglich, dass sie ihn zwei Jahre älter gemacht habe, um ihn einfach schneller loszuwerden.
Die Sache mit der Hochbegabung hat Michel Houellebecq aber gefallen. Er erinnert sich daran, wie er in der Schule einen Intelligenztest machen musste und begeistert feststellte, einen IQ von mehr als 140 zu haben. Er suchte daraufhin noch nach anderen Tests, um 150 zu erreichen, was, so Houellebecq, rückblickend etwas armselig erscheine, ihm aber auch bewusst mache, dass er von seinem fünfzehnten Lebensjahr an versucht habe, sich als Persönlichkeit zu entwerfen: als ein Überlegener; jemand, der sich schwebend in den hohen Sphären der Welt der Gedanken bewegt. Zugleich, schreibt er, sei er in der Gesellschaft anderer und vor allem im Umgang mit Mädchen schrecklich verhaltensgestört gewesen und habe unter entsetzlichen körperlichen Komplexen gelitten, obwohl es dazu eigentlich gar keinen Grund gegeben habe. Erst kürzlich habe er ein altes Foto gefunden, auf dem er in der Mitte einer Gruppe von Jungen und Mädchen zu sehen sei. Es war beinahe ein Schock für ihn, festzustellen, dass er auf diesem Bild der anziehendste Junge von allen war: «Offen gestanden finde ich mich selbst umwerfend.» Wirklich komisch (oder eben tragisch) sei eben nur, dass er es jetzt, im Jahr 2005, geschafft habe, zu der Person zu werden, für die er sich damals hielt: Auf neuen Fotos sehe er in den allermeisten Fällen tatsächlich grauenhaft aus; seine intellektuellen Fähigkeiten dagegen hätten Früchte getragen und aus ihm – «unnötig, da irgendeine falsche Bescheidenheit vorzuspielen – einen der wichtigsten Schriftsteller meiner Generation» gemacht.
Schon früh hat Michel Houellebecq versucht, sich als Persönlichkeit zu entwerfen.
Nur eine Sache hätte er damals schon richtig wahrgenommen, etwas, das bis heute geblieben sei: «meine unglaubliche, anormale Empfindlichkeit; meine unkontrollierbare Emotionalität; meine erschütternde Verletzlichkeit». Er müsse hier noch einmal auf seine Mutter zurückkommen, ein letztes Mal. Es klinge hart, aber als er ein Baby gewesen sei, habe seine Mutter ihn nicht genug liebkost und gestreichelt. Sie sei einfach nicht zärtlich gewesen, das sei alles und erkläre den Rest. Heute noch leide er furchtbar, wenn eine Frau sich weigere, ihn zu streicheln, und zwar so sehr, dass er lieber auf jeden Versuch der Verführung verzichte, als sich dem auszusetzen: «In diesen Momenten glaube ich zu sterben, wirklich ausgelöscht zu werden.» Und er wisse, so schreibt er (und das klingt dann tatsächlich sehr pathetisch), dass er bis zu seinem Tod «ein ganz kleines zurückgelassenes Kind» bleiben werde, «das, hungrig nach Zärtlichkeit, vor Angst und Kälte schreit».
So beginnt der autobiographische Versuch von Michel Houellebecq im Jahr 2005 – und die heiklen Punkte werden schnell benannt: das Geburtsdatum, der Name und, vor allem, die Mutter. Michel Houellebecq, das scheint verbürgt, wurde als Michel Thomas am 26. Februar 1958 auf der Insel La Réunion geboren. Seine Mutter, Janine Ceccaldi, arbeitete dort als Ärztin, sein Vater, René Thomas, war Bergführer. Er ist kein halbes Jahr alt, da brechen die Eltern zu einer Afrikareise auf, während der das Baby bei der Großmutter väterlicherseits im Pariser Vorort Clamart untergebracht wird. Als sie von der Reise zurückkehren, trennen sich die Eltern, die Mutter geht zurück nach La Réunion (sie bekommt dort ein zweites Kind von einem anderen Mann); der Vater zieht nach Frankreich – und Michels Großeltern mütterlicherseits holen den Jungen zu sich nach Algerien. So wächst Michel Thomas in Algier auf, bis das Land 1962 unabhängig wird und die Mutter des Vaters ihn in Frankreich wieder bei sich aufnimmt. Sie wird zum wichtigsten Menschen in Michels Kindheit: Henriette Houellebecq lautet ihr Mädchenname, den Michel 1978 anzunehmen beschließt. Es ist ein seltener und aufgrund des «elle»-Lautes weiblich klingender Name; ein Name, den der von Houellebecq verehrte französische Oulipo-Schriftsteller Georges Perec in einem Wortspiel sicher in «Où est le bec» transformiert hätte, wie Michels Freund Yan Céh einmal spekulierte. Wobei «bec» ja vieles zugleich bedeuten kann: die Spitze einer Feder, das Mundstück eines Instruments, der Schnabel eines Vogels.
Er habe gestern Abend ein paar Seiten einer Biographie gelesen, die ein Journalist namens Demonpion über ihn geschrieben habe und die nun erscheine, so Michel Houellebecq weiter in seinem Tagebuch. Es gebe ein paar Dinge in seinem Leben, die für ihn selbst ein Rätsel seien und die aufzuklären er sich sehr wünsche. Zum Beispiel: «Warum wurde ich, als wir 1962 Algerien verließen, zu meiner Großmutter väterlicherseits (Houellebecq) geschickt, anstatt bei meiner Großmutter mütterlicherseits zu bleiben (Ceccaldi)? Wenige Menschen wissen das. Die Seiten der Biographie, die ich im Internet gelesen habe, zeigen aber ganz klar, dass Demonpion für seine Angaben über jene Jahre nur eine einzige Quelle gefunden hat: meine Mutter, die allen Grund hat, zu lügen, um ihre wahren Beweggründe zu kaschieren.»
Und da ist plötzlich klar, was ihn antreibt; warum er diesen autobiographischen Versuch tatsächlich unternimmt: Michel Houellebecq sieht...