Ist Zionismus Gotteslästerung?
Die jüdische Religion stellt wahrhaftig kein Handbuch für Ansprüche auf jüdische Staatlichkeit im Heiligen Land zur Verfügung. Fundamentalisten meinen sogar, daß eben diese Heiligkeit die jüdische Staatlichkeit bis zum Eintreffen des Messias verbiete.
Bei den jüdischen Fundamentalisten gibt es, grob gesprochen, zwei Gruppierungen: die »nachhelfenden Aktivisten« und die »passiv Abwartenden«. Am Ziel ihrer Wünsche sind fromme Juden erst, wenn der Messias gekommen sein wird. Er wird den Gottesstaat errichten. Die nachhelfenden Aktivisten im Lager der jüdischen Fundamentalisten haben schon mit dem Aufbau des Staates begonnen, der dann ein Gottesstaat, ihr Gottesstaat, werden soll. Die passiv abwartenden jüdischen Fundamentalisten halten bereits diesen ersten Schritt zur Staatlichkeit für einen Beweis des Unglaubens. Für sie beweist dieser Aktivismus mangelndes Vertrauen in Gott und ist daher »Gotteslästerung«.
Die passiven jüdischen Fundamentalisten sind tief religiös und in manchen Bereichen durchaus modern. Politik betreiben sie allerdings (wenn überhaupt) nur als Religionspolitik, letztlich in Form von Gemeindepolitik. Jüdische Staatlichkeit hat für sie mit der Heiligkeit des Heiligen Landes nichts zu tun. Im Gegenteil, sie behaupten: »Zionismus ist Gotteslästerung.« Wer jemals das orthodoxe jüdische Viertel Mea Schearim in Jerusalem besucht hat, dürfte dort diese Parole mehrfach an Häuserwänden gesehen und sich dabei gewundert haben, warum orthodoxe Juden als Gegner des Jüdischen Staates, als Gegner der Jüdischen Nationalbewegung auftreten.
Extreme und religionspolitisch militante orthodoxe Juden sind im israelisch-arabischen Konflikt friedlicher. »Uns stört es nicht, wenn Araber in Jerusalem leben«, verkündete zum Beispiel der fundamental-religiöse Rabbiner Schach und dachte dabei wahrscheinlich an das Talmudtraktat Ketubbot 110b: »Unsere Meister lehrten: Stets solle ein Mensch im Land Israel wohnen, sogar in einer Stadt, deren Mehrheit aus Fremden [=Nichtjuden] besteht.« Er wohnte nicht im Ausland. Nicht einmal in einer Stadt, deren Mehrheit aus Juden besteht. Warum? Talmudtraktat Sota 14 beantwortet diese Frage zum Teil: »Viele Gebote wurden [dem Volk] Israel vorgeschrieben, die sich nur im Land Israel erfüllen lassen.« Und Rabbi Simlai, einer der talmudischen Weisen, fügte hinzu: »Ich möchte das Land Israel betreten, damit ich sie [die Gebote] alle erfülle.« Das religiöse Leben der Juden sei entscheidend, nicht ihre Staatlichkeit. Auf die jüdische Qualität, nicht auf die Quantität der Juden komme es an.
Rabbiner Schach war als nachhelfender Aktivist im Lager der jüdischen Fundamentalisten das Oberhaupt einer höchst einflußreichen radikalreligiösen Partei in Israel. In den 1990er Jahren war er sogar der »Königsmacher« israelischer Politik, indem er auf die Wahl des Ministerpräsidenten Einfluß nahm.
Bei der Madrider Friedenskonferenz im Herbst 1991 saßen erstmals Israelis, Palästinenser, Jordanier, Ägypter, Syrer und Libanesen vor den Kulissen an einem Gesprächstisch, anstatt aufeinander zu schießen. Gerührt und voller Ahnungslosigkeit präsentierte eine deutsche Zeitung ein Foto, das Rabbiner Hirsch und Faisal Husseini zeigt. Der folgende Text wurde hierzu gedruckt: »Zum Beginn einer schwierigen Konferenz eine Begegnung in Jerusalem, die einen Funken Hoffnung signalisiert: Rabbi Hirsch, Führer der ultraorthodoxen ›Neturei Kartha‹, trifft mit dem Palästinenserführer Faisal Husseini zusammen.« Offensichtlich wußte die Redaktion nicht, daß die radikalreligiöse Gruppe Neturei Kartha militant antizionistisch ist, den Jüdischen Staat Israel als »Gotteslästerung« beschimpft und seit Jahrzehnten enge Kontakte zur palästinensischen Nationalbewegung pflegt. Rabbi Hirsch vertritt die passiv Abwartenden im Lager der jüdischen Fundamentalisten, für die jeder Schritt zum Aufbau eines (Gottes-)Staates ein Beweis des Unglaubens ist.
Zur israelisch-arabischen Friedenskonferenz entsandte Neturei Kartha deshalb zwar drei Berater – aber als Teil der palästinensischen Delegation. Doch auch auf die Größenverhältnisse kommt es an. Wenn siebzig Prozent der jüdischen Israelis nichtreligiös sind, bilden die Religiösen also eine Minderheit. Unter dieser religiösen Minderheit sind die Orthodoxen ihrerseits eine Minderheit. Und eine Minderheit dieser Minderheit ist die winzige Gruppe der Neturei Kartha. Nur weil ihre Männer so malerisch aussehen und weil sie zudem religionspolitisch äußerst militant sind, werden sie von der Außen- und Innenwelt beachtet. Friedfertig sind sie gegenüber muslimischen und christlichen Palästinensern. Auf nichtreligiöse Juden sind sie dagegen durchaus bereit, Bomben zu werfen, wenn diese zum Beispiel Schwimmbäder eröffnen, in denen Männer und Frauen nicht voneinander getrennt sind. »Ein Funken Hoffnung«?
Für aufgeklärte, »moderne« Menschen ist keine Form der Orthodoxie nachvollziehbar, auch nicht für den Autor dieses Buches. Wer jedoch wissen will, ob der Kampf um das Heilige Land ein Krieg der Religiösen und der Religionen oder gar ein Kampf für die Religionen ist, muß die diversen Verästelungen kennen. Diese Verästelungen sind gewiß verwirrend – weil auch die Konfliktlinien wirr sind. Eindeutig ist nur die Vieldeutigkeit. Und das zu wissen ist letztlich die Voraussetzung dafür, den Konflikt zu überwinden; zumindest geistig zu durchdringen.
Für strenggläubige Menschen ist Geschichte zugleich auch eine Heilsgeschichte. Diese Aussage gilt für Juden ebenso wie für Moslems, Christen oder andere. Der Gang der Geschichte ist für sie nicht Menschenwerk, sondern Gotteswerk: Der Mensch soll Gottes Gebote erfüllen, nicht politisch aktiv sein.
Wenn also Gott einem Volk das Land schenken oder wiedergeben möchte, so wird er schon dafür sorgen. Menschliche Nachhilfe benötigt er nicht, so das orthodoxe Denkmuster. Um sich von dieser Theorie überzeugen zu lassen, muß man allerdings wirklich ein gläubiger Mensch sein. Säkularisierte Menschen werden dieses Denkmuster zumindest intellektuell nachvollziehen können, den Sprung in eine eigene Religiosität aber vermutlich verweigern. Diese Reaktion ist verständlich. Auch ich gehöre nicht zu den Fundamentalisten. Doch sie zu verstehen ist unerläßlich, wenn man die religiöse Dimension des Kampfes um das Heilige Land andeutet.
Die entscheidende These lautet: Das Betonen der religiösen Dimension führt keineswegs zwangsläufig zur Forderung nach einem Staat für die eigene Religionsgruppe – sei sie jüdisch, muslimisch oder christlich. Über die Heiligkeit des Heiligen Landes entscheidet nicht die jeweilige Staatlichkeit. Diese Aussage gilt sowohl für die religiöse als auch für die historische Dimension des Konflikts. Denn die Juden waren sogar während ihrer Anwesenheit im Heiligen Land nur die kürzeste Zeit staatlich unabhängig organisiert. In der rund fünfhundertjährigen Epoche des Zweiten Tempels (520 v.Chr.–70 n.Chr.) entwickelten die Juden im Heiligen Land Religion und Gesellschaft fort, aber politisch verfügten sie nur über Autonomie, also Selbstverwaltung und Selbstbestimmung nach innen. Sie besaßen keine Souveränität, also keine Verfügungs- und Entscheidungsgewalt nach außen. Von einem »Kampf um das Heilige Land« (um es provokativ zu formulieren) reden also eher die Nichtreligiösen als die Religiösen.
Doch bei aller Meinungsfreiheit müssen Thesen, erst recht ketzerische dieser Art, bewiesen werden. Im folgenden werden deshalb die Geschichte und die Spannungen der Juden zwischen jüdischer Religion und Zionismus skizziert.
Die Zionistische Bewegung wurde im Jahr 1897 von Theodor Herzl ins Leben gerufen. Die Gründerväter des Zionismus waren alles andere als religiöse Menschen. Ihre Sehnsucht nach Zion war politisch. Sie strebten eine jüdische »Heimstätte« an und sprachen dabei ausdrücklich nicht von einem »Staat«.
Die Zionisten der ersten Stunde wollten verfolgte und bedrohte Juden retten, nicht das Judentum. Nicht um religiöse Bedürfnisse ging es ihnen also, sondern um das nackte Überleben. Deshalb waren viele Zionisten gar nicht auf das Heilige Land fixiert. Auch von Argentinien und sogar von Uganda war anfänglich die Rede. Diese Pläne ließen sich jedoch nicht durchsetzen. Uganda und Argentinien wären ein jüdisches Wolkenkuckucksheim gewesen, religiös und historisch. Das Heilige, Gelobte Land mußte es sein, auch für die nichtreligiöse Mehrheit der Zionisten.
Vorsichtig blieben sie trotzdem. Aus gutem Grund verzichteten sie anfangs auf die Forderung nach einem eigenen Staat, denn außenpolitisch wäre dies ebenso illusorisch wie selbstmörderisch gewesen. Wie sollte dieser kleine Verein, »Zionistische Weltorganisation« genannt, dem damals in Palästina herrschenden Osmanischen Reich das Land für einen eigenen Staat entreißen?
Dieser Forderungsverzicht war auch innenpolitisch eine kluge Entscheidung. Die religiösen Juden wären durch den Zionismus noch mehr provoziert worden, eben weil die Rückkehr der Juden nach Zion in den Augen der Religiösen eigentlich das Werk Gottes sein müsse und nicht von Menschen betrieben werden dürfe. Doch die religiösen Juden waren sich über die Verquickung von Heilsgeschichte und Geschichte ebenfalls alles andere als einig. Deshalb meinten einige Religiöse, man solle die Zionistische Bewegung stärker an das Judentum binden. Der ursprünglich nichtreligiöse, geradezu antireligiöse Zionismus sollte von innen mehr jüdische Religiosität erhalten. Diese Religiösen...