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Ratgeber Lese-/Rechtschreibstörung (LRS)

Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher

AutorGerd Schulte-Körne, Katharina Galuschka
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl88 Seiten
ISBN9783844427226
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Eine Lesestörung ist durch ausgeprägte Schwierigkeiten in der Lesegenauigkeit und -geschwindigkeit sowie im Leseverständnis gekennzeichnet. Eine Rechtschreibstörung äußert sich durch eine außerordentlich hohe Anzahl an Rechtschreibfehlern. Kinder und Jugendliche mit einer Lese-/Rechtschreibstörung (LRS) leiden häufig sehr, da ihre Probleme nicht oder zu spät erkannt werden. Vielen gelingt dies auch über einen längeren Zeitraum hinweg. Werden die Störungen nicht erkannt, kann die schulische Überforderung zu psychischen Störungen führen oder diese verstärken. Der Ratgeber informiert über die Symptomatik, die Ursachen, die Diagnostik sowie die Präventions- und Fördermöglichkeiten bei der Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Eltern, Lehrer und Erzieher erhalten konkrete Ratschläge und Anleitungen zum Umgang mit der Problematik in Familie, Kindergarten und Schule. Möglichkeiten der Prävention im Kindergarten werden ebenso vorgestellt wie praktische Hilfen für die häusliche Hausaufgabenunterstützung, Informationen über schulrechtliche Aspekte des Nachteilsausgleichs und Notenschutzes sowie Förderansätze für den Lese- und Rechtschreibunterricht und für die Lernförderung. Jugendliche mit einer LRS erhalten Tipps, wie sie mit den Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben umgehen können, wo es Hilfen gibt und was sie selbst tun können, um ihre Leistungen in diesen Bereichen zu verbessern.

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Leseprobe

|31|5 Welche Gründe und Ursachen für Lese-/Rechtschreibstörungen gibt es?


Wann und warum eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung entsteht, ist nur schwer zu beantworten. Es gibt verschiedene Risikofaktoren, zu denen eine familiäre Häufung, Sprachauffälligkeiten im Vorschulalter und Schwierigkeiten bei der Buchstaben-Laut-Zuordnung zählen.

Seit den ersten Beschreibungen einer Lesestörung durch englische Augenärzte werden verschiedene Ursachen diskutiert. Lange Zeit wurden neben der genetischen Verursachung auch Störungen der Seh- und Hörfunktionen als verursachend angesehen. Die Abbildung 3 fasst schematisch die verschiedenen Störungsebenen zusammen, die im Zusammenhang mit der Verursachung einer LRS diskutiert werden.

Abbildung 3: Modell der Verursachung einer Lese- und Rechtschreibstörung

Veränderungen von Hirnfunktionen. In den letzten 30 Jahren ist, bedingt durch bessere Untersuchungs- und Analysemethoden in den Bereichen Genetik und Bildgebung, deutlich geworden, dass bei Menschen mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung in spezifischen Hirnregionen, die wichtige Funktionen des Lese- und Rechtschreibprozesses steuern, Veränderungen zu beobachten sind. Diese Veränderungen zeigen sich als geringere und z. T. als deutlich |32|verzögerte neuronale Aktivität in unterschiedlichen Gehirnregionen der linken Gehirnhälfte. Für das Wortlesen aktiviert das Gehirn sehr viele Areale, die verschiedene Aufgaben übernehmen. Die Prozesse laufen vermutlich nacheinander ab, sodass zunächst der Teil des Gehirns aktiv ist, der die visuelle Information eines Wortes entschlüsselt. Die Information dieses Hirnareals muss dann an Areale der Sprachverarbeitung weitergeleitet werden, da nur die Verbindung aus der visuellen Information mit der sprachlichen es ermöglicht, Buchstaben mit Lauten und umgekehrt zu verbinden. Bei Untersuchungen der visuellen und der sprachlichen Gehirnareale fand man bei Erwachsenen mit einer LRS im Vergleich zu Erwachsenen ohne eine LRS Unterschiede in der Aktivität.

Man kann sich dies so vorstellen, dass spezifische Nervenzellen, die durch die Worterkennung und Wortverarbeitung aktiviert werden, deutlich länger benötigen, bis sie ihre Signale an die nächsten Nervenzellen senden. Außerdem werden im Vergleich zu den Gehirnfunktionen von Nicht-Betroffenen deutlich weniger Nervenzellen der Wortverarbeitung aktiviert. Zusammengenommen betrachtet könnten die verzögerte und geringere Aktivierung daher ein Grund dafür sein, warum das Lesen manchen Kindern so schwerfällt.

Es findet sich aber auch eine geringere Geschwindigkeit der Informationsweiterleitung zwischen Hirnarealen, insbesondere von Gehirnregionen, die visuelle und sprachliche Informationen verarbeiten, wie z. B. die Verbindung der visuellen Information des Buchstaben a mit der akustischen Information des Lautes/a/. Diese Veränderungen sind zunächst als ursächlich zu betrachten, die Gründe für die veränderten Funktionen sind bis heute kaum verstanden. Einen Beitrag zur Aufklärung kann die genetische Forschung leisten.

Genetische Faktoren. In etwa der Hälfte der Familien mit einem Kind, das eine LRS hat, gibt es weitere erstgradig Verwandte, die unter einer der Formen einer LRS leiden. Diese Beobachtung legt eine genetische Verursachung nahe, jedoch sind bisher nur wenige genetische Veränderungen, die eine LRS bedingen können, identifiziert worden. Zunächst wurden Regionen im gesamten Genom identifiziert, deren genetisches Muster bei Menschen mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung ähnlicher ist im Vergleich zu Menschen ohne Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Diese genetischen Veränderungen sind auf verschiedenen Chromosomen gefunden worden. In diesen chromosomalen Regionen befinden sich Gene, die Funktionen des Nervenwachstums während der frühen Gehirnentwicklung steuern. Daher |33|wird zurzeit diskutiert, ob die LRS eventuell eine Folge einer sogenannten neuronalen Störung während der Gehirnentwicklung ist. Da bei dieser Störung, die im genetischen Programm der Zellen verankerte Wanderbewegung von sich entwickelnden Nervenzellen gestört ist, spricht man auch von einer Migrationsstörung (lat. migrare wandern). Es kommt bei dieser Störung zu einer Verlangsamung der Wanderung oder auch fehlender Wanderung einzelner Zellen, sodass die notwendige Netzwerkbildung von Nervenzellen gestört ist. Dies kann zu einer Ansammlung der Nervenzellen in sogenannten Zellnestern führen, ohne dass die Funktion der Neurone erhalten bleibt. Hierdurch ist die neuronale Vernetzung der Nervenzellen in einzelnen Regionen gestört.

Folgen dieser neuronalen Migrationsstörungen, die man nicht überall, sondern in spezifischen Gehirnregionen gefunden hat, sind Funktionsbeeinträchtigungen in neuronalen Netzen, die beispielsweise die Wahrnehmung und Unterscheidung von Sprachreizen steuern. Ob diese Veränderungen in einem ursächlichen Zusammenhang mit der LRS stehen ist noch unbewiesen.

Die Annahme, dass genetische Faktoren für die Entstehung einer LRS bedeutsam sind, bestätigen auch Zwillingstudien. Durch den Vergleich von eineiigen mit zweieiigen Zwillingen wird geschätzt, wie hoch der genetische Anteil an der Lese- und der Rechtschreibfähigkeit ist. Da die genetische Ähnlichkeit bei eineiigen Zwillingen (EZ) sehr hoch ist, im Gegensatz dazu bei zweieiigen Zwillingen (ZZ) bei ca. nur 50 % liegt, zeigt der Vergleich von EZ mit ZZ, wie hoch der genetische Anteil im Vergleich zu Umweltfaktoren bei der Lese- und Rechtschreibfähigkeit ist. Dieser Vergleich führt zur Schätzung der Erblichkeit, die auch Heritabilität genannt wird. Liegt die Heritabilität bei 100 %, so spielen genetische Faktoren eine entscheidende Rolle, ohne dass die genetischen Faktoren genau bekannt sein müssten. Die Heritabilität liegt bei der Lesefähigkeit bei 60 %, bei der Rechtschreibung bei 70 %, also insgesamt recht hoch.

Umweltfaktoren und Wechselwirkung mit genetischen Faktoren. Umweltfaktoren sind aber auch wichtig, denn bei der Lesefähigkeit machen diese Faktoren immerhin 40 % aus. Diese Umweltfaktoren sind bisher wenig untersucht, es werden Faktoren in der Entwicklungsförderung des Kindes und der schulischen Entwicklung diskutiert. Möglicherweise besteht auch ein Zusammenwirken von genetischen Faktoren und Umweltfaktoren. Bisher zu wenig untersucht und verstanden ist die Wechselwirkung zwischen genetischen |34|Risikofaktoren, veränderten Gehirnfunktionen und Umweltfaktoren, wie z. B. einer nicht förderlichen Lernumgebung einschließlich einer mangelhaften Unterrichtung im Lese- und Rechtschreiberwerb. Untersuchungen zum Zusammenhang von Unterrichtsdidaktik, Ausbildung der Lehrkraft und den individuellen Lernvoraussetzungen eines Kindes zeigen, dass die schulischen Faktoren einen hohen Einfluss auf den Lernfortschritt im Lesen und Rechtschreiben haben, zumindest in den ersten beiden Unterrichtsjahren.

Visuelle Wahrnehmung. Seit der Erstbeschreibung der LRS als kongenitale Wortblindheit werden immer wieder Sehstörungen als Ursache der LRS diskutiert. Es gibt eine Lesestörung, die auf Störungen der Augenmuskulatur zurückgeführt werden kann und durch ein rasches Ermüden beim Lesen, Zunahme der Lesefehler mit der Lesedauer und Kopfschmerzen beim Lesen auffällt. Diese Form der Sehstörung kann durch eine eingehende Untersuchung der Sehfunktionen festgestellt werden. Davon abzugrenzen ist die Annahme, dass die LRS durch eine zentrale visuelle Wahrnehmungsstörung bedingt ist. Hierunter wird verstanden, dass die Augen die Informationen zwar richtig aufnehmen und weiterleiten, dass aber im Gehirn diese Information nicht mehr richtig verarbeitet wird. Studien zeigen, dass in den Gehirnarealen, die bei der Wortverarbeitung aktiviert werden, diese bei Kindern mit einer Lesestörung deutlich verzögert und vor allem geringer aktiviert werden. Ob dies allerdings die Ursache oder die Folge einer Lesestörung ist, bleibt zunächst offen. Wenn man aber die Verarbeitung von visuellem Material, das keinen Bezug zur Schriftsprache hat (keine Buchstaben, keine Wörter) untersucht, dann finden sich keine Hinweise für eine geringere oder verzögerte Aktivierung von Gehirnarealen. Daher werden Therapiemethoden, die an einer Förderung der visuellen Wahrnehmung ohne Bezug zum Wort ansetzen, also rein visuelle Unterscheidungstrainings, kritisch beurteilt und als Therapiemethode nicht empfohlen.

Auditive Wahrnehmung. Auch im Bereich der auditiven Wahrnehmung wird immer wieder diskutiert, ob die LRS eine Folge einer zentralen auditiven Wahrnehmungsstörung ist. Vergleichbar wie bei der zentralen visuellen Wahrnehmungsstörung gibt es keine Studien, die eine zentrale ...

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