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E-Book

Mein Sardinien

AutorHans-Ulrich Treichel
Verlagmareverlag
Erscheinungsjahr2019
ReiheMeine Insel 
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783866483675
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Er ist unerlöst, unerlöst 'wie der Tristanakkord', der junge Doktorand aus Berlin, und er leidet unter einer Italiensehnsucht, wie sie vor ihm höchstens Goethe kannte. Auf dem Rückweg von der Philharmonie, wo er als Türschließer arbeitet, betritt er aus Neugier eine italienische Bar auf der Schöneberger Hauptstraße, und auch wenn er hier nicht den Süden findet, 'nicht Italien, wo die Mandolinen spielten und die Zitronen blühten', so findet er doch immerhin Cristina, eine Südsardin mit undurchdringlichem Blick, die am Aluminiumtresen und unter Neonröhren ihr Geld verdient. Wochen später wagt er eine schüchterne Liebeserklärung, und zu seiner eigenen Überraschung werden die beiden ein Paar. Als Cristina beschließt, nach Sardinien zurückzukehren, in ihren Heimatort Sant'Antioco im Süden der Insel, packt auch er seine Koffer, denn eine Trennung kann er sich nicht vorstellen. Und ist es nicht die Erfüllung eines Traums: künftig in zwei Welten zu leben, in Schöneberg und Sant'Antioco? Und irgendwann vielleicht dem Lärm der Schöneberger Hauptstraße und dem Berliner Novemberhimmel ganz zu entkommen? Mit wenig Gepäck und vielen Hoffnungen machen sich die beiden auf den Weg. Ein Reisebuch, ein Stück Autobiografie, vielleicht ein Roman - in jedem Fall aber eine Liebesgeschichte, die so schön und traurig ist wie die Insel selbst. Im vertrauten Treichel-Ton - heiter, ironisch, melancholisch - erzählt der Autor von seinem Sardinien und davon, wie es war, der Sehnsucht nach dem Süden zu folgen.

Hans-Ulrich Treichel, 1952 in Versmold/Westfalen geboren, ist mehrfach ausgezeichneter Autor von Romanen, Erzählungen, Lyrikbänden und Essays. Nach dem Germanistikstudium an der Freien Universität Berlin promovierte er 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Er war Lektor für deutsche Sprache in Salerno und Pisa und im Anschluss Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin; er habilitierte sich 1993. Seit 1995 ist er Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig.

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Leseprobe

I.


Cristina begegnete ich zuerst in der Schöneberger Hauptstraße. Sie arbeitete keine hundert Meter von dem Haus entfernt, in dem ich in einer geräumigen Altbauwohnung ein Zimmer bewohnte. Ein Wohngemeinschaftszimmer. Die Hauptstraße war ein Teilabschnitt der Bundesstraße 1, der ehemaligen Reichsstraße 1, die entlang eines der ältesten West-Ost-Handelswege führte. Nicht gerade eine idyllische Gegend. Oder, um es deutlicher zu sagen: eine Lärmhölle. Gut, dass es wenigstens die Mauer gab. Sonst wäre der gesamte West-Ost-Verkehr von Aachen bis Königsberg beziehungsweise von Brügge bis Nowgorod an meinem Zimmer vorbeigerauscht. Der unter Mauerbedingungen eingeschränkte Westberliner Verkehr war allerdings noch immer nervtötend genug. Nicht nur die Autos, auch die Busse. Vor allem die Busse. Auf der Hauptstraße fuhr der 48er. Von der Philharmonie nach Zehlendorf und wieder zurück. Und das alle paar Minuten. Unablässig rollte der 48er über die Hauptstraße. Und gab genau vor meinem Fenster noch einmal ordentlich Gas, schließlich lag Schöneberg auf einer Anhöhe, die bezwungen werden musste, bevor es zwei Blocks weiter wieder bergab Richtung Steglitz ging und der Verkehr ausrollen konnte.

Steglitz galt als das ruhigere Viertel. Obwohl die Steglitzer Schloßstraße nur die Verlängerung der Schöneberger Hauptstraße war, welche wiederum in die gleichzeitig zu Schöneberg und zu Tiergarten gehörende Potsdamer Straße überging. Auch so ein Trauerspiel, die Potsdamer Straße. Mit und ohne Mauer. Zu Mauerzeiten brachte man sie vor allem mit Ausländern, Drogen, Prostitution und Hausbesetzern in Verbindung. Und mit alten Menschen. Armen Berliner Rentnern, sofern sie überhaupt Rente bezogen. Und die beim türkischen Gemüsehändler kurz vor Feierabend Gemüse zum halben Preis bekamen. In der Potsdamer Straße wurden arme Berliner Rentner von den Türken durchgefüttert.

Heute wurde dort niemand mehr von niemandem durchgefüttert. Heute strebte alles ohne auch nur anzuhalten direkt zum Potsdamer Platz, zum Sony Center, zum Hyatt Hotel und zur Mercedes-Benz-Niederlassung. Was früher undenkbar gewesen wäre. Früher strebte man allenfalls zur Philharmonie. Am besten mit dem 48er. Wenn der Zehlendorfer Bürger mit seiner Gattin in Zehlendorf Eiche in den 48er stieg und zur Philharmonie fuhr, dann glitt sein Blick gleichmütig über das Elend der Potsdamer Straße hinweg. Das kümmerte ihn überhaupt nicht. Und auch seine Gattin kümmerte das nicht. Die Zehlendorfer Eheleute bereiteten sich innerlich ganz auf die Philharmonie vor. Auf ihren Stammplatz in Block B. Auf die Bekannten, die man in der Pause im Foyer treffen würde. Und auf Karajan natürlich, obwohl sie sich den Karajan nicht alle Tage leisteten. Der war nämlich Preiskategorie A, was sich auch auf die Plätze in Block B auswirkte, und das schmerzte selbst einen wohlhabenden Zehlendorfer Bürger. Es musste ja nicht immer Karajan sein. Gastdirigenten taten es schließlich auch. Gastdirigenten konnten auch dirigieren. Es mussten auch nicht immer die Berliner Philharmoniker sein. Gastorchester konnten auch musizieren. Konrad Lattes Barockorchester beispielsweise. Wenn Konrad Latte sein Barockorchester dirigierte, dann waren die Zehlendorfer dabei. Diese strahlenden Trompeten. Diese Festlichkeit. Und Konrad Lattes Barockorchester spielte oft in der Philharmonie. Andauernd eigentlich. Schlug man den Kulturteil des Tagesspiegels auf, dann erblickte man als Erstes eine Anzeige, in der ein Konzert mit Konrad Lattes Berliner Barockorchester angekündigt wurde. Oder man erblickte eine Besprechung eines Konzerts. Eine wohlwollende Besprechung. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals eine nicht wohlwollende Besprechung von Konrad Lattes Barockorchester gelesen zu haben. Zumindest nicht im Tagesspiegel, der im Übrigen auch an der Potsdamer Straße residierte. Hochkultur an der Potsdamer Straße. Man konnte nur hoffen, dass die Redakteure hinter Lärmschutzscheiben saßen. Und ihren Sauerstoff nicht direkt von der Potsdamer Straße bezogen. Ansonsten hätte man sich die gesamte Tagesspiegel-Redaktion als eine Ansammlung von hörgeschädigten Journalisten mit benebelten Gehirnen vorstellen müssen. Man bedenke nur, was allein der 48er an bläulichen Nebelschwaden ausstieß.

Wir machten uns in der Wohngemeinschaft bei der morgendlichen Tagesspiegel-Lektüre regelmäßig über Konrad Latte lustig. Ich will das hier gar nicht weiter ausführen. Zumal mir unsere pennälerhaften Scherze viele Jahre später nachträglich peinlich wurden, als eine Biografie Konrad Lattes erschien, in der ich lesen konnte, dass Lattes Lebensgeschichte ganz und gar nicht zum Lachen war. Seine Eltern waren in Auschwitz ermordet worden, und er selbst hatte nur dank mutiger Helfer im Berliner Untergrund überlebt. Von der Geschichte Konrad Lattes hatte ich bis dahin keine Ahnung gehabt, obwohl ich mich ansonsten in der Berliner Philharmonie bestens auskannte. Zum einen war ich musikinteressiert und ging des Öfteren in ein Konzert. Kaufte allerdings meistens Karten für die sogenannten Podiumsplätze, wo man auf Bänken ohne Rückenlehne saß, dafür aber dem Dirigenten ins Angesicht sehen konnte. Und zum anderen hatte ich dort längere Zeit als Türschließer gearbeitet, um meine Doktorarbeit zu finanzieren. Ich fuhr damals ganz wie die Zehlendorfer Bürger mit dem 48er in die Philharmonie, um im grauen Jackett und mit Philharmoniekrawatte Abend für Abend die Saaltüren zu schließen, was für einen Musikliebhaber allerdings eine echte Qual war, denn es war den Schließern strengstens verboten, den Saal während des Konzertes zu betreten.

Solange das Konzert nicht begonnen hatte, durften wir uns auch im Saal aufhalten. Doch bevor der erste Ton erklang, mussten wir die Saaltüren von außen schließen und während des ganzen Konzertes bewachen. Die Saaltüren waren schalldicht. Damit kein Lärm von außen in den Saal hereindrang. Aber es drang auch keine Musik von innen heraus. Während der ganzen Zeit als Türschließer hörte ich nie auch nur einen einzigen originalen Philharmonieton. Ich verpasste die bedeutendsten Konzerte der damaligen Zeit. Mahlers Zehnte, Strauss’ Zarathustra, Brahms’ Deutsches Requiem, von Beethoven ganz zu schweigen, alles verpasst, nicht einen Ton hatte ich von alledem gehört, obwohl ich direkt vor der Tür stand. Erst wenn der Beifall begann und das Saallicht sich aufhellte, durfte ich die Tür wieder öffnen. Ich konnte das Geschehen im Saal durch eines der kleinen Sichtfenster beobachten, die in den Türen angebracht waren. Auch die Sichtfenster waren schalldicht. Im Laufe meiner gesamten Dienstzeit wagte ich nur ein einziges Mal, die Tür während eines Konzertes einen Spalt weit zu öffnen. Und zwar während des Tristan-Vorspiels. Aber diesmal dirigierte nicht Karajan, sondern ein Gastdirigent, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere. Vielleicht war es Bernard Haitink gewesen. Es hätte gut Bernard Haitink gewesen sein können. Egal. Ich wollte den Tristanakkord hören. Von wem auch immer er dirigiert wurde. Hier waren alle weltberühmt. Ich hatte mir den Tristanakkord immer wieder auf Schallplatten angehört, und ich konnte ihn auf dem Klavier spielen, was allerdings keine große Kunst war: f-h-dis-gis. Vier Töne. Zwei weiße und zwei schwarze Tasten. Der vom Orchester gespielte Tristanakkord klang freilich ganz anders als auf dem Klavier. Das waren nicht vier Töne, das war eine Welt. Ein ganzer Kosmos war das. Eine Welterschütterung. Und eine Seelenerschütterung, der ich mich nicht entziehen konnte, obwohl ich alles andere als ein Wagnerianer war. Ich war wagnerkritisch, was eine Selbstverständlichkeit war für jemanden, der in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren in einer Schöneberger Wohngemeinschaft wohnte. Wobei meine Mitbewohner kulturell so weit von Wagner entfernt waren, dass sie Wagner noch nicht einmal nicht mochten. Ich dagegen war wagnerkritisch, musste aber feststellen, dass es da so ein paar Wagner-Kompositionen gab, denen gegenüber ich mich gänzlich wehrlos fühlte. Die mich anrührten, wie sie möglicherweise den schlimmsten Wagner-Sentimentalisten anrührten. Und zu diesen Stellen gehörte auch der Tristanakkord beziehungsweise der Anfang von Tristan und Isolde. Und der Liebestod natürlich. Mild und leise. Der Rest war mir dann eher wieder gleichgültig gewesen. Ich hätte damals am liebsten meine Doktorarbeit über den Tristanakkord geschrieben. Ich wäre dem Geheimnis meiner eigenen Rührung gern auf den Grund gegangen. f-h-dis-gis. Was war los mit diesen vier Tönen? Allerdings war ich kein Musikwissenschaftler, sondern Germanist. Schon meine ersten Recherchen über den Tristanakkord in der MGG, wo dem Tristanakkord mehrere Spalten gewidmet waren, hatten ergeben, dass ich ohne musikwissenschaftliche Kenntnisse nicht weit kam. Ich begriff immerhin so viel, dass der Tristanakkord eben doch mehr war als f-h-dis-gis. Ansonsten half mir die Theorie nicht weiter. Weil ich sie nicht verstand. Aber hören konnte ich. Und ich hörte genau das, was mir auch die Musikwissenschaftler bestätigten: dass es sich beim Tristanakkord um etwas handelte, was...

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