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E-Book

Auf der Seidenstraße

Zwei Räder, eine legendäre Route und keine Grenzen

AutorKate Harris
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783492992862
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Vom Bosporus bis in den Himalaja - zwei Frauen auf der Reise ihres Lebens. Schon als Teenager träumte Kate Harris davon, eine Entdeckerin zu werden und als Astronautin zum Mars zu fliegen. Doch während ihres Wissenschaftsstudiums strauchelt sie. Und gemeinsam mit ihrer Freundin Mel bricht sie auf, um die sagenumwobene Seidenstraße mit dem Fahrrad zu erkunden: von Istanbul aus entlang des Schwarzen Meers über den Kaukasus bis nach Tibet und Indien. Dabei taucht sie ein in eine Welt jenseits aller Grenzen, die so ungestüm ist wie sie selbst. Ein brillantes Buch über Sehnsüchte und Forscherdrang, über die unnatürliche politische Zerteilung der Welt und die Wildheit der Natur.

Kate Harris, Jahrgang 1983, ist eine kanadische Autorin und Abenteurerin. Ihre preisgekrönten Reisereportagen erschienen u.a. in The Walrus, Canadian Geographic Travel, Sidetracked und The Georgia Review und werden in den Bänden 'Best American Essays' und 'Best American Travel Writing' geführt. Für ihr Buch 'Auf der Seidenstraße' erhielt sie zuletzt den RBC Taylor Prize für das beste kanadische Werk der literarischen Sachliteratur. Harris studierte Naturwissenschaften am Massachusetts Institute of Technology und an der University of North Carolina sowie Wissenschaftsgeschichte in Oxford. Wenn sie nicht gerade in der Welt unterwegs ist oder für das International Institute for Sustainable Development über Umweltverhandlungen und nachhaltige Entwicklungen berichtet, lebt sie in einer abgelegenen Blockhütte in British Columbia an der Grenze zum Yukon-Territorium und zu Alaska.

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Leseprobe

Das Dach der Welt


Tibetisches Hochland

 

Die Kunst des Entdeckens und Erforschens zu neuem Leben zu erwecken war dann doch nicht ganz so einfach. Als Mel in China unter dem Schlagbaum durchkroch, ließ sie klugerweise genügend Abstand zwischen ihrem Rücken und der Metallstange. In meiner Eile und Panik robbte ich jedoch nicht tief genug darunter durch. Ich bin mir nicht sicher, ob es mein Rucksack oder mein Fahrradhelm war, der zuerst gegen die Stange und dann gegen die Sicherungsketten knallte, aber ich hätte genauso gut einen Gong schlagen können. Hunde bellten, Lichter gingen an, eine Stimme rief laut in die Nacht – doch da waren wir schon weg und rasten in die pechschwarze Finsternis. Wir wurden von ihr verschluckt, konnten nicht schnell genug in die Pedale treten und sahen nichts außer den Sternen über uns. Ich verlor fast die Kontrolle über mein Fahrrad, als ich blindlings in ein Schlagloch fuhr und kurz danach gegen einen Strommast. Beim ersten Hinweis auf Scheinwerfer, die uns verfolgten, war ich bereit, mein Fahrrad stehen und liegen zu lassen und auf einen Berg oder in den Fluss zu fliehen. Doch Minuten später und selbst nach Stunden tauchten keine Verfolger auf.

Ich spürte die Erleichterung zuerst in den Händen, deren Griff am Lenker sich langsam lockerte, und dann in den Beinen, die weich wie Pudding wurden. Eigentlich war die TAR, das Autonome Gebiet Tibet, noch mehr als hundertsechzig Kilometer und mehrere hohe Pässe entfernt, aber Kudi stellte die größte bürokratische Hürde auf dem Weg dorthin dar. Weil der Checkpoint in einem engen Tal direkt neben einem reißenden Fluss lag, nahmen die chinesischen Behörden an, dass die Leute nicht um ihn herumschleichen könnten, was bedeutete, dass Mel und ich auf dieser Seite etwas befreiter atmen konnten: Wer uns sah, würde annehmen, wir hätten die Erlaubnis, hier zu sein. Es sei denn, es handelte sich um Polizei vom Checkpoint, die uns doch verfolgte.

Schließlich erhellte die Morgendämmerung das Land um uns herum und enthüllte Berge, die so rau waren wie abgenagte Fingernägel. So weit mein Blick reichte: zerklüftete Gipfel in allerlei verrückten Formen. Im niedrig stehenden Sonnenlicht wirkte der Fels zuerst rostrot, und als die Sonne höher stieg, verblasste die Farbe zu Umbrabraun und Grau. Ein Schwarm staubgrauer Vögel einer Art, die ich nicht kannte, strich über den Fluss, dessen trübe Fluten in dieser Höhe seinen Ballast abwarf und zu einem klaren Strom wurde, der nicht länger die Farbe und Textur von Schokoladenmilch besaß. Ich fühlte mich schlapp und unbedeutend wie ein Schatten, aber der Tag hatte ja gerade erst angefangen. Vor jeder nächsten Kurve war ich entweder auf einen Polizeikonvoi gefasst oder darauf, einen Blick auf das Tibetische Hochplateau zu erhaschen, oder auf ein wollhaariges Mammut. Gar nichts hätte mich überrascht, denn die Welt schien mir weniger unbekannt als unbegreiflich, und sie waberte um mich herum wie ein halb fertiger Gedanke. Dann wurde mir klar, dass mir vor Durst schwindelig war.

Ich griff nach meinen Wasserflaschen, aber die erste war leer, und ich konnte die zweite nicht finden – wahrscheinlich war sie in dem Chaos am Checkpoint verloren gegangen. Ich sagte Mel, sie solle weiterfahren, während ich anhielt, um meine Flasche in dem Fluss aufzufüllen. Wegen des stetigen Wasserrauschens hörte ich nicht, wie hinter mir ein Auto anhielt. Ich drehte mich um, und da stand es einfach, mit so etwas wie einem Regierungswappen auf der Tür. Als ein molliger Chinese in einer frisch gestärkten marineblauen Uniform ausstieg, wusste ich zum dritten Mal an diesem Tag, dass es vorbei war.

Ohne ein Wort zu sagen, trat der chinesische Polizist gegen meine Fahrradreifen und versuchte, den Rahmen anzuheben. Das schwere Bike rührte sich kaum. Er schüttelte den Kopf, kehrte zum Auto zurück und fummelte im Kofferraum herum. Er suchte bestimmt nach einem Haftbefehl und möglicherweise Handschellen, da war ich mir sicher. Aber stattdessen kam er mit drei knackigen Salatgurken zurück.

»Hallo!«, grunzte er, als er mir das Gemüse gab.

»Oh«, sagte ich völlig perplex. »Danke!«

Ohne ein weiteres Wort stieg er wieder in das Fahrzeug und fuhr davon.

Ich holte Mel ein, die von der Begebenheit nichts mitbekommen hatte, und reichte ihr eine Gurke. Sie wirkte verblüfft, aber ein echter Radfahrer lehnt keinen Snack ab. Wir fuhren weiter und aßen geräuschvoll, während wir in die Pedale traten. So erreichten wir am Mittag den Fuß eines dreitausend Meter hohen Passes, unserer ersten Stufe auf der sauerstoffarmen Treppe der Pässe, die auf und über das Tibetische Hochland klettert, wo die durchschnittliche Höhe fast so hoch ist wie der Mont Blanc. Da uns sowohl die Kraft als auch die Nerven fehlten, den Pass noch an diesem Tag zu bewältigen, suchten wir uns eine Senke, die tief und breit genug war, um dort den Nachmittag über zu rasten. Die ständig drohende Entdeckung durch die chinesische Polizei versuchten wir zu ignorieren. Der Gurken-General hatte seinen Kollegen wahrscheinlich ausgerichtet, dass es keinen Grund zur Eile gebe, weil er davon überzeugt war, dass wir auf so schweren Rädern nicht weit kommen würden.

Aber stattdessen wurden wir an diesem Nachmittag von unseren neuen Freunden entdeckt. Ich hatte Ben im Sommer zuvor in einem Hostel in San Francisco kennengelernt. Nachdem ich damals erfahren hatte, dass er Fahrradmechaniker war, hatte ich ihn eingeladen, mit Mel und mir im kommenden Sommer eine Radtour nach China zu unternehmen, und zu unserer Überraschung hatte er die Einladung angenommen. Florian und Mattias, zwei deutsche Radfahrer, hatten wir in einem Hotel in Kashgar kennengelernt, und bis vor ein paar Tagen, als Mel und ich uns schon früh auf den Weg gemacht und dann ein spontanes Nickerchen im Schatten eingelegt hatten, waren wir als Gruppe unterwegs gewesen. Wir hatten angenommen, die Jungs würden uns einholen, am Straßenrand dösen sehen und dann unsere Wecker sein. Doch stattdessen wachten wir erst auf, als es schon dämmerte, und wussten nicht, ob sie bereits vor uns fuhren oder noch hinter uns waren.

Nach dem Checkpoint erwarteten wir nicht mehr, noch einmal auf sie zu treffen. Und tatsächlich wären sie fast an unserer schlecht einsehbaren Senke vorbeigefahren, aber Ben erspähte eine Locke von Mels rotem Haar zwischen den Felsen. Verwirrt hielt er das rötliche Aufblitzen zunächst für ein Kamel, dann aber stoppte er für einen genaueren Blick und entdeckte uns. Als wir wieder vereint waren, erzählten Mel und ich ihnen von unserer Grenzüberquerung – von dem Lastwagen, den Rufen, unserer blinden und verzweifelten Flucht! Dann hörten wir uns ihre Version an.

»Wir haben den Checkpoint tagsüber und aus der Ferne ausgespäht«, sagte Ben. »Genau wie ihr wollten wir nachts durch, aber dann sahen wir diese aggressiven Wachhunde!«

»Ich mag keine Hunde«, erklärte Mattias mit breitem bayerischen Akzent, der jede seiner Äußerungen tiefgründig klingen ließ.

»Also fuhren wir am helllichten Tag zum Checkpoint«, fuhr Ben fort.

»Und zeigten den Wachen unsere Pässe«, fügte Florian hinzu.

»Und sie winkten uns durch«, beendete Ben die Geschichte grinsend, »ohne auch nur eine Frage zu stellen.«

 

Je höher wir ins Tibetische Hochland radelten, desto besser konnte ich atmen. Ich spürte eine seltsame Leichtigkeit in meinen Beinen, eine Art Hochgefühl. Jede Umdrehung der Pedale brachte mich den Sternen näher, als es mir bisher jemals gelungen war. Obgleich ich sie bei Tag nicht sehen konnte, wenn der Himmel, bis auf ein paar Wolken am späten Vormittag, meist strahlend blau war. Die Schatten der Wolken warfen Tupfen auf die Berghänge und den Boden eines klaren Bachs, sodass sich der Aufstieg zum Pass anfühlte wie das Schwimmen an die Wasseroberfläche nach dem Tauchen, wie das Durchstoßen einer Grenze oder ein Aggregatswechsel. Von der Erde zum Himmel, von China nach Tibet.

Meine Reifen suchten Halt auf den lockeren Steinchen der Schotterpiste der Nationalstraße 219, der einzigen Straße, die ins und durch das westliche Tibet führt. Nach nur zwei Serpentinen waren wir hoch oben über unserem letzten Lager, und ich sah weiter unten Ben und die Deutschen herumschlendern und wie gewöhnlich trödeln. Mel und ich zogen es vor, früh aufzustehen und loszuradeln, wenn die Landschaft im schrägen Morgenlicht erwachte und es schien, als hätten wir genug Zeit, um bis zum Einbruch der Dunkelheit in Lhasa oder auf dem Mond zu landen. Florian, Mattias und Ben schliefen lieber länger, kochten zum Frühstück riesige Töpfe mit süßem Milchreis und begaben sich dann gegen Mittag auf die Straße. Normalerweise begegneten wir uns am späten Nachmittag wieder, entweder weil sie uns einholten oder weil sie unser Lager fanden.

Mel und ich fuhren nebeneinander den Pass hinauf, wir sprachen kaum ein Wort miteinander, denn der anstrengende Aufstieg schickte uns in einsame Parallelwelten. Ich könnte gar nicht genau sagen, wohin meine Gedanken abschweifen, wenn ich stundenlang so strampele, außer in die Verzückung des Nichts. Wobei »das Nichts« in diesem Fall auch einen geradezu wütenden Rausch von Pedaltritten auf einem beladenen Fahrrad entlang der – beschönigt ausgedrückt – Landstraße durch den Himalaja beinhaltete. Aber im Zentrum dieser einzigartigen Aufgabe von fast tantrischer Einfachheit – atmen, treten, atmen – nahm ich alles auf einmal wahr: den Staub, der sich auf meine Haut legte, den Schmerz und das abwechselnde Anspannen und Loslassen meiner Quadrizepse, den Fluss, der weit unten wie eine Arterie aus Licht glitzerte, eine glänzende Silberader und nicht mehr der schlammige Strom,...

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