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E-Book

Wer wagt, gewinnt?

Wie Sie die Risikokompetenz von Kindern und Jugendlichen fördern können

AutorLaura Martignon, Ulrich Hoffrage
VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783456757261
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Risikokompetenz ist eine wichtige Grundlage von erfolgreicher Entscheidungsfindung. Kinder und Jugendliche sollten früh lernen, Risiken einzuschätzen und zu vergleichen. Doch wie nehmen sie Risiken wahr? Und mit welchen Instrumenten können Eltern und Lehrer die Risikokompetenz bei Kindern und Jugendlichen fördern? Laura Martignon und Ulrich Hoffrage erörtern anhand konkreter Entscheidungssituationen, bei denen es beispielsweise gilt, Gewinn und Verlust von Ressourcen einzuschätzen, psychologische Aspekte der Risikowahrnehmung bei Kindern. Darauf aufbauend stellen die Autoren erprobte didaktische Ansätze sowie praktische und einfache Instrumente vor, die sich zur Förderung von Risikokompetenz als nützlich erwiesen haben und mit denen Eltern und Lehrpersonen das Risikoverständnis ihrer Kinder und Schüler verbessern können. Dazu wählen sie bewusst einen spielerischen Zugang, der gewährleistet, dass die Leserschaft auf praxiserprobte 'Werkzeuge' zurückgreifen kann - wie zum Bespiel auf bekannte Brett- und Kartenspiele. Das Verständnis von Risiko sowie Kompetenzen im Umgang damit können bereits ab dem 9. Lebensjahr gefördert werden. Dies hilft Kindern und Jugendlichen, sich bei Risikoabwägungen von Vorurteilen und Täuschungen freizuhalten. In diesem Buch stellen Laura Martignon und Ulrich Hoffrage den theoretischen Hintergrund und die praktischen Hilfsmittel für eine erfolgreiche Förderung der Risikokompetenz zur Verfügung.

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Leseprobe

Einführung


Wage ich es, mit dem Skateboard den Hang hinunterzuflitzen? Riskiere ich es, noch schnell in die S-Bahn zu springen, obwohl die Zeit nicht mehr ausreichte, eine Fahrkarte zu lösen? Soll ich der Klasse entgegentreten, wenn sie einen armen Mitschüler mobbt?

In jeder dieser drei Situationen winkt ein Gewinn. Auf dem Skateboard können sich Kinder und Jugendliche, gleich Ikarus, den Traum vom Fliegen erfüllen und können – knapp oberhalb der Asphaltstraße – Gegenwind, Geschwindigkeit und das Gefühl der Freiheit genießen. Durch das Schwarzfahren gewinnt man Zeit, weil man nicht auf die nächste Bahn warten muss, und spart sich obendrein auch noch das Geld für die Fahrkarte. Und einem Schwachen und Bedürftigen beizustehen, hilft nicht nur diesem, sondern es stärkt, ganz nebenbei, auch den, der die Kraft zu diesem Widerstand gegen den Mob aufbringt – gerade so, wie das Stemmen von Gewichten im Fitnesscenter dem Muskelaufbau dient.

Aber in jeder dieser Situationen steht auch etwas auf dem Spiel. Beim Skateboard kann man stürzen und sich verletzen, beim Schwarzfahren kann man erwischt werden, und durch Unterstützung des Gemobbten setzt man sich der Gefahr aus, die Zugehörigkeit zur Gruppe zu verlieren. Kinder und Jugendliche müssen täglich Entscheidungen treffen, bei denen nicht nur ein Gewinn winkt, sondern die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auch zu einem Verlust von etwas führen können, das sie schätzen und lieben. Etwas, das man ungerne verlieren möchte, bezeichnen wir als Ressource. Das kann materieller Besitz sein, aber wir möchten auch Immaterielles darunter fassen, wie die eigene Gesundheit, die eigene Ehre, die Anerkennung seitens der anderen, die Zeit, die uns selber zur Verfügung steht, oder die Zeit, die unsere Mitmenschen uns gönnen.

Manchmal hat man Glück im Leben und manchmal Pech. Da kann man oft nichts machen. Doch in der Regel widerfährt einem Glück oder Pech nicht einfach so, sondern in einer bestimmten Situation, und die wiederum hat meist eine Vorgeschichte. Man kann es als Pech bezeichnen, dass das Auto gerade im falschen Moment aus der Querstraße kam. Aber man kann nicht sagen, dass es Pech war, auf dem Skateboard – und womöglich auch noch ohne Helm – den Abhang hinunterzufahren. Das war eine eigene Entscheidung, und die war einfach nur leichtsinnig. In solchen Situationen greift die Frage unseres Titels: Wer wagt, gewinnt? Es ist wohl nicht von ungefähr, dass das Wort „wagen“ mit „Waage“ und mit „wägen“ zusammenhängt. Bei vielen Entscheidungen gilt es, die Vorteile und die Nachteile, die Chancen und die Gefahren gegeneinander abzuwägen.

Können wir das – wir, die Erwachsenen? Wie ist es um unsere Risikokompetenz bestellt? Wann, wie und wo haben wir den Umgang mit Risiken in einer Welt voller Unsicherheit gelernt? Auch wenn wir heute in einem Teil der Welt leben, in dem es womöglich weniger Gefahren für Leib und Leben gibt als früher, so hat die Komplexität doch derart zugenommen, dass wir oft nicht wissen, was nun das richtige, das beste oder zumindest ein vertretbares Vorgehen wäre. Öfter, als uns lieb ist, müssen wir Entscheidungen treffen, ohne auch nur annähernd alle Fakten oder Konsequenzen zu kennen. Hinzu kommt, dass die Konsequenzen vieler unserer Entscheidungen nicht nur uns selber, sondern auch andere betreffen. Das ist bei vielen beruflichen Entscheidungen der Fall, aber es gilt auch für uns als Eltern. Wie soll ich mein Kind ernähren, was soll ich ihm erlauben und verbieten, und wann soll ich ihm ein Mobiltelefon schenken? Soll es ein Smartphone sein oder gerade eben zum Telefonieren ausreichen? Was sind jeweils die Vor- und Nachteile?

Aber ebenso wichtig wie die Entscheidungen, die wir für unsere Kinder treffen, ist – zumindest ab einem bestimmten Lebensalter und auf lange Sicht – wohl die Frage, wie wir genau diese Kinder und Jugendlichen darauf vorbereiten, selber unter Unsicherheit und in riskanten Situationen zu entscheiden. Mit dieser Unterscheidung können wir nun auch die beiden wichtigsten Zielgruppen dieses Buches benennen. Es richtet sich zum einen an Eltern – ja, eigentlich an alle Zeitgenossen, die mehr darüber erfahren wollen, wie sie für sich selber, für ihre Kinder, aber auch zusammen mit diesen Kindern entscheiden sollen, wenn etwas auf dem Spiel steht. Zum anderen richtet es sich an Lehrer und Lehramtskandidaten1, denen es ein Anliegen ist, bei den ihnen anvertrauten Schülern Risikokompetenz aufzubauen. Das kann eigentlich in jedem Fach geschehen, denn der Aufbau einer Kompetenz ist mehr als nur die Vermittlung eines fachspezifischen Wissens. Zum Beispiel kann die realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Grenzen im Sportunterricht erübt werden, aber nicht nur dort, und vom Umgang mit Lampenfieber können sicher die Musiklehrer ein Lied singen, aber nicht nur diese. Insbesondere richten wir uns mit diesem Buch auch an solche Lehrer, die das Thema Risiko in irgendeiner Form explizit im Unterricht behandeln könnten. In der Grundstufe sind das in erster Linie die Klassenlehrer und in der Sekundarstufe die Lehrer der Fächerverbunde, bei denen Mathematik, Biologie und Geografie zusammengefasst werden.

Wie soll man Kindern und Jugendlichen Risikokompetenz vermitteln und wie machen wir dies im vorliegenden Buch? Nun, anders als Daidalos. Der war zwar ein genialer Erfinder, aber als Didaktiker hat er kläglich versagt. Nachdem er für sich und seinen Sohn Ikarus Flügel gebaut hatte, um von der Insel Kreta fliehen zu können, belehrte er ihn, dass er weder zu hoch noch zu niedrig fliegen dürfe, denn sonst würde entweder die Sonne das Wachs schmelzen, mit dem die Flügel festgeklebt waren, oder die Federn würden sich mit Wasser vollsaugen. Dann flog er voraus. Zunächst zwar voller Sorgen, aber nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Knabe seinen Anweisungen folgte, beruhigte er sich bald. So bemerkte er gar nicht, dass Ikarus durch den sicheren Flug offensichtlich leichtsinnig geworden war, die Mahnung des Vaters vergessen hatte und sich immer weiter zur Sonne emporschwang. Als Daidalos sich dann doch endlich wieder einmal umdrehte, war es schon zu spät und er konnte nur noch mit ansehen, wie sein Sohn ins Meer stürzte.

Anders als Daidalos werden wir den Leser nicht einfach nur einmal belehren und dann alleine lassen. Vielmehr werden wir ihn auf einem Weg begleiten und dabei eine bunte Mischung von Geschichten, Konzepten, Methoden, Aufgaben, Werkzeugen, Beispielen und empirischen Studien präsentieren.

Im ersten Kapitel des ersten Teils beginnen wir mit den Anfängen der Auseinandersetzung mit dem Thema Risiko. Zum einen fragen wir, wie sich im Abendland das Konzept des Risikos über die letzten Jahrhunderte entwickelt hat, und zum anderen lassen wir Kinder zu Wort kommen, die auf einer Kinderuniversität über Glück und Pech erzählt haben. Sowohl in der Menschheitsgeschichte als auch bei den Kindern werden wir Abstufungen und Fortschritte feststellen können. Ein eher intuitives Erfassen kann durch klare Konzepte abgelöst werden. Den souveränen Umgang mit diesen Konzepten kann man als Kompetenz bezeichnen. Dies führt uns, noch in Kapitel 1, zu unserem Modell der vier Stufen der Risikokompetenz. Die Stufen lauten:

  • Unsicherheiten und Risiken erkennen (Kompetenzstufe 1)
  • Analysieren und Modellieren (Kompetenzstufe 2)
  • Abwägen und Vergleichen (Kompetenzstufe 3)
  • Entscheiden und Handeln (Kompetenzstufe 4)

In den folgenden vier Kapiteln (2, 3, 4, 5) werden wir diese vier Stufen dann jeweils einzeln besprechen. Ganz ohne Mathematik wird dies nicht gehen, denn wenn man versucht, Risiken zu quantifizieren, wird man sehr schnell auf Statistiken und Wahrscheinlichkeiten stoßen. Aber wir werden die Mathematik auf ein Minimum reduzieren und obendrein auch noch zeigen, wie man bestimmte Dinge viel einfacher darstellen kann als anderweitig oft üblich. Dabei kann, darf und soll der Leser auch selber tätig werden. Diese vier Kapitel enthalten viele Aufgaben, Werkzeuge und Beispiele, die – insbesondere in Kapitel 3 – durch eine Reihe von Apps unterstützt werden. Mit ihrer Hilfe werden verschiedene Sachverhalte visualisiert, bei denen die Parameter mit Schiebereglern dynamisch verändert werden können. Diese Visualisierung von Situationen geschieht anhand verständlicher und auch erheiternder Bilder. Zum Einstieg möge sich der Leser gleich einmal mit der Webseite „Wie lange wirst du leben“ (http://flowingdata.com/2015/09/23/years-you-have-left-to-live-probably/) beschäftigen. Unser Buch enthält also interaktive Teile und Mitmachen ist somit angesagt. Wir glauben, dass diese dynamischen Visualisierungen Eltern, Lehrern und Schülern helfen können, sich schneller mit der Materie vertraut zu machen.

Unser Anliegen ist es, die Risikokompetenz schon im Kindesalter spielerisch zu fördern. Kapitel 6 beschreibt einige „Spielplätze“ des Risikos. Dort werden wir die vier Stufen der Risikokompetenz noch einmal anhand von klassischen Kinderspielen rekapitulieren, z.B. anhand des uralten Gänsespiels, bei dem es darum geht, wer als Erster seinen Stein ins Ziel bringt, oder anhand des immer noch sehr beliebten Mensch ärgere dich nicht. In diesen Spielen begegnen Kinder verschiedenen Gefahren in einer sehr elementaren Form. Unter Anleitung entdecken sie, wie sie ihre Risiken vermindern und damit ihre Gewinnchancen erhöhen können. Risiken erkennen, analysieren, modellieren, abwägen, vergleichen und entscheiden wird erlebbar und spielerisch erlernt. Lustig soll es werden, Freude bereiten und jedes Kind soll es...

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