WENN BEIM FRÜHSTÜCK DAS GLAS UMFÄLLT …
Aber wie kann das sein? Wie kann es sein, dass vernünftige Erwachsene, die in Meetings oder am Arbeitsplatz endlose Geduld mit Kunden und Kollegen haben, von ihren Kindern (oder auch Partnern) innerhalb von wenigen Sekunden von 0 auf 180 gebracht werden? Wie schafft es ein laufender Meter von drei Jahren, einen erwachsenen Homo sapiens mit nur zwei frechen Antworten vom entspannten Einkaufsmodus in den gestressten Gefahrenmodus umzuschalten? Und warum können wir uns oft so wenig dagegen wehren? Wer kennt es nicht, dass wir in der Wut oder im Stress Dinge sagen oder tun, die uns später leidtun, die wir sonst nie sagen würden, die uns manchmal sogar peinlich sind, wenn andere mitgehört haben.
Und nicht zuletzt müssen wir uns ja eingestehen, dass diese Methode alles andere als effektiv ist. Müssen wir uns doch das eine oder andere Mal hinterher heimlich fragen, ob diese Standpauke
» wirklich NOTWENDIG war,
» unbedingt SO LAUT sein musste, dass es jeder mitbekommt,
» beim Kind etwas BEWIRKT hat, außer es zum Weinen zu bringen.
Das Unglaubliche: Am nächsten Morgen kann es sein, dass wir in der gleichen Situation völlig entspannt reagieren. Nur Hirnforscher können uns erklären, woran das liegt.
Eine Reise ins Gehirn
Lassen Sie uns eine Reise ins menschliche Gehirn unternehmen und beginnen wir dazu mit einer ruhigen, friedlichen Situation: Wir sitzen am Frühstückstisch, es ist Sonntagmorgen, alle sind ausgeschlafen und entspannt. Ein Kind sitzt mit am Tisch und schmiert sich ein Frühstücksbrot. Es greift nach der Schokocreme. Da bringt es aus Versehen mit der Hand das vor ihm stehende Glas zum Umkippen. Unsere Augen nehmen die Bewegung wahr und sehen das Glas fallen. Bevor wir jetzt reagieren, muss unser Kopf einen sehr komplexen Prozess bewältigen. Die Augen schicken die Information über die Bewegungen am Tisch erst an das sensorische System im hinteren Teil des Gehirns. Dieses verarbeitet die Bilder und schickt sie weiter an unseren hauptsächlichen Denkapparat, den »präfrontalen Cortex«. Nennen wir ihn hier der Einfachheit halber unseren »Verstand«. Er ist zuständig für die ENTSCHEIDUNG, was wir jetzt tun. Das sensorische System »fragt« also erst mal nach: »Ich habe hier Bewegungsbilder von einem fallenden Glas. Wie bewerten wir sie? Wie müssen wir reagieren?«
Der Verstand analysiert die Bilder und stellt fest, dass das Glas noch leer war, dass nichts kaputtgegangen ist und das Kind sich nicht wehgetan hat. Es bewertet demnach die Situation als »nicht gefährlich«. Diese BEWERTUNG schickt es weiter an verschiedene Schaltstellen im Gehirn, ebenso an das motorische System. Jetzt können wir entspannt einen Arm nach vorne strecken, das Glas aufstellen und vielleicht sagen: »Du hast Hunger, was? Sei bitte vorsichtig!« Dies ist der normale Informationsfluss im Gehirn. Wir sehen etwas, bewerten es und reagieren dann. Der Clou an der Sache ist die Analyse und Bewertung.
Wir reagieren im normalen Alltag nicht instinktiv oder im Affekt, sondern nach einem blitzschnell ablaufenden Denkvorgang, der uns sagt, was jetzt eine kluge Handlung wäre.
Über chaotische Kollegen und fallende Äste
Der Vorteil dieses Systems liegt auf der Hand: Unser sehr starker, sehr kluger Verstand entscheidet immer mit. In jeder Lebenslage, egal ob zu Hause am sonntäglichen Frühstückstisch oder wochentags am Arbeitsplatz. Und selbst wenn wir den Impuls verspüren, unserem Kollegen endlich mal ordentlich die Meinung zu sagen, können wir diesen Impuls unterdrücken. Denn wir wissen, dass er auf freundliche Hinweise viel besser reagiert. Wir sagen dann vielleicht einem Freund: »Ich hätte große Lust, diesem Chaoten mal so richtig die Meinung zu geigen!« – aber wir tun es nicht. Stattdessen warten wir auf einen günstigen Moment, um in Ruhe zu besprechen, dass wir zum Beispiel Terminankündigungen etwas früher brauchen, um uns darauf einzustellen.
Leider hat dieses System auch einen Nachteil: Es ist relativ langsam. Wenn wir beim Waldspaziergang über uns einen Ast abbrechen hören, haben wir schlicht nicht die ZEIT, die Information des sensorischen Systems (Knacken von Holz über uns) zu bewerten und zu analysieren: Ist es gefährlich? Wo ist der Ast? Wie dick ist er? Lohnt sich der Aufwand, zur Seite zu springen? Wer das in den letzten Jahrtausenden gemacht hat, hat sicher nicht lange überlebt. Es war KLÜGER, ohne nachzudenken schnell zur Seite zu springen.
Deshalb nimmt unser Gehirn im Gefahrenfall eine ursprünglich sinnvolle, heute aber fatale Abkürzung. Wenn wir etwas Gefährliches hören oder sehen, umgeht das Gehirn den präfrontalen Cortex. Es würde einfach zu lange dauern, den Umweg über den Verstand zu gehen. Daher sendet das sensorische System seine Nachrichten lieber sofort an das motorische System – wir reagieren direkt und springen zur Seite. Diese Reaktion nennt man die Kampf-oder-Flucht-Reaktion.
Mutter Natur hat es nur gut gemeint! Das Problem ist: Unter Stress handeln wir leider »ohne Sinn und Verstand«, wie der Volksmund völlig richtig sagt. Denn der Verstand ist gar nicht mit dabei! Es ist etwas ganz anderes, das uns plötzlich steuert.
Wenn der Mandelkern am Steuer sitzt
Aber wenn wir in Stress geraten und der Verstand nicht mehr mitredet – wer sitzt denn dann am Steuer?
Die Stressreaktion geht hauptsächlich von einem Gehirnareal aus, das Mandelkern (im Fachjargon: Amygdala) genannt wird. Dieses Areal »feuert«, sobald das sensorische System eine Gefahr meldet. Der Mandelkern arbeitet dann ganz pflichtgemäß und völlig UNABHÄNGIG vom Verstand eine Reihe von sehr sinnvollen Aufgaben ab:
» Er aktiviert das »sympathische Nervensystem«, also unser Stress- und Notfallsystem.
» Er beschleunigt unseren Herzschlag – das Herz »rast«, damit die Muskeln genug Sauerstoff zum Wegrennen oder Kämpfen haben.
» Er bewirkt, dass unsere Atmung flacher und schneller wird, so als würden wir einen Sprint laufen.
» Er erhöht den Blutdruck, damit Sauerstoff und im Verletzungsfall Blutgerinnungsfaktoren gleich an Ort und Stelle sind.
» Er aktiviert unsere Nebennierenrinde, damit sie uns mit körpereigenen Hormonen (Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol) wach macht, auch wenn wir gerade noch verträumt spazieren gegangen sind.
» Er drosselt die Tätigkeit von Immunsystem und Verdauung, damit diese beiden anstrengenden Aufgaben dem Körper jetzt in der Notsituation keine Energie entziehen.
» Er stoppt den Zwischenspeicher von Erinnerungen, den Hippocampus – daher wissen wir oft nach einem Streit nicht mehr, worum es eigentlich ging.
» Er reduziert unsere Fähigkeit für Mitgefühl: Wir wollen schließlich überleben und dafür dem Raubtier den Knüppel über den Kopf ziehen und uns nicht erst mal fragen, ob ihm das vielleicht wehtut oder es gerade ein paar süße Junge hat.
» Er drosselt die Produktion von Glückshormonen. Schließlich sollen wir jetzt kämpfen oder fliehen und nicht selig in den Mond schauen.
Der Mandelkern ist verflixt SCHNELL und reagiert in Bruchteilen von Sekunden, sobald ein Notfallsignal im Gehirn eingegangen ist. Der Hormonspiegel ist ebenfalls sofort da, wir fühlen »das Adrenalin einschießen«. Genauso schnell ist die Reaktion aber auch wieder vorbei: Der Mandelkern hört nach etwa ZEHN SEKUNDEN wieder auf zu feuern, wenn kein weiterer Stressreiz kommt, und der Hormonspiegel braucht etwa zehn Minuten, um sich wieder abzubauen. Wenn wir zur Seite gesprungen sind und die Gefahr damit gebannt ist, ist das Gehirn nach wenigen Sekunden wieder ruhig und nach zehn Minuten sind wir auch körperlich wieder im »NORMALMODUS«.
Wir kennen das: Wir sehen im Flur einen Schatten im Augenwinkel, wir erschrecken kurz, aber dann ist es nur ein Kind, das nochmals zur Toilette will. Wir entspannen uns sofort wieder und küssen unser Kind zur Nacht. Wenn wir jedoch im Dauerstress sind, kann es sein, dass wir das Kind anschnauzen. Und dafür gibt es ganz handfeste Gründe in unserer Gehirnarchitektur.
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