Sie sind hier
E-Book

Lion Feuchtwanger

AutorReinhold Jaretzky
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644406063
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Lion Feuchtwanger (1884 - 1958) ist der unangefochtene Meister des modernen historischen Romans, mit 'Jud Süß' schrieb er einen Klassiker der Weltliteratur. Der in München geborene, aus einer deutsch-jüdischen Familie stammende Schriftsteller musste 1933 Deutschland verlassen und fand in den USA Zuflucht und ein neues Publikum. Der solide Erzähler, von Bertolt Brecht als einer seiner 'wenigen Lehrmeister' bewundert, schuf mit seinen Romanen über Josephus Flavius, Francisco Goya, Jean-Jacques Rousseau und Benjamin Franklin ein kulturgeschichtliches Panoptikum, dessen historischer Scharfsinn und literarischer Reiz bis heute anhält.

Reinhold Jaretzky, geb. 1952, Dr. phil., studierte Germanistik und Sozialwissenschaften in Marburg und Hamburg. Von 1985 bis 1990 DAAD-Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Rom «La Sapienza». Buchveröffentlichungen u. a.: Bertolt Brecht. Der Jasager und der Neinsager, Frankfurt a. M. 1991; «Interimsästhetik». Franz Mehrings früher Versuch einer sozialgeschichtlichen Literaturbetrachtung, Frankfurt a. M. 1991. Für «rowohlts monographien» schrieb er den Band über Bertolt Brecht (rm 50692, 2006). Als Journalist arbeitet er seit 1990 für die TV-Kulturmagazine «aspekte», «titel, thesen, temperamente» und «Kulturzeit». Er ist Autor zahlreicher Dokumentarfilme, u. a. über Friedrich Hölderlin, Friedrich Nietzsche, Kurt Masur, Richard Strauss, Umberto Eco, Alexander Kluge.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Bohemien in Schwabing


Das Klima ist vergleichsweise liberal, Schriftsteller wie Heinrich Mann, Wedekind, Mühsam haben sich hier niedergelassen. Und es gibt die Schwabinger Boheme, die das künstlerische Leben der Stadt bestimmt. Sie bietet den Söhnen des Bürgertums Fluchtmöglichkeiten aus der Welt der väterlichen Wohlanständigkeit. Sie ist modern und antibürgerlich, sie setzt sich hochmütig über moralische Prüderien hinweg: In der Weltanschauung, in der Literatur, auf der Bühne jener Jahre waren alle Sexualfragen überbetont. Alle Geschehnisse der Welt wurden auf die Frau bezogen, in einem sehr feindseligen Sinn etwa von Strindberg, pathetisch und doktrinär von Wedekind, leicht sentimental von den Wienern, von Schnitzler und vom jüngeren Hofmannsthal, die es geradezu aussprachen: Liebe, Komödie und Tod seien Sinn und Inhalt des Lebens. Feuchtwanger findet schnell Zugang zur ästhetischen Lebensstimmung dieser Zeit. Er liest die Dramen Wedekinds, Oscar Wildes «Salome», Heinrich Manns «Herzogin von Assy» («Die Göttinnen»). In der Musik herrschte Richard Strauss, auf der Szene triumphierte bunt, sinnlich und sehr gekonnt der Darstellungsstil Max Reinhardts. Und allgemein anerkannt war als künstlerisches Grundprinzip, daß es nicht auf das Was, sondern selbstverständlich nur auf das Wie der Darstellung ankomme.

Es ist nicht nur die Kunst selbst, die ihn anzieht, es ist ebenso die Aura eines aus bürgerlichen Zwängen freigesetzten Künstlerdaseins, die Schwabinger Lebenskultur mit ihrer Unbeschwertheit, ihrem spöttischen Witz, ihrer Arroganz. Feuchtwanger lebt sich in diese Kultur hinein, er verkehrt mit Schauspielern, Regisseuren und Literaten. In jenen Jahren, sehr früh, lernte ich einige Schriftsteller kennen, die ich überaus hoch achtete, Wedekind vor allem und Heinrich Mann, und ich kam ihnen nahe. Vieles dessen, was sie lebten und schrieben, leuchtete mir ein, aber es war auch ersprießlich, mit ihnen zu streiten. Er schreibt literarhistorische Abhandlungen vornehmlich für das gebildete und liberale Publikum der «Vossischen» und der «Frankfurter Zeitung».

Feuchtwanger führt das Leben eines Bohemiens, jedoch nicht im ursprünglichen Sinne einer verächtlichen Abgrenzung vom offiziellen Kunstbetrieb, im Gegenteil: Er teilt nicht die Skepsis gegenüber dem literarischen Markt, lediglich empfängt ihn die literarische Öffentlichkeit noch nicht als Schriftsteller, wiewohl er sich darum bemüht. Er versucht es mit Prosa und Dramen. Ich machte viele literarische Experimente und suchte die mir gemäße Form zu finden. Ich schwankte hin und her zwischen realistischer Darstellung der Gegenwart und romantisch übersteigerter Schilderung der Vergangenheit. Die sprachliche Meisterschaft Hofmannsthals, Stefan Georges, Rilkes beeindruckte mich, auf der anderen Seite die realistische Psychologie Zolas, Schnitzlers und Ibsens. Einige seiner Stücke werden aufgeführt, sie fallen allerdings mit Recht durch. Zuerst ist er jedoch Theaterkritiker. Er gewinnt schnell einen Namen, er ist verwickelt in öffentlich ausgetragene Intrigen. Und es zieht ihn hin zu risikoreichen Unternehmungen. Er steht dem literarischen Verein «Phöbus» vor. Unter seinem Einfluss entscheidet man sich für die Stücke umstrittener Autoren. Wedekind, Strindberg, auch Hauptmanns «Pippa» gelangen hier zur Uraufführung. Er liebt provozierende, moderne Entscheidungen: Die alteingesessenen Münchner Schriftsteller und Rezensenten erklärten meine Tätigkeit für die Frechheit eines Jungen, der noch nicht trocken hinter den Ohren sei. Ich gewann manche Freunde und viele Feinde.

Ein anderes Unternehmen ist die Herausgabe einer Halbmonatsschrift mit dem Namen «Spiegel», überaus artistisch und recht geschmäcklerisch. Die erste Nummer erscheint 1908, und zu ihren Mitarbeitern gehören so bedeutende Literaten wie Max Halbe, Thomas Mann, Hermann Bahr, Jakob Wassermann. Die «Blätter für Literatur, Musik und Bühne», so der Untertitel, streben eine Vereinigung von diskursiver und intuitiver Kunstbetrachtung an, es sollen zwei Lichtquellen sich einen, die Strahlen wissenschaftlich-forschender, rein verstandesmäßiger Kritik und die Strahlen künstlerisch-impressionistischen, intuitiven Erkennens. Zwar wird das Blatt noch im selben Jahr eingestellt, doch findet Feuchtwangers Tätigkeitsdrang schnell andere Aufgaben. Siegfried Jacobsohns «Schaubühne» verpflichtet ihn als ihren Münchner Bühnenkritiker. Er unterstützt das Theater Max Reinhardts, er porträtiert Schauspieler und liefert scharf zersetzende Angriffe gegen die Kultstätten reaktionärer Heimatkunst wie die Oberammergauer Festspiele. Er ist streitbar und unnachsichtig. Ich schrieb … ziemlich viele Rezensionen in jenen Jahren. In einem reichlich brillanten, fechterischen Stil, ziemlich bösartig. Ich habe manchem Manne wehgetan damals; denn ich wußte viel, ich war in den Ästhetiken mancher Epochen gut beschlagen, ich konnte, wenn ich wollte, recht scharf treffen.

Er ist der Ästhetik seiner Zeit verpflichtet. Die ästhetisierende Lebensbetrachtung des Fin de Siècle hat auf den literarisch interessierten Bürgersohn, der um seine materielle Existenz wenig fürchten muss, nachhaltig gewirkt. Ihn interessiert nur das Wie der Kunst und: Ob jemand faulenden Käse schildert oder die schöne Helena, gilt gleich, wenn seine Schilderung nur Kunst ist. Im Übrigen möchte der später engagierte Literat die Kunst weitab von aller Politik wissen. Ein programmatisches Bekenntnis seiner literarästhetischen Überzeugung legt er 1908 in dem Aufsatz Zur Psychologie der Bühnenreform ab. Er teilt dort die Literatur des 19. Jahrhunderts recht schematisch in zwei Richtungen: in eine moderne kritizistische und in eine harmonisierend-idealistische, der seine ganze Abneigung gilt: sie liebt das Einfache, in sich Geschlossene, Gemüt- und Sinnvolle, das «Gesunde», und sie haßt das Zwiespältige, das Komplizierte, das «Kranke». Sie spricht gern und voll Überzeugung von höherer Einheit, von Totalität, Simplizität. Gefühl ist ihr alles. Sie sinniert und spintisiert gern: aber mit Kritik will sie sich nicht abgeben. Sie spricht häufiger von Herzen als von Hirn und immer mit Überzeugtheit. Sie liebt das Holzschnittartige, Dürerhafte, das Süße und das Derbe, das Herzhaftige und das Sinnige. Sie liebt große erhebende Symbole, die mehr zum Gemüt als zum Verstand sprechen. Sie liebt das Gutbürgerliche, den Sonntag, den Bratenrock, das Handwerk, das Feierliche, das Gravitätische, das Stille, das Ernste. Sie liebt alte ehrbare Trinkstuben, sonnige, versonnene Frühlingsmorgen, ehrenwerte Jünglinge und tugendhafte Jungfrauen, erfreuliche knusprige Gänsebraten, dann Märchen und Schnurren, das Vaterland, altnordische Mythen, die Natur – breite, langsame Flüsse vor allem und Mittelgebirg –, die Kinder und die lautere Wahrheit. Die Welt, die Schiller’s «Glocke» und seinen «Spaziergang» umspannt, ist ihre Welt, und was darüber hinausgeht, möchte sie am liebsten leugnen. Sowenig er diese idealistische Traditionslinie schätzt, so sehr bekennt er sich zu einer kritizistischen und psychologisierenden Gegenrichtung. Diese andere Richtung liebt die Weltstadt, das rege, tosende Leben, das Moderne und Modernste. Den Komfort, die Verweichlichung, die tausenderlei Raffinements entwickelter Kultur. Das Nachtleben, die Eleganz, müde, intellektuelle Krawatten und erklügelte Geschlechtskitzel. Sie hat keine Pietät vor dem Schweiß ehrenfester Arbeit, ja, sie erdreistet sich, ihn als unästhetisch zu empfinden. Sie interessiert sich für den Menschen. Mehr als für die Natur und alle Metaphysik. Sie seziert die Empfindung und kritisiert selbst im Pathos und im Sentiment. Sie steht dem Volkstümlich-Naiven sehr fern und ist im Wesen esoterisch. Sie hält große Stücke auf eingehende Analyse. Sie ist im Innersten zwiespältig und ist sich wohl bewußt, daß sie zwei oder gar drei und vier Seelen hat: so klingt selbst ihr echtestes Pathos und ihr echtester Gefühlsausbruch leicht gewollt und ironisch. Es sind die Attribute des Wiener Impressionismus und der Neuromantik, der Literatur Hofmannsthals, Schnitzlers, Rilkes, Georges, die Feuchtwanger hier engagiert vorträgt.

Nicht nur als Kritiker, auch als Verfasser von Dramen und Prosa ist er dieser Richtung verpflichtet. Unter dem Einfluß Oscar Wildes und der deutschen Neuromantik entstanden meine ersten Dramen, die mir einigen Erfolg einbrachten. Feuchtwanger schreibt seit dem achtzehnten Lebensjahr. Er experimentiert, er imitiert. Die literarische Kritik nimmt wenig Notiz von seinen Ergebnissen. Schroff weist man ihn als Familienblattbegabung zurück. Er selbst will später von seinen literarischen Anfängen nicht viel wissen. Der gebildete und scharfsinnige Kritiker gibt seinen hohen Anspruch auf, wenn er in die Haut des Schriftstellers schlüpft. Er schreibt süßlich, an der Grenze zum Kitsch. Sein frühes Werk bezeugt seinen Drang zum Schreiben, es fehlt ihm jedoch der erlebte Konflikt, das innere Motiv. Die frühen erzählerischen und dramatischen Versuche kreisen um moderne philosophische Themen, um Fragen ästhetischer Lebenshaltung und Ethik. Geschmeichelt mag der an Eleganz und Form interessierte junge Feuchtwanger Nietzsches Appell an das Geschmacksurteil der ästhetisch Gebildeten gelesen haben. Aber Feuchtwanger ist auch Moralist genug, um der amoralischen Sentenz...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Biografie - Autobiografie

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Sigmund Freud

E-Book Sigmund Freud
Format: PDF

Wer war Sigmund Freud wirklich? Wie war der Mann, der in seiner Ordination in der Wiener Berggasse der Seele des Menschen auf die Spur kam? Und welche Rolle spielte dabei die weltberühmte Couch…

Sigmund Freud

E-Book Sigmund Freud
Format: PDF

Wer war Sigmund Freud wirklich? Wie war der Mann, der in seiner Ordination in der Wiener Berggasse der Seele des Menschen auf die Spur kam? Und welche Rolle spielte dabei die weltberühmte Couch…

Sigmund Freud

E-Book Sigmund Freud
Format: PDF

Wer war Sigmund Freud wirklich? Wie war der Mann, der in seiner Ordination in der Wiener Berggasse der Seele des Menschen auf die Spur kam? Und welche Rolle spielte dabei die weltberühmte Couch…

Weitere Zeitschriften

Archiv und Wirtschaft

Archiv und Wirtschaft

"Archiv und Wirtschaft" ist die viermal jährlich erscheinende Verbandszeitschrift der Vereinigung der Wirtschaftsarchivarinnen und Wirtschaftsarchivare e. V. (VdW), in der seit 1967 rund 2.500 ...

Atalanta

Atalanta

Atalanta ist die Zeitschrift der Deutschen Forschungszentrale für Schmetterlingswanderung. Im Atalanta-Magazin werden Themen behandelt wie Wanderfalterforschung, Systematik, Taxonomie und Ökologie. ...

Baumarkt

Baumarkt

Baumarkt enthält eine ausführliche jährliche Konjunkturanalyse des deutschen Baumarktes und stellt die wichtigsten Ergebnisse des abgelaufenen Baujahres in vielen Zahlen und Fakten zusammen. Auf ...

cards Karten cartes

cards Karten cartes

Die führende Zeitschrift für Zahlungsverkehr und Payments – international und branchenübergreifend, erscheint seit 1990 monatlich (viermal als Fachmagazin, achtmal als ...

dima

dima

Bau und Einsatz von Werkzeugmaschinen für spangebende und spanlose sowie abtragende und umformende Fertigungsverfahren. dima - die maschine - bietet als Fachzeitschrift die Kommunikationsplattform ...

rfe-Elektrohändler

rfe-Elektrohändler

rfe-Elektrohändler ist die Fachzeitschrift für die CE- und Hausgeräte-Branche. Wichtige Themen sind: Aktuelle Entwicklungen in beiden Branchen, Waren- und Verkaufskunde, Reportagen über ...

VideoMarkt

VideoMarkt

VideoMarkt – besser unterhalten. VideoMarkt deckt die gesamte Videobranche ab: Videoverkauf, Videoverleih und digitale Distribution. Das komplette Serviceangebot von VideoMarkt unterstützt die ...

filmdienst#de

filmdienst#de

filmdienst.de führt die Tradition der 1947 gegründeten Zeitschrift FILMDIENST im digitalen Zeitalter fort. Wir begleiten seit 1947 Filme in allen ihren Ausprägungen und Erscheinungsformen.  ...