Einleitung
Der deutsche Nationalsozialismus hatte einen starken Hang zum Religiösen und Mythischen. Das Dritte Reich wirkte oft wie ein einziger Kult: eine permanente Verklärung der eigenen Macht in kultischen Formen. Dem Weihespielhaften und Quasi-Liturgischen der nazistischen Großveranstaltungen stand die außerordentliche Glaubensglut der gewaltigen Massen gegenüber, die bei diesen Gelegenheiten zusammenströmten. Kaum ein Teilnehmer konnte sich der dichten Atmosphäre aus kollektiver Erregung und Hingabe entziehen. Die Nationalsozialisten schufen für ihre Zwecke eine Religiosität besonderer Art, eine Religiosität mit dem Hauptbezugspunkt Hitler. Sie speiste sich einmal aus Hitlers eigenem unleugbarem Charisma, aber auch aus der metaphysischen Überhöhung dieser Figur durch andere, dem sogenannten Führerkult, den die Bewegung seit ihren frühesten Jahren eifrig praktizierte und nach ihrem Sieg stetig fortentwickelte. Gottesdienstartige Massenkundgebungen, Fahnen, heilige Flammen, prozessionsähnliche Umzüge, Reden im volkstümlichen Stil fundamentalistischer Prediger, litaneihafte Wechselreden zwischen Einzelsprecher und Menge, Gedächtnisfeiern und Trauermärsche – ungeniert wurden dem sakralen Inventar Versatzstücke entlehnt, die sich brauchen ließen, um der Verehrung des Allerhöchsten einen gebührenden rituellen Rahmen zu geben. Das Allerhöchste freilich erblickte man nun in Nation und Rasse, in der Sendung des arischen Deutschtums und im Sieg über dessen Feinde – zuvörderst aber in jenem Mann, der Deutschland vor diesen zu retten angetreten war: Adolf Hitler, dem braunen Messias.
Auch in der nationalsozialistischen Ideologie finden wir zahlreiche Elemente, die eindeutig religiösen Vorstellungswelten entlehnt sind, allerdings hauptsächlich solchen fundamentalistisch-radikaler Ausrichtung, die einem krassen Schwarz-Weiß-Denken huldigen. Nehmen wir etwa den Glauben an eine jüdische Weltverschwörung, der eine bestimmte Bevölkerungsgruppe kurzerhand zum dämonischen Feind stempelt. Der Glaube stützt sich auf eine obskure Textsammlung, die berüchtigten Protokolle der Weisen von Zion; obwohl seriöse Forschung diese Schrift – Erstpublikation in Buchform: Russland, 1905 – längst als Fälschung entlarvt hat, war und ist sie eine Lieblingsquelle der Antisemiten. Die Nazis bezogen aus ihr jene apokalyptische Dämonologie, welche die Juden für alles verantwortlich machte, was ihnen an der modernen Zeit übel erschien: so für Liberalismus und Kommunismus, für den Verfall der Moral und den Schwund der traditionellen Werte. Was immer geschah, betrachtete man durch diese Optik. Die Juden »waren an allem schuld«, natürlich auch am Untergang des alten Vaterlandes im Jahr 1918 und an all den demütigenden Misslichkeiten seither. Aber Deutschland, versicherten die Nationalsozialisten, werde wiedergeboren in einem neuen Reich, einem »Tausendjährigen Reich« gar. Apokalyptische Visionen, in denen durchaus Bedrohliches mitschwang, denn nur ein rassisch reines Deutschland, hieß es, habe die Chance, als Nation dauerhaft zu bestehen. Dies aber sei unmöglich ohne die Ausschaltung der Juden. Alfred Rosenberg, der Chefideologe der NSDAP, war einer der Ersten, der eine deutsche Fassung der Protokolle veröffentlichte. Bei der Erarbeitung einer konsistenten nationalsozialistischen »Philosophie«, an der sich Rosenberg in den 20er-Jahren versuchte, kam den Protokollen zentrale Bedeutung zu. Dietrich Eckart, Hitlers Mentor in München, verfocht ebenfalls eine gnostisch-dualistische Weltsicht, die das Judentum als ewigen Gegenspieler der deutschen Nation betrachtete. Hitler selbst hielt an dem Glauben, der Deutsche müsse sich des Juden erwehren, nicht nur ein Leben lang fest, sondern ließ ihn auch auf schreckliche Weise Wirklichkeit werden: im Holocaust.
Doch nicht allein die Imagination einer jüdischen Weltverschwörung hatte es schon vor Hitler und den Seinen gegeben. Viele der braunen Ideologeme waren keine »Eigengewächse«: nicht die mythische Erwähltheit einer Herrenrasse, nicht das Tausendjährige Reich, nicht das Wirken dämonischer Kräfte hinter den politischen Kulissen. Das »Tausendjährige Reich« etwa findet sich schon in der Offenbarung des Johannes; und die Erwartung, die gegenwärtige Welt sei zum Untergang verdammt und bald werde eine neue, bessere kommen – »Millenarismus« oder »Chiliasmus« genannt – teilten religiöse und politische Fanatiker aller Jahrhunderte, auch jene, welche die Nationalsozialisten zu ihrem Welterlösungswahn inspirierten.
Dass sich das Transzendentale trefflich zur nationalen Missionierung nutzen ließe, hatten nämlich kurz zuvor bereits andere erkannt, und die Nazis übernahmen deren Erkenntnisse fast eins zu eins. Wer aber waren diese unmittelbaren Anreger? Dieser Frage bin ich in meinem Buch Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus nachgegangen und habe zu zeigen versucht, dass die Hauptimpulse aus bestimmten Milieus deutschnational gesinnter Österreicher kamen, die ihre einschlägigen Theorien in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten; führend dabei: die völkische Bewegung der Ariosophen, der »Bewahrer der arischen Weisheit«. Zur Förderung eines deutschen Identitätsgefühls unterfütterten diese ihre Konzeptionen mit quasi-religiösen, ja sogar okkulten Ideen. Kein Wunder, sahen sie doch das Deutschtum hauptsächlich von gewissen Spätfolgen der Aufklärung bedroht: dem Liberalismus, dem Laissez-faire-Kapitalismus und dem Autonomiestreben nichtdeutscher Völkerschaften in der Doppelmonarchie, die immer lauter ihre Forderung nach nationaler Selbstbestimmung artikulierten. Das Entstehen großindustrieller Komplexe und neuer Metropolen voller Massenverkehr und Geschäftsleben, die wachsende Bedeutung des Finanzkapitals und das Aufkommen von Gewerkschaften verunsicherten in jener Zeit die traditionell Orientierten stark. Einige mühten sich um geistiges Rüstzeug zur Abwehr, darunter die Ariosophen. Sie meinten das Allheilmittel gegen sämtliche Kräfte zu kennen, die unwillkommenerweise tradierten Status, tradierten Brauch und tradierte politische Autorität in Frage stellten: die Rückbesinnung der Deutschen auf die Zugehörigkeit zu einer überlegenen Rasse. Was man als die eigene Rasse begriff – das »Nordische«, »Germanische«, »Arische«, – wurde verklärt, alle Andersartigen dagegen stigmatisiert, namentlich die Juden, denn in ihnen sah man Urheber und Nutznießer des Liberalismus und der Modernisierung. Zwar haben damals auch seriöse Wissenschaftler – besonders Anthropologen und Eugeniker, deren Disziplinen sich gerade im Aufschwung befanden – bestimmte Menschengruppen und ihr Erbgut abgewertet. So weit indes wie jene völkischen Eiferer mochten sie nicht gehen, zumal diese die Zuordnung bestimmter Eigenschaften zu bestimmten Rassen aus reichlich esoterischen, eben okkulten Quellen herleiteten. Tatsächlich haftete den Ariosophen etwas Sektiererisches an. Dennoch waren ihre Gespinste bald Gedankengut einer Massenorganisation. Das Postulat der Überlegenheit des Ariertums, die Diskriminierung der Juden als Volksschädlinge und der Mythos einer Wiedergeburt Deutschlands in einem Tausendjährigen Reich wurden entscheidende Bauelemente der nationalsozialistischen Ideologie – und erhielten so weltgeschichtliche Bedeutung.
Die Sorge Einheimischer, von Fremden an den Rand gedrängt zu werden, ist uns auch aus der Gegenwart geläufig, in der das Phänomen der multiethnischen Gesellschaft massive Probleme aufwirft. 1900 bildeten die weißen Europäer 35 Prozent der Weltbevölkerung; mittlerweile sind es nur noch 10 – eine Folge der sinkenden Geburtenraten unter den Weißen in den hoch entwickelten Industrienationen bei wahren demographischen Explosionen in der Dritten Welt; hinzu kommen bessere medizinische Versorgung, bessere sanitäre Bedingungen und die allgemein zunehmende Industrialisierung. Aus den Entwicklungsländern strömen massenweise Menschen, die zu Hause wirtschaftlich oder politisch keine Perspektive sehen, in die zuvor mehrheitlich von weißen Europäern und deren Nachfahren besiedelten Staaten. Die fortgeschrittenen Industrienationen absorbieren gezwungenermaßen eine ständig steigende Zahl von Migranten. Die offizielle Politik trägt dem Rechnung und fördert die Integration der Fremden; längst hat sie die Tolerierung rassischer Vielfalt zum Dogma erhoben. In den USA und in den meisten europäischen Ländern verschiebt sich die Bevölkerungsstatistik zuungunsten der Einheimischen. Nicht wenige von ihnen fürchten inzwischen um ihre Identität – ähnlich wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele deutsch empfindende Österreicher die Sorge plagte, dass sie wohl bald im Habsburger-Imperium nichts mehr zu sagen hätten.
Vergleichbare Ängste gibt es auch heute; und wieder entladen sie sich in völkischen Ausbrüchen. Die längst vergessen geglaubten Rassenlehren, die das »Ariertum« glorifizieren, sind keineswegs mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschwunden; sie haben überlebt und leben wieder auf, weil eine wachsende Zahl von Menschen in einer mythisierten rassischen Identität etwas erblickt, das ihnen angesichts der Verunsicherungen, denen die moderne Welt sie aussetzt, einen Halt zu geben vermag. Diesem Phänomen widmet sich das vorliegende Buch. Gut ein halbes Jahrhundert nach dem Untergang des deutschen Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus in Schimpf und Schande sucht sich wieder eine extreme Rechte politisch Gehör zu verschaffen und bezieht Position gegen die freiheitliche Grundordnung der westlichen Demokratien. Globalisierung, Einwanderung und Gleichstellungsregeln produzieren Verlierer, die sich dann zunehmend empfänglich für radikale...