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E-Book

Internet: Segen oder Fluch

AutorKathrin Passig, Sascha Lobo
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783644113015
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Der Siegeszug des Internets ist unaufhaltsam. Zugleich verschärft sich die Debatte zwischen Netzoptimisten und Kritikern. Ob Google Street View, der digitale Mob oder die heiklen Datenmassen auf Facebook und Wikileaks - das Internet verändert unseren Alltag und sorgt für gesellschaftspolitische Diskussionen mit teils kulturkampfartigen Zügen: Macht uns das Smartphone freier oder abhängiger? Sind soziale Medien gut oder schlecht für das Sozialleben? Beeinflusst das Netz unsere Wahrnehmung, unser Denken? Hilft es den Kreativen, oder zerstört es geistiges Eigentum? Unterstützt es die Demokratisierung der Welt, oder erlaubt es Diktaturen die totale Überwachung? Die beiden Internet-Vorreiter Kathrin Passig und Sascha Lobo kennen die Streitfälle und Positionen zum Netz. Nun, nach der ersten großen Welle der digitalen Revolution, ziehen sie Bilanz: Sie erörtern klug, unterhaltsam und mit enormer Sachkenntnis alle drängenden Probleme, geben Antworten und wagen den Ausblick, wohin sich unsere vernetzte Welt entwickeln wird. Ein wichtiger, klärender Beitrag zur Debatte, eine glänzende Analyse unserer Gegenwart und ein Blick in die Zukunft.

Kathrin Passig, geboren 1970, ist eine Vordenkerin des digitalen Zeitalters. Sie ist Mitbegründerin der Zentralen Intelligenz Agentur in Berlin sowie des Blogs «Techniktagebuch». 2006 gewann sie in Klagenfurt sowohl den Bachmann-Preis als auch den Publikumspreis. Die «Sachbuchautorin und Sachenausdenkerin» (Passig über Passig) veröffentlichte u. a. 2007 das «Lexikon des Unwissens» (mit Aleks Scholz) und 2012 «Internet - Segen oder Fluch» (mit Sascha Lobo). 2016 wurde Kathrin Passig mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay ausgezeichnet.

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Leseprobe

1. Null oder Eins? – Ja.


Über Verständigungsschwierigkeiten

Warum müssen Diskussionen über Heizungsbau nur immer in persönliche Beleidigungen und wüste Unterstellungen ausarten?

Daniel R./@kchkchkch, Twitter, 6. Juli 2009

Wenn wir von unserem Plan berichteten, dieses Buch zu schreiben, äußerten unsere Gesprächspartner nicht selten die Hoffnung, es werde uns darin gelingen, den komischen Internetskeptikervögeln einfach alles noch einmal ganz langsam und geduldig zu erklären und damit die Streitereien rund um das Netz endlich beizulegen.

Hinter dieser Annahme steckt ein Versagen der Vorstellungskraft beziehungsweise des Vorstellungswillens: Mangelhafte Kenntnis der Tatsachen sei der einzig denkbare Grund dafür, dass jemand eine andere Meinung vertreten könnte als die eigene. Das ist auf einem Gebiet, auf dem man noch vor sehr kurzer Zeit Politiker öffentlich darüber rätseln hören konnte, was wohl ein Browser sei, zwar nachvollziehbar, aber trotzdem falsch. Konflikte entspringen nur selten dem einfachen Mangel an Informationen. Ernsthafte Konflikte entspringen überhaupt recht selten Ursachen, zu denen das Adjektiv «einfach» passt. Und noch seltener lässt sich das, was zur Schlichtung erforderlich wäre, mit diesem Wort beschreiben.

Außerdem glaubt die gegnerische Seite mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls, sie habe sich nur noch nicht ausreichend verständlich gemacht. Nach einer Weile erliegen dann beide Seiten dem Irrglauben, es sei offensichtlich böser Wille, dass der Kontrahent immer noch nichts begreifen wolle, und deshalb dürfe man ruhig zu immer schrofferen und extremeren Argumenten greifen. Das ist ähnlich erfolgversprechend wie die Strategie, schlecht Deutsch verstehenden Ausländern den Weg zum Bahnhof einfach immer lauter zu erklären.

Dieses Kapitel widmet sich deshalb noch keinen konkreten Technikfragen, sondern den grundsätzlichen Verständigungsproblemen – speziell denen zwischen Technologieoptimisten und Technologieskeptikern. Die Auseinandersetzungen um das Internet entstehen nicht dadurch, dass die Menschen auf einer Seite der Debatte nur noch nicht genug wissen. Dabei handelt es sich bloß um das bequemste Argument, weil es die Lokalisierung des Problems und mögliche Lösung gleich ab Werk eingebaut hat. Genauso wenig aber werden sich die Konflikte auflösen, weil die neuen Techniken und Gebräuche als unnützer Tand erkannt werden und wieder aus der Mode kommen. An ihre Stelle treten dann ja nicht wieder die vorigen Zustände, sondern noch neuere, noch unverschämtere Zumutungen.

Auch Max Planck hatte nicht die Lösung gefunden, als er schrieb: «Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.» Plancks Darstellung stimmt zum einen schon in der Wissenschaftswelt nicht ganz, denn dort gelingt es immer wieder, sich zwar mühsam, aber doch zu Lebzeiten vieler Beteiligter auf ein neues Paradigma zu verständigen. Zum anderen beruht Plancks These auf der Vorstellung einer immer näher rückenden universellen «Wahrheit». Diese Idee ist in der Wissenschaft heute zumindest stark umstritten. Und im Unterschied zur öffentlichen Technikfolgendiskussion gibt es in der Wissenschaft ein zwar keineswegs perfektes, aber doch einigermaßen funktionierendes, formalisiertes System zur Einigung darüber, welche Behauptungen vorerst vom Tisch sind. Es kann nicht mehr jeder in ernstzunehmenden Medien eine Verteidigung des Phlogistons[2] oder neue Theorien über ein geozentrisches Weltbild veröffentlichen.

Das ist bei den in diesem Buch behandelten Meinungsverschiedenheiten anders. Die nachwachsenden Diskussionsteilnehmer mögen mit bestimmten Ausprägungen des Neuen vertraut sein, aber die Auseinandersetzungen über neue Technologien und soziale Praktiken hören dadurch nicht auf. Wer im 19. Jahrhundert davon ausging, mit dem Ableben einer Generation würden auch die Klagen über Beschleunigung und Informationsüberflutung durch die Telegraphie verschwinden, der täuschte sich. Die Symptome verschieben sich an eine andere Stelle, aber die Konflikte dahinter bleiben bestehen – vielleicht nicht ewig, aber zumindest so lange, dass einfaches Abwarten für keinen heute lebenden Menschen eine Lösung darstellt.

Zu den Hoffnungen auf eine einfache Lösung gehört auch die Vorstellung, man könne einen Konflikt durch Technik zum Verschwinden bringen. Der Informatiker Joseph Weizenbaum nennt in seinem 1976 erschienenen Buch «Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft» ein Beispiel: «Zur Zeit der Studentenunruhen an den amerikanischen Universitäten konnte man oft von wohlwollenden Rednern hören, die Unruhe, zumindest die an der eigenen Universität, sei hauptsächlich auf eine ungenügende Kommunikation zwischen den verschiedenen Teilen der Universität zurückzuführen, z.B. den Fakultäten, Fachschaften, der Administration usw. Somit wurde das ‹Problem› im Prinzip unter dem Aspekt der Kommunikation, d.h. als technisches gesehen. Aus diesem Grund konnte es mit technischen Mitteln gelöst werden, indem man z.B. verschiedene ‹heiße Drähte› etwa zwischen den Büros des Präsidenten und der Dekane legte.» In diesem Fall geht es um die etablierte Technik des Telefons, eine häufige Variante ist die Ankündigung, gerade frisch erfundene oder in naher Zukunft zu erwartende Technologien könnten den Konflikt aus der Welt schaffen.

Tatsächlich ist es in Einzelfällen möglich, soziale Probleme mit rein technischen Mitteln zu lösen. Die Verdrängung der Metallzahnpastatuben durch nicht knitternde Plastiktuben war das Ende des Beziehungsstreits um die Frage, ob die Zahnpasta ordentlich vom Tubenende her ausgedrückt werden muss oder man auch mal auf die Mitte drücken darf, wodurch die Tube vor der Zeit faltig wird. Hinter dem Streit steckt die Frage, was im Leben wichtiger ist: Aufmerksamkeit für kleinste Details (denn ohne sie gäbe es keine schön anzusehende Apple-Hardware) oder die Fähigkeit, an der richtigen Stelle und im rechten Moment Großzügigkeit walten zu lassen.

Vielleicht war die Zahnpastatube der einzige Konfliktanlass in einer ansonsten harmonischen Beziehung. Dann wäre die Plastiktube tatsächlich eine technische Lösung für ein soziales Problem. Wahrscheinlicher ist aber, dass die zerknitterte Tube nur einer von vielen möglichen Kristallisationskeimen des Streits war und dass sich die Diskussion nach ihrem Verschwinden aus dem Badezimmer auf das Thema Apple-Hardware verlagerte. Oder auf die Frage, wer eigentlich die Tube immer so schlampig hinlegt, anstatt sie auf den Deckel zu stellen.

 

Hinter der Vorstellung, eine Meinungsverschiedenheit beruhe lediglich auf Kommunikationsschwierigkeiten oder anderen technisch lösbaren Problemen, steckt die Annahme, es gebe gar keinen realen Konflikt zwischen den Beteiligten. Diese Annahme aber ist in den meisten Fällen mit dem Wort «Wunschdenken» noch schmeichelhaft umschrieben. Die von Weizenbaum angeführten Studentenunruhen beruhten auf echten Interessenkonflikten, und nicht anders verhält es sich mit den heutigen Diskussionen um die Folgen der Digitalisierung. Solange man sich nicht eingesteht, dass diese unterschiedlichen Interessen existieren, führt kein Weg zu einer einvernehmlichen Lösung oder wenigstens friedlichen Koexistenz.

Bei solchen Interessen geht es zum einen oft ganz schnöde ums Geldverdienen: Neue Entwicklungen gefährden den eigenen Arbeitsplatz. Mal ist die ganze Branche bedroht, mal konkurrieren eine alte und eine neue Strategie innerhalb derselben Firma, und man muss ganz konkret den eigenen Arbeitsplatz verteidigen. Eine mindestens ebenso große Rolle spielt das Selbstbild der Beteiligten. Niemand lässt sich gern öffentlich für nutzlos erklären, erst recht nicht von Leuten, denen das angeblich nutzlose Feld unbekannt, egal oder eine Mischung aus beidem ist. Aber Loblieder auf eine neue Technologie sind schwer zu singen, ohne dass darin nicht mindestens zwischen den Zeilen diejenigen schlecht wegkommen, die noch auf die Vorgängertechnik setzen.

Die Diskussion des Konflikts bringt ein weiteres Problem mit sich. Viele Interessengruppen und Einzelpersonen profitieren von Extrempositionen stärker als von einer entspannten Erläuterung der Neuerungen. Sachbuchautoren und Journalisten erhalten für alarmistische Thesen oder goldene Zukunftsvisionen mehr Aufmerksamkeit als für sachliche Aufklärung. Lobbygruppen und Institutionen können durch Verweis auf die Gefahren oder Chancen der neuen Technologien mehr Geld vom Staat und von anderen Geldgebern einwerben. Die Optimisten nutzen die Gelegenheit, sich moderner, jünger, angstfreier und zukunftszugewandter darzustellen, die Skeptiker sehen verantwortungsbewusster, kritischer und erwachsener aus. Wenn der eigene Lebensunterhalt oder das Selbstverständnis von der Meinung abhängen, die man über das Internet hegt, wird der Austausch von Argumenten zumindest kurzfristig wenig an dieser Meinung ändern.

 

Eine weitere verständigungshemmende Idee ist die Vorstellung eines digitalen Grabens, der die Welt in zwei klar unterschiedene Kulturen teilt. Vor wenigen Jahren waren das noch die «Onliner» und die «Offliner», aber weil demnächst selbst Heizdecken einen Internetanschluss mitbringen werden[1], verläuft die aktuelle Grabenversion zwischen «Digital Natives» und «Digital Immigrants». Wohlwollend interpretiert dient dieses Konzept...

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