Ein neuer deutscher Auslandsnachrichtendienst – der Beginn
»Aus bescheidenen Anfängen wurde die HV A einer der erfolgreichsten, wenn nicht der erfolgreichste Spionagedienst des Kalten Krieges – in Ost und West. Das ist allerdings eine nach dem Kalten Krieg vorgenommene Bewertung. Westliche Spionagedienste haben die HV A oftmals ignoriert und ihre Klasse unterschätzt. Für sie blieben die Ostdeutschen lediglich eine Art Geheimwaffe ihrer KGB-Herren.«3
So urteilte Herausgeber Thomas Wegener Friis im Vorwort des in London und New York 2010 erschienenen Readers mit den Beiträgen westlicher Autoren, die diese auf der wissenschaftlichen Konferenz an der Süddänischen Universität in Odense im November 2007 gehalten hatten. Das Thema dieser Konferenz lautete »Hauptverwaltung A – Geschichte, Aufgaben, Einsichten«, und sie beschäftigte sich in unterschiedlichen Beiträgen mit den Arbeitsrichtungen der DDR-Aufklärung: politische, wissenschaftlich-technische und Militärspionage sowie Gegenspionage, Spionageabwehr und das von der HV A eingesetzte Verbindungssystem. An der Debatte beteiligten sich damals dreizehn Experten aus europäischen Staaten und aus den USA sowie elf HVA-Insider und frühere Top-Spione.4
Das Zitat artikuliert eine nicht zuletzt auf dieser Tagung in Dänemark wiederholt erhobene Fragestellung, die für die Bewertung der Geschichte der Auslandsaufklärung der DDR von zentraler Bedeutung ist. Ein Aspekt dieser Tätigkeit war die Kooperation der HV A mit den östlichen Partnern.
Dabei nehmen Verhältnis und Zusammenwirken zwischen den Diensten für Auslandsaufklärung der DDR und der UdSSR, der Hauptverwaltung A des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (HV A) und der 1. Hauptverwaltung (PGU5) des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR (KfS), einen besonderen Platz ein.
Ich werde das Thema nicht umfassend, in allen Aspekten und allseitig behandeln, sondern lediglich jene wichtigen Facetten des Verhältnisses von HV A und PGU in ihrer Entwicklung seit Beginn der Tätigkeit des Auslandsnachrichtendienstes der DDR beleuchten, die für die operative Arbeit in der Zentrale wie im Operationsgebiet bedeutsam waren. Dabei gehe ich davon aus, dass die sowjetische Position entscheidend für die Schaffung eines Nachrichtendienstes der DDR, für dessen Aufbau und Entwicklung, für seinen Bestand und schließlich im weiteren Sinn auch für sein Ende war.
Das vorliegende Buch ist als siebter Band integraler Bestandteil des Vorhabens, die Geschichte der Hauptverwaltung A zu Lebzeiten der Akteure zu schreiben. Seit Beginn der Arbeit an diesem Projekt verstarben wichtige Zeitzeugen – darunter Kurt Gailat, Horst Jänicke, Wadim Kirpitschenko, Wladimir Krjutschkow, Anatolij Nowikow, Alexander Prinzipalow, Werner Prosetzky und Markus Wolf. Ich konnte ausnahmslos alle noch persönlich konsultieren. Ihr diesbezügliches Wissen floss somit in dieses Buch ein.
Die Entwicklung des Auslandsnachrichtendienstes der DDR von Anfang bis Ende lässt sich – wie die Entwicklung der DDR – nur im Kontext mit der Sowjetunion und der BRD darstellen. Unter den Bedingungen, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatten, wäre weder in Ost- noch in Westdeutschland die Entstehung von Nachrichtendiensten ohne die direkte Einflussnahme und Federführung der Besatzungsmächte denkbar gewesen, im Osten also der UdSSR und im Westen in erster Linie der USA.
Die Ausführungen stützen sich zu einem beträchtlichen Teil auf persönliche Erfahrungen und Erinnerungen einer großen Zahl von Angehörigen der HV A, die auf unterschiedlichen Ebenen in der Zentrale und im Operationsgebiet tätig waren. Weitere Grundlagen sind meine eigenen Erfahrungen und Erinnerungen sowie Gespräche, die über Jahre hinweg gezielt zum Thema geführt worden sind. Sie widerspiegeln die Sicht des Leiters und aller Leitungsebenen der Hauptverwaltung, von Leitern operativer Abteilungen der HV A und ihrer Stellvertreter, von Referatsleitern und Mitarbeitern. Unter ihnen sind nicht wenige, die sowohl in der Zentrale als auch im Operationsgebiet nachrichtendienstlich tätig waren. Dazu gehören ehemalige Residenten, die in unterschiedlichen Regionen oft viele Jahre für die HV A gearbeitet haben und an ihren Einsatzorten dienstliche und persönliche Verbindungen zu sowjetischen Partnern hatten. Wiedergegeben werden zum Thema auch persönliche mündliche Ausführungen von Leitern und Mitarbeitern der sowjetischen Aufklärung.
Ich stütze mich auch auf die offizielle Geschichte der Auslandsaufklärung der Russischen Föderation. Sie erschien unter dem Titel »Streiflichter der Geschichte der Auslandaufklärung der Russischen Föderation«6 in sechs Bänden. Der (vorerst) letzter Band erschien 2006 in Moskau und behandelte die Jahre 1966 bis 2005.
Darüber hinaus untersuchte ich zahlreiche, das Thema berührende Autobiografien und Publikationen. Um größtmögliche Authentizität zu erreichen, werden schriftliche Dokumentationen wichtiger Akteure – biografische und monografische Originale, wissenschaftliche Beiträge, Erinnerungsliteratur – zitiert.
Das Thema erfuhr bereits eine sehr umfangreiche Behandlung in der einschlägigen Literatur. Dabei dominieren vorrangig zwei Tendenzen: Zum einen wird das Verhältnis so dargestellt, als sei die Auslandsaufklärung der DDR lediglich ein Juniorpartner minderer Bedeutung gewesen, der in der Hauptsache dem KGB der UdSSR und dessen Auslandsaufklärung, der 1. Hauptverwaltung des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR, zugearbeitet habe.
Zu ganz anderen Erkenntnissen kam Benjamin Fisher. Der langjährige Chefhistoriker der CIA hatte sich intensiv mit dieser Problematik befasst und kam schließlich zu diesem Urteil: »In der Zeit zwischen Errichtung und Fall der Mauer erlitt die CIA eine der größten Niederlagen der Spionagegeschichte. Bereitet wurde sie ihr nicht durch das sowjetische KGB, sondern durch dessen ostdeutschen Stellvertreter, das Ministerium für Staatssicherheit und dessen Auslandsaufklärungsdienst, die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A). Gemeinsam haben es MfS und HV A vermocht, dass sich die CIA in der Deutschen Demokratischen Republik, einem neuralgischen Ziel im Kalten Krieg, als taub, stumm und blind erwiesen hat. ›Doppelagenten‹ nutzend, kontrollierte die ostdeutsche Aufklärung praktisch alle menschlichen Quellen (HUMINT) der CIA und bewirkte damit ein großes Loch genau da, wo es um eines der wichtigsten Aufklärungsziele der USA ging. Indem die HV A amerikanische Quellen anwarb, entschärfte die ostdeutsche Aufklärung die amerikanische Funkaufklärung (SIGINT) und die elektronische Kriegsführung, die von Westberlin aus Ziele der sowjetischen und ostdeutschen Streitkräfte erreichen sollten. Die US-Spionage blieb dadurch an einem Schlüsselsektor der Frontlinie des Kalten Krieges taubstumm. Und ihre Fähigkeiten zur elektronischen Ausspähung der Streitkräfte, zur Verhinderung eines Überraschungsangriffes waren ernsthaft eingeschränkt. Echter Quellen beraubt, war die CIA ahnungslos, als in Ostdeutschland sich das Volk gegen das letzte stalinistische Regime in Osteuropa erhob. Und sie war nicht in der Lage, die Öffnung der Berliner Mauer vorherzusehen.«7
Im Weiteren reflektiert Benjamin Fisher ausführlich die Doppelagentenpraxis der HV A und den »Schaden«, den die CIA dadurch erlitten habe. Er setzt sich dabei mit Positionen Milton Beardens, des langjährigen Leiters der Sowjetunion-Osteuropa-Abteilung der CIA, auseinander: »Er behauptet, dass diese Abteilung (SE) Ostberlin nicht mehr als ein Übungsgelände für Mitarbeiter betrachtet habe, die für anspruchsvollere Kommandierungen in Moskau und anderen Ostblock-Hauptstädten vorgesehen waren.«8
Fisher widerspricht Baerden entschieden: »Die Darstellung, dass die CIA angeblich Ostdeutschland als Nebenschauplatz betrachtet habe, ist nicht haltbar. Ostdeutschland war auf jeden Fall für die US-Aufklärung ein hochwichtiges Ziel. Die Haupttrennlinie zwischen den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang und den westlichen Demokratien hatte eine Länge von 1.737 Kilometer. 1.381 davon verliefen durch das geteilte Deutschland. Auf der einen Seite gab es die DDR, den westlichen Außenposten des Sowjet-Imperiums und dessen militärischen Bündnisses, des Warschauer Paktes. Die sowjetische Garnison, die Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) umfasste 400.000 der 500.000 in Osteuropa stationierten sowjetischen Militärangehörigen. Das waren Einsatzkräfte in ständiger Gefechtsbereitschaft, die sich permanent in Manövern in Erwartung eines Krieges oder zur Vorbereitung eines Überraschungsangriffs befanden. Im Kriegsfall sollte die GSSD mit ihren Panzerdivisionen blitzkriegsartig vorstoßen und die Verteidigung der Organisation des Nordatlantikpaktes (NATO) in Westdeutschland durchbrechen. […]
Auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs befand sich die Bundesrepublik Deutschland, Amerikas wichtigster Verbündeter im Kalten Krieg...