1984 veröffentlichte ein Wissenschaftlerinnentrio den Artikel »Women and Weight: A Normative Discontent« (»Frauen und Gewicht: ein normatives Unbehagen«). Der Titel verweist schon auf die Schlussfolgerung, dass Unzufriedenheit mit der Figur für Amerikanerinnen nämlich keineswegs unnormal, sondern vielmehr die Norm war.
Seitdem hat sich die Lage kaum verbessert. 2008 führte Cynthia Bulik von der University of North Carolina unter Frauen im Alter von 25 bis 45 Jahren eine Studie durch. Fazit: Zehn Prozent der befragten Frauen litten unter einer Essstörung, während weitere 65 Prozent leichtere, subklinische Formen gestörten Essverhaltens aufwiesen.
Bulik stellte fest: »Es wird beinahe von einer Frau erwartet – von jeder Frau –, dass sie mit ihrem Körper unzufrieden ist und versucht abzunehmen.« Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber circa 45 Millionen Amerikaner machen jährlich eine Diät. Ich bin eine davon.
So ist es seit meiner Pubertät, als ich mir zum ersten Mal meines Körpers bewusst wurde und mich für mein Übergewicht schämte. Bis dahin hatte ich zum Essen und zu meiner Figur ein eher unspektakuläres Verhältnis.
Kinderernährung im Stil der Siebziger
Meine beiden Schwestern und ich wuchsen in einem Haushalt auf, in dem Essen nichts Besonderes war. Es wurde nicht ausdrücklich Wert auf gute Ernährung gelegt, aber meine Eltern bereiteten gesunde und ausgewogene Mahlzeiten für uns zu, zumindest gemessen an der Ernährungspyramide von vor dreißig Jahren. Das Frühstück bestand meist aus einer schnell gelöffelten Schüssel Zerealien, bevor der Schulbus kam. Klar, wir aßen Lucky Charms statt Hafergrütze und wir nahmen fette Milch, keine fettarme. Aber wir futterten auch keine Fast-Food-Frühstücksburger oder Hostess-Breakfast-Bake-Shop-Donuts. Ich argumentierte zwar, dass das fettige, zuckrige Backwerk schließlich als Frühstück vermarktet wurde und wir es deshalb sehr wohl als solches essen konnten, doch zum Glück verfing das bei unserer Mutter nicht.
Als Mittagsimbiss brachten wir vielleicht ein Putenfleischsandwich und Obst oder ein durchgeweichtes Erdnussbutter-Marmelade-Sandwich mit zur Schule. Zum Abendessen gab es meist eine halbe Pampelmuse oder einen Salat und immer Fleisch mit Gemüse und dazu Kartoffeln, Nudeln oder Reis.
Wir wurden ermahnt, wenn wir zu schnell aßen oder beim Essen kleckerten, wenn wir Gemüse auf dem Teller ließen oder am Tisch kippelten. Aber wie viel wir aßen, war nie ein Thema. Niemand hatte ein Gesundheits- oder Gewichtsproblem und Essen war einfach nur Essen.
Ich war schon immer eine Naschkatze und wenn ich Lust auf etwas Süßes hatte, fand ich meistens auch etwas im Haus, manchmal sogar etwas so Dekadentes wie eine Packung Devil-Dogs-Cremegebäck oder eine Schachtel Oreo-Kekse. Meistens aber hatte ich die Wahl zwischen einer Entenmann’s-Walnussschnecke – die ich strategisch so zurechtschnitt, dass ich das Stück mit viel Glasur und wenig Nüssen bekam – oder einem vom Frostbrand angefressenen Karton mit Breyers-Eis.
Als wir größer wurden, lernten meine Schwestern, das Essen zu genießen und achtsam damit umzugehen. Sie aßen gern, sie kochten gern und sie sprachen auch gern darüber, ohne fanatisch zu sein. Ihr Gewicht blieb meistens konstant und über ihre Figur machten sie sich nicht mehr Gedanken als jede andere Frau.
Als Pummel aufwachsen
Erst in der Junior Highschool, als ich etwas dicker wurde, begann ich, auf mein Gewicht zu achten.
Wenn man bedenkt, wie wenig ich mich bewegte und wie viel ich aß, war es wirklich kein Wunder, dass ich zunahm. Ich war unsportlich und ziemlich träge und bewegte mich nur, wenn es sein musste oder wenn ich meinte, etwas »gesünder« leben zu müssen. Die meiste Zeit verbrachte ich mit Lesen, Schreiben oder Tic-Tac-Dough im Fernsehen.
Ich aß für mein Leben gern. Je mehr, desto besser. Als Schlüsselkind machte ich mir nach der Schule selbst etwas zu essen: ein oder zwei aufgebackene Pizzamuffins und dann noch ein oder zwei Twinkies. Meine eigentliche Schwäche war Erdnussbutter. Auf Toast, auf Marmelade oder einfach so mit dem Löffel – in nur ein paar Minuten konnte ich ein halbes Glas davon verdrücken. 760 Kalorien und 64 Gramm Fett – eine verhängnisvolle Affäre.
Beim Abendessen stopfte ich mich meistens voll. Wie man nicht so viel wie möglich von dem leckeren goldbraunen Hähnchen in Parmesankruste mit der deftigen Tomatensoße und dem leicht gebräunten, geschmolzenen Mozzarella in sich hineinmampfen konnte, war mir ein Rätsel. Es war da, es schmeckte, ich brauchte nicht dafür zu bezahlen (jedenfalls nicht mit Geld – die angefressenen Pfunde waren eine ganz andere Sache). Danach bei den Ring Dings haute ich genauso ungehemmt rein.
Ich habe intensiv darüber nachgedacht, ob es da vielleicht eine emotionale Komponente gab. Sicher, Einsamkeit, Unsicherheit oder Langeweile mögen dazu beigetragen haben. Aber vor allem, denke ich, war meine Verfressenheit wirklich auf meine Liebe zum Essen und auf mangelnde Selbstkontrolle zurückzuführen. Bei zwei berufstätigen Eltern beaufsichtigte uns kaum jemand. Niemand brachte uns bei, welche Menge für Mahlzeiten und Snacks angemessen war. Also ließ ich mich von meinem Appetit leiten, der enorm war und sich auf das schlimmstmögliche Ziel eingeschossen hatte: Nervennahrung mit jeder Menge Zucker und Fett.
Richtig fett wurde ich allerdings nie. Ich passte immer in normale Kleidergrößen und nie fand ein Arzt, dass mein Gewicht ein Gesundheitsrisiko war. Doch spätestens in der achten Klasse war ich so dick, dass es definitiv auffiel. Ich war offiziell ein Moppel. Pummlig. Drall. Und tief unglücklich darüber.
Also versuchte ich abzunehmen, indem ich den ganzen Tag lang so wenig wie möglich aß, bis ich nicht mehr konnte. Wenn es so weit war, musste ich mich zwingen, nicht zu essen wie ein Scheunendrescher. Von meinem 13. Lebensjahr an kämpfte ich ständig mit dem klassischen Diätproblem: Willensstärke gegen Appetit.
Ich tat alles, um mein Gewicht zu verringern. Ich stellte mir den Wecker auf halb fünf Uhr früh und ging vor der Schule joggen und Rad fahren. Das hielt ich genau zwei Tage durch. Ich radelte zum Supermarkt und kaufte eine Packung Diätpillen. Irgendwie kam mir das aufregend frühreif und verboten vor, wie wenn man als Minderjährige Alkohol kauft, bloß dass hier keiner meinen Ausweis sehen wollte. Ich erzählte niemandem von meinem Vorrat an Kapseln, obwohl es sicherlich kaum Verwunderung hervorgerufen hätte. Diätpillen und Appetitzügler wurden damals zu jeder Tageszeit im Fernsehen angepriesen (ich erinnere mich noch an den Werbespruch: »Mit Dexatrim habe ich abgenommen und ich fühle mich gut!«). In dem Vorort, wo ich aufwuchs, standen Appetitzügler auf einer Stufe mit Säureblockern. Manchmal nahm ich vor der Schule eine Pille, in der Hoffnung, dass ich dann den ganzen Tag lang nichts zu essen brauchte. Es nützte aber nichts.
Meine Schule wie auch die Medien leisteten damals gründliche Aufklärungsarbeit zum Thema Essstörungen. Daraus lernte ich, dass manche Mädchen Abführmittel schluckten, um abzunehmen. Also versuchte ich es auch. Im Supermarkt standen sie (Wie praktisch! Wie naheliegend!) gleich neben den Diätpillen und kamen kindgerecht als Schokoriegel daher. Die Wirkung war so durchschlagend (und der Geschmack der »Schokolade« so widerwärtig), dass ich es nicht noch einmal versuchte.
Einmal nahm ich in einem Moment größter Verzweiflung ein Brechmittel, um mich nach einer Fressattacke zu übergeben. Doch meistens beschränkten sich meine Abnehmversuche darauf, jede einzelne Diät auszuprobieren, die es gab. Die schwachsinnigste davon machte ich während eines Sommerprogramms an meiner Highschool. Versprochen war eine Gewichtsabnahme von zwei Kilo, wenn man sich drei Tage lang nur von zwei Eiern, einer Orange und einem Grillhähnchen ernährte. Am Morgen des vierten Tages klappte ich im Gang meines Wohnheims zusammen. Das hatte einen Besuch in der Beratungsstelle der Schule zur Folge, wo man mich an eine Therapeutin in meinem Heimatort überwies. Es begann eine kurzlebige Serie von Therapiesitzungen, die ich nicht weiter schlimm fand und die sich kaum auf mein Essverhalten auswirkten.
An meiner Highschool in einem begüterten, aufstiegsorientierten Stadtviertel war ich sicher nicht die einzige Schülerin mit Essproblemen. Ich würde sagen, dass mindestens die Hälfte der Mädchen an meiner Schule in irgendeiner Form Diät hielt. In meiner Klassenstufe wurde ein Mädchen – beliebt, klug, umgänglich, hübsch – wegen Magersucht ins Krankenhaus eingewiesen. Ein anderes Mädchen – fröhlich, ausgeglichen – schlenderte nach einem kräftigen Mittagessen immer ganz cool auf die Toilette, um sich zu erbrechen.
So schrecklich es ist, manchmal wünschte ich mir, wie diese Mädchen zu sein. Die eine war so erfolgreich, dass sie ins Krankenhaus kam, die andere baute ihre Essneurosen nahtlos und effektiv in den Alltag ein, sodass sie kaum eine Belastung darstellten. Ihre extremen Abnehmstrategien waren ja fast schon ein Zeichen von Reife. Irgendwie war ich am schlechtesten dran: immerzu hungern, außer wenn ich mir...