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E-Book

Schizophrenie ist scheiße, Mama!

Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter

AutorJanine Berg-Peer
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783104021072
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
»Ihre Tochter hat Schizophrenie!« Diesen Satz hört Janine Berg-Peer vor 16 Jahren das erste Mal. Von einem Tag auf den nächsten ist nichts in ihrem Leben so wie vorher. Der Kampf einer mutigen und starken Frau um das Wohl ihres Kindes beginnt. Selbstkritisch und mit großer Offenheit beschreibt sie, wie sie gemeinsam mit ihrer Tochter, manchmal auch gegen sie, lernt, mit deren Krankheit umzugehen. »Der Boden hat sich unter mir aufgetan. Schizophrenie? Meine Tochter? Das muss das Ende von unserem Leben sein. Die Unsicherheit über die Entwicklung der Krankheit erfasst alles, was ich tue, was ich denke und wie ich mit anderen Menschen kommuniziere. Es gibt keine Verhaltensanleitung für eine Angehörige. Es gibt kein Vorbild. Was darf ich, was mache ich richtig, was falsch? Darf ich überhaupt ein normales Leben weiterleben? Kann ich mich am Leben freuen?«

Mit 17 wird bei Janine Berg-Peers Tochter Schizophrenie diagnostiziert. Für die Autorin ist es ein Riesenschock, und ein langer Kampf um das Wohl ihrer Tochter beginnt.Heute engagiert sich Janine Berg-Peer aktiv im Verband der Angehörigen psychisch Kranker e.V., ist Mitglied von Bipolaris - Manie und Depression e.V. und deutsche Repräsentantin bei EUFAMI, dem europäischen Dachverband der Familien mit psychisch kranken Angehörigen. Sie hält Vorträge, moderiert Workshops zum Thema und berät Angehörige direkt.

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Leseprobe

Die Diagnose


Eine freundliche Ärztin empfängt uns, und ich beschreibe ihr vorsichtig, was vorgefallen ist und dass ich sehr besorgt bin. Lena sitzt neben mir. Wie soll ich in ihrer Gegenwart erklären, dass sie sich »verrückt« verhält? Wie wird das auf sie wirken? Frau Dr. B. beginnt, sich mit Lena zu unterhalten, fragt, wie es ihr gehe, wie lange sie in England gewesen sei und ob es ihr dort gefalle. Lena antwortet ruhig, aber etwas fahrig und unkonzentriert. Sie scheint abwesend, will rauchen, kichert und sagt, dass sie schnell ins Internat zurückmüsse, weil sie eine Englischarbeit vor sich habe. Nach kurzer Zeit greift die Ärztin zum Telefonhörer und fragt, ob noch ein Bett frei sei.

»Ihre Tochter hat Schizophrenie«, sagt die Ärztin sachlich. »Aber Sie brauchen keine Schuldgefühle zu haben.«

Der Boden tut sich unter mir auf. Meine Tochter – Schizophrenie? Ist Schizophrenie nicht diese entsetzliche Krankheit, mit der man rasende, gefährliche Menschen assoziiert, die mit abstehenden Haaren und wahnsinnigem Blick ihre Umgebung bedrohen? Stöhnende, lethargische Patienten, die in weißen Kitteln durch die Flure von »Irrenanstalten« schleichen? So wie Jack Nicholson in dem Film »Einer flog übers Kuckucksnest« oder Angelina Jolie in »Durchgeknallt«? Meine 17-jährige Tochter, die kindlich kichert und unverständliche Sätze vor sich hin murmelt, aber sicher für niemanden eine Bedrohung darstellt, soll an Schizophrenie erkrankt sein? Und was soll diese Diagnose mit Schuldgefühlen zu tun haben?

Ich ringe darum, die Diagnose zu begreifen und zu verstehen, dass meine Tochter nun auf die Station einer psychiatrischen Klinik gehen soll. Sie bekommt ein Zimmer zugewiesen, und ich muss sie dortlassen. Aus Filmen und Büchern habe ich entsetzliche Vorstellungen von psychiatrischen Anstalten. Wie wird es dort aussehen? Was wird mit Lena gemacht? Wird sie festgebunden werden? Wie wird der Umgangston dort sein? Darf ich sie begleiten?

»Ihre Tochter kann gleich hierbleiben, auf Station 4 steht ein Bett für sie bereit. Sie können mit ihr nach oben gehen, die Schwester weiß Bescheid. Sie können ihr ja später noch Sachen vorbeibringen.« Die praktischen Handlungsanweisungen der Ärztin bekomme ich kaum mit, ich stehe unter Schock. Dass Lena ein psychisches Problem hat, war irgendwie klar, sonst wäre ich nicht in die Psychiatrie gefahren. Aber niemals hätte ich mit der furchteinflößenden Diagnose Schizophrenie gerechnet. Es fühlt sich an, als ob dies das Ende unseres Lebens ist. Die Schuldgefühle, die ich nicht haben soll, nehme ich gar nicht wahr. Mein Kopf ist leer. Ich bin froh, dass die Ärztin mir erklärt, dass eine Schwester uns nach oben begleiten wird. Lena und ich brauchen jetzt jemanden, der uns sagt, was zu tun ist. Friederike und mein Neffe versprechen zu warten.

»Haben Sie Ihre DAK-Karte mit?«, fragt die Schwester. »Die brauche ich noch. Und dann müssen Sie dieses Formular ausfüllen.« Ich starre sie an. DAK-Karte? Formular? Ich bin unfähig, in diesem Moment über solche Dinge nachzudenken. Die Schwester bemerkt meine Verwirrung und murmelt, dass wir das später nachholen können.

Wir folgen der Schwester in den Fahrstuhl. Was erwartet uns auf der Station? Ich frage mich, ob es Anstaltskleidung gibt, abgeschlossene Flure und Zimmer ohne Fenster. Ob wir von stöhnenden und brüllenden Insassen und muskulösen Wärtern empfangen werden, die bereit sind einzugreifen, wenn jemand sich »verrückt« benimmt. Zu meiner Überraschung lässt sich die Glastür, die den Blick auf einen Flur freigibt, problemlos öffnen. Also keine verschlossenen Türen? Sie bittet uns höflich, im Aufenthaltsraum Platz zu nehmen. Kurz darauf erscheint ein freundlicher junger Mann in Jeans und Kapuzenpulli. »Haben Sie vielleicht Hunger?«, fragt er Lena. »Ich könnte Ihnen noch etwas warm machen.« Lena möchte gerne etwas essen. Ich bin überrascht, der junge Pfleger entspricht nicht meiner Vorstellung. Die Pfleger in Hollywoodfilmen sehen anders aus. Überhaupt ist alles anders, als ich – durch Literatur und Medien beeinflusst – gedacht habe. Niemand brüllt, es gibt keine verschlossenen Türen, und die Patienten werden höflich mit Nachnamen und »Sie« angesprochen. Niemand trägt Anstaltskleidung oder einen Schlafanzug. Lenas Zimmer sieht wie ein normales Krankenhauszimmer aus, nur das Fenster lässt sich nicht öffnen. Eine ältere Frau schläft im zweiten Bett. Es gibt einen großen Ess- und Aufenthaltsraum, in dem die Patienten rauchen können. Vom Gang aus kann ich in einen freundlich eingerichteten Fernsehraum blicken.

Als ich Lena in ihr Zimmer begleite und verspreche, gegen Abend wiederzukommen und ihre Sachen zu bringen, fängt sie an, bitterlich zu weinen. »Du kannst mich doch nicht hierlassen, Mama«, weint sie. »Ich will nicht in eine Irrenanstalt, ich will nicht hierbleiben. Ich will wieder mit dir nach Hause. Ich will wieder nach England ins Internat.« Mir kommen auch die Tränen. Soll ich sie wieder mitnehmen? Aber welche Gefahr besteht für sie, wenn sie wirklich Schizophrenie hat? Was kann passieren, wenn ich sie nicht hierlasse? Was ist jetzt richtig? Nur mit Hilfe der Schwester, die beruhigend auf Lena und mich einredet und mir erklärt, der Arzt käme gleich, kann ich mich von Lena losreißen. Sie bekäme gleich Medikamente, dann würde es ihr bessergehen. Ich weiß nicht mehr, wie ich, begleitet von Lenas Schluchzen und ihren Rufen »Mama, lass mich nicht hier!« über den Flur, durch die Tür und wieder aus dem Krankenhaus komme. Ich bin froh, dass Friederike und Hagen mich nach Hause begleiten und mir helfen, ein paar Sachen für Lena einzupacken.

Als ich wieder ins Krankenhaus komme, liegt sie angezogen im Bett und schläft tief. Ihre langen dunklen Haare sind über das Kopfkissen gebreitet, und ihr Gesicht ist von Tränenspuren und Eyeliner verschmiert. Zwei Stunden sitze ich an ihrem Bett und betrachte meine hübsche Tochter. Sie sieht so friedlich aus. Was geht in ihr vor? Weshalb wacht sie nicht auf, obwohl die andere Patientin lärmend ins Zimmer kommt, in ihren Sachen kramt und die Tür knallend wieder hinausgeht? Ich möchte wissen, was für Medikamente man ihr gegeben hat. Ich möchte mit der Ärztin sprechen und fragen, welche Mittel es gegen Schizophrenie gibt. Ich möchte wissen, ob Lena unter ihrem »merkwürdigen« Verhalten leidet oder ob sie vielleicht Schmerzen hat. Ich fürchte, dass sie mir nie verzeihen wird, dass ich sie hierhergebracht habe, sie habe einsperren lassen. Aber ich weiß auch nicht, was ich anderes hätte tun können.

Auf meine Fragen sagt die Schwester, man habe Lena ein Beruhigungsmittel gegeben, damit sie erst einmal schläft. Alles Weitere könne ich dann im Gespräch mit den Ärzten klären. Nein, heute natürlich nicht mehr, aber morgen. Oder übermorgen, wann genau, könne sie nicht sagen, die Ärzte seien sehr beschäftigt. Ich solle einfach kommen und warten, bis die Ärzte Zeit hätten. Ich solle mir keine Sorgen machen, meine Tochter sei hier gut aufgehoben. Die Schwester ist nicht unfreundlich, scheint aber wenig interessiert, mir wenigstens kurz zu erklären, was hier vor sich geht. Sie verhält sich normal, aber für mich ist es keine normale Situation. Ich soll mir keine Sorgen machen, nachdem unser bisheriges Leben gerade zusammengebrochen ist?

In dieser Nacht kann ich nicht schlafen. Noch immer begreife ich nicht wirklich, was passiert ist. Ich telefoniere mit meinen anderen Kindern, ich rufe eine Freundin an. Alle sind erschüttert und ratlos. Bei anderen Krankheiten würde man sofort gute Ratschläge erhalten, Empfehlungen für Ärzte und aufmunternde Erfahrungsberichte. Aber nicht bei Schizophrenie. Es existiert kein Alltagswissen über Schizophrenie, niemand hat von der Großmutter, Lehrerin oder praktischen Ärzten Tipps bekommen, wie man sich bei einer psychischen Erkrankung verhält. Dabei ist es das, was ich jetzt brauche. Rat, Hilfestellungen, Informationen, Menschen, die meine Fragen beantworten und mir versichern, dass es gute Therapien gegen psychische Krankheiten gibt.

Am nächsten Tag muss ich wieder ein Seminar halten. Kurz überlege ich, ob ich es absagen soll, aber ich habe Angst vor den Konsequenzen. Ich weiß nicht, wie ich das Seminar mit verheulten Augen und innerlich zitternd durchstehen soll, aber es funktioniert überraschend gut. Vielleicht ist es sogar besser, dass ich nicht ständig über Lena nachdenken kann, sondern mich auch noch auf andere Aufgaben konzentrieren muss. Es dauert vier Tage, bis ich ein Gespräch mit einem Stationsarzt führen kann, er ist einfach zu beschäftigt. Ich wundere mich, dass es für die Ärzte nicht wichtig zu sein scheint, mit mir zu sprechen.

 

Meine Besuche in der psychiatrischen Klinik werden zu praktischen Übungen in Durchsetzungsvermögen. Ich lerne, beharrlich oder auch mal unfreundlich zu sein, bis ich einen Arzt dazu bringe, mit mir zu sprechen. Oder eine Schwester dazu zu überreden, mir ein Handtuch für Lena zu geben. Es braucht viel Zeit und Geduld, um auch nur zu erfahren, wann Besuchszeiten sind oder wo ich das Taschengeld für Lena hinterlassen soll. »Ich habe jetzt keine Zeit!«, tönt es aus dem Schwesternzimmer. »Kommen Sie später wieder.« Ich mache die Erfahrung, dass »später« ein äußerst dehnbarer Begriff sein kann. Aber ich brauche doch Informationen über Lenas Zustand, und ich muss mehr über ihre Krankheit wissen.

Das erste Gespräch mit einem Arzt ist dabei wenig hilfreich. »Was wollen Sie denn wissen?«, fragt Dr. C. kurz angebunden und guckt nervös auf seine Armbanduhr. Ich hatte angenommen, dass Ärzte einer Mutter, die ihre Tochter wegen einer psychischen Erkrankung im Krankenhaus...

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