Stress – das moderne Status-Symbol
Ende Januar veröffentlichte die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) den Stressreport 2012. Ein großer Aufschrei ging durch die Medien, wie katastrophal doch die Arbeitsbedingungen in Deutschland seien und dass Arbeit zunehmend krank mache. Zumindest latent wird damit die Schuld den Unternehmen und Führungskräften in die Schuhe geschoben. Betrachten wir das etwas differenzierter.
Der aktuelle Stressreport bestätigt, dass Mitarbeiter an erster Stelle unter Termin- und Leistungsdruck leiden. 52 Prozent der abhängig Beschäftigten bestätigen für sich diesen Druck, etwa zwei Drittel davon empfinden ihn als Belastung. Der Eindruck, dass diese Belastung in den letzten 6 Jahren zugenommen hätte, ist mit 5 Prozent Zunahme statistisch gesehen kaum haltbar. Dass die Belastung dennoch als sehr hoch wahrgenommen wird, scheint unstrittig und fordert zu Verbesserungen auf.
Termin- und Leistungsdruck
Beim Termindruck ist die zeitliche Komponente der wesentliche Einflussfaktor. Beim Leistungs-druck sind es Anforderungen an die Qualität. Dabei gibt es Wechselwirkungen: Hohe Leistungsqualität erfordert Zeit. Zeitlicher Druck geht zu Lasten der Qualität. Es sind zwei Komponenten, die nicht isoliert betrachten werden können.
Eine weitere, bedeutsame Facette: Die Anforderungen an Arbeitnehmer werden nicht ausschließlich vom Vorgesetzten oder vom Unternehmen definiert. In nicht unerheblichem Umfang definiert der Mitarbeiter eigene Anforderungen. Sind diese auch mit besonderen Erwartungen verknüpft, können sie – wenn sie nicht erfüllt werden – möglicherweise zu psychischen und psychosomatischen Erkrankungen führen.
Eigene Anforderungen
Streng Dich an!
Eine Überzeugung vieler Menschen ist: „Du musst Dich anstrengen!“, „Ohne Fleiß keinen Preis!“ oder auch: „Je gehetzter, um so wichtiger!“ oder „Man darf sehen, dass ich viel zu tun habe!“
Die ersten beiden Überzeugungen sind eher an eigene Leistungserwartungen, die letzten beiden an das eigene Image und Ansehen gebunden. In beiden Fällen gibt es das Paradoxon: Je schlechter es mir geht, um so besser ist es (für mich, für mein Ansehen, für meine Karriere, für mein Einkommen, …).
Was würden Sie von einem Menschen halten, den Sie immer lächelnd, fröhlich und völlig entspannt wahrnehmen, und der scheinbar überhaupt gar keinen Stress empfindet. „Der arbeitet ja gar nicht richtig. Der sollte mal meinen Job machen. Da wird noch richtig was verlangt. Wenn ich nach Hause komme, bin ich einfach nur völlig fertig. Aber der, der hat ja ein tolles Leben. …“
Solange wir eine Kultur pflegen, in der märtyrerhafte, quasi masochistische Selbst-kasteiung als ein erstrebenswertes Ideal gesehen wird, sind wir mit Sicherheit auf dem falschen Weg.
Bloß keinen Fehler machen!
Eine zweite Glaubensüberzeugung ist, dass wir als Mitarbeiter bloß keinen Fehler machen dürfen. Wir werden angreifbar und wirken nicht mehr verlässlich. Diese innere Überzeugung habe ich ganz häufig bei Experten erlebt. Diese leben vor allem vom Image, perfekt zu sein. Dabei wird die Verantwortung für diese Überzeugung vom Betroffenen gerne auf das Unter-nehmen verlagert und mit der Bedeutsamkeit und Verantwortung der Aufgabe verbunden. Auch das steigert die wahrgenommene „Wichtigkeit“ des Mitarbeiters.
Sind dies die moderenen Statussymbole?
Alles auf einmal!
Die dritte innere Überzeugung lautet: ,Alles auf einmal.“, ,Je mehr Themen ich auf dem Tisch habe, um so wichtiger bin ich.“ Auch hier ist es wieder eine persönliche Strategie, das eigene Ansehen zu fördern.
Was denken Sie, wenn Sie in ein Büro kommen, einen aufgeräumten Schreibtisch und einen entspannt lächelnden Mitarbeiter vorfinden? „Der ist doch gar nicht ausgelastet. Der sollte wirklich mal Gas geben.“ Ist Ihr Eindruck nicht positiver, wenn Sie einen Mitarbeiter vorfinden, dessen Schreibtisch sich unter der Last von Akten bereits durchbiegt und der wie von der Hummel gebissen möglichst gleichzeitig mit den Akten, seinem Telefon, seinem elektronischen Postfach und jetzt auch noch mit Ihnen beschäftigt ist? Der ist doch wirklich ein Hochleister! Wirklich?
Fremde Anforderungen
Auch wenn ich überzeugt bin, dass die eigenen Anforderungen den wesentlichen Teil des Stresses ausmachen, dürfen wir die „fremden“ Anforderungen nicht außer Acht lassen. Dies sind Anforderungen, die das Unternehmen bzw. Sie als Vorgesetzter an Ihre Mitarbeiter stellen.
Zum Einen bin ich davon überzeugt, dass viele Prozesse einfacher gestaltet werden und viele Aufgaben ersatzlos wegfallen können, und außerdem Bürokratie reduziert werden könnte. Letzteres ist nur deshalb entstanden, weil Vorgesetzte mehr Kontrolle – in Ersatz für Vertrauen – haben wollten.
In Unternehmen stellen wir immer wieder die Frage nach der Effizienzsteigerung. Lean Management beginnt jedoch davor mit der Frage nach Effektivität: Was muss ich überhaupt (selbst) tun? Denn viele Dinge können ersatzlos entfallen, delegiert oder outgesourct werden.
Darüber hinaus erlebe ich oft, dass Anforderungen nicht klar formuliert sind. Aus neurobiologischer Sicht benötigen wir hier mehr Klarheit, nicht nur zu den geschäftlichen Zielen, sondern auch zu den Erwartungen an die Mitarbeiter. Gerade hier gibt es einen eklatanten Unterschied zwischen tatsächlicher Erwartung durch den Vorgesetzten und der vermuteten Erwartung durch den Mitarbeiter. Nur wenn es kongruente Erwartungen gibt, also weder Abweichungen nach oben noch nach unten, sind die Anforderungen auch gehirnphysiologisch geklärt.
Wie entsteht Stress überhaupt?
In der Stressforschung hat sich u. a. das Belastungs-Beanspruchungs-Konzept etabliert. Die Belastung ist die (eigene oder fremde) Anforderung an den Mitarbeiter. Die Beanspruchung ist die Folge aus der Belastung und den verfügbaren Ressourcen. Dabei geht es insbesondere um die persönliche Überzeugung hinsichtlich verfügbarer Ressourcen. Allein die Tatsache, dass ich jeden Tag 200 eMails erhalte und beantworten muss, stresst noch nicht. Erst wenn der Mitarbeiter glaubt, dass er das nicht schafft, wird er Stress empfinden.
Im Stressmanagement wird deshalb möglichst an beiden Komponenten gearbeitet: Einerseits versucht man, die Belastung zu reduzieren (z. B. elektronische Vor- und Aussortierung von eMails), andererseits stärkt man die Überzeugung, den Anforderungen gerecht zu werden bzw. stellt dem Mitarbeiter entsprechende Ressourcen und Kompetenzen zur Verfügung (Coping).
Was können Sie als Vorgesetzter tun?
Ziele und Erwartungen gehirngerecht formulieren.
Damit das Gehirn Ihrer Mitarbeiter die gestellten Ziele und Erwartungen gut verarbeiten kann, müssen diese gehirngerecht formuliert sein. Dazu gehört:
– Ziel oder Erwartung immer als Ergebnis beschreiben, so als wäre es bereits erreicht.
– Ereignis festlegen, an dem erkennbar wird, dass das Ziel erreicht wurde.
– Möglichst gleichzeitig den visuellen, auditiven und emotionalen Wahrnehmungskanal ansprechen.
Sicherstellen, dass das Ziel selbst erreichbar ist.
– Konsequenzen der Zielerreichung prüfen.
– Aufmerksamkeit auf anforderungsgerechtes Verhalten lenken.
Sobald Ihre Anforderungen, im Sinne von Zielen und Erwartungen, klar formuliert sind, sollten Sie im Normalfall nur dem Verhalten Aufmerksamkeit schenken, das anforderungsgerecht ist, also zieldienlich und erwartungsadäquat. Lediglich bei groben Verstößen sind ernste Feedbackgespräche zu führen. Schenken Sie gewünschtem Verhalten (positive) Aufmerksamkeit.
Stressförderliches Verhalten transparent machen.
Weisen Sie Ihre Mitarbeiter auf Verhaltensweisen hin, die Sie als stressförderlich ansehen. Dazu gehört beispielsweise
– Pausen durcharbeiten,
– unnötige (!) Überstunden und Wochenendarbeit,
– Erreichbarkeit während der Freizeit,
– jederzeit sofortige Antwort auf eMails von Ihnen (Postfach scheint ständig geöffnet zu sein),
am Arbeitsplatz essen.
Dies betrifft auch Verhalten außerhalb der Arbeitszeit: PricewaterhouseCoopers beziffert beispielsweise in einer Studie die Zunahme von Online und Mobile Games von jährlich durchschnittlich 15,7 und 18,6 Prozent. Längst ist dies nicht mehr nur ein Thema der Jugend und der Kinder. Diese Spiele haben den großen Nachteil, dass sie vermeintlich soziale Zugehörigkeit vorgaukeln. Während bei „realen Gesellschaftsspielen“ persönlicher Kontakt zu anderen besteht, kommt es bei den mobilen und internet-basierten Spielen zu sozialer Isolation und außerdem zu Realitätsverlust. Gleichzeit besteht ein hohes Aktivitätsniveau in Richtung „Gewinnen wollen“ (Leistungsqualität) und dies möglichst schnell (Leistungszeit). Damit steigern diese Spiele zusätzlich den wahrgenommenen Termin- und Leistungsdruck. Dies reduziert die tatsächliche Erholungszeit.
Kompensative Aktivitäten empfehlen und vorleben.
Ein gesundes Leben besteht aus Anspannung und Entspannung. Je höher (besser: herausfordernder) die Anspannung ist, um so wichtiger wird die Entspannung.
Im Gegensatz zur landläufigen Meinung, ist Fernsehen in keiner Weise zur Erholung geeignet. Einerseits hat dies mit der Bildfrequenz zu tun, die im Gehirn ein starkes Anspannungsmuster auslöst. Andererseits wird der Zuschauer überwiegend mit belastenden und negativen Informationen konfrontiert.
Im Übrigen ist nachgewiesen, dass Fernsehen die Selbstwirksamkeitsüberzeugung schwächt. Das wiederum schwächt die Stressverarbeitungskompetenz und wir fühlen uns dem Lauf der Welt schutzlos ausgeliefert.
Sport und Bewegung gehören als Erholungsmaßnahme zu einer gesunden beruflichen Tätigkeit dazu. Es werden Stresshormone abgebaut und das Herz-Kreislauf-System und die Immunabwehr werden gestärkt. Außerdem bewirkt z. B. regelmäßiges Joggen bereits nach 10 Wochen eine deutliche Steigerung der Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Es wirkt also präventiv gegen Stress.
Helfen Sie sich und Ihren Mitarbeitern, in dem Sie Vorbild sind.
Zu einer guten Kompensation gehört auch ein gutes Repertoire an Freizeitaktivitäten, die zur Arbeitsaufgabe komplementär sind. Dabei sind Aktivitäten in sozialen Kontexten ressourcenstärkend.
Tun Sie (sich) selbst Gutes und reden Sie darüber.
Fazit
Psychische und psychosomatische Erkrankungen sind weiter auf dem Vormarsch. Das ist ein guter Grund, den Fokus auf Gesundheit zu richten – und zwar nicht auf Gesundheit, als Abwesenheit von Krankheit.
Führungskräfte sollten ihren Mitarbeitern dabei beispielhaft voran gehen. Insbesondere sollten sie einem gesunden Engagement, dem Ausgleich zwischen Anspannung und Entspannung, sowie einem aktiven Erholungs- und Freizeitverhalten besondere Aufmerksamkeit schenken und dies bei ihren Mitarbeitern anerkennen.
Führungskräfte der Zukunft definieren ihren Status nicht über Arbeitszeit, maximalem Stress und einen übervollen Terminkalender.
Das Status-Symbol der Zukunft ist ein ausgeglichenes und entspanntes Wesen.
Nur so ist überhaupt erst wahre Leistung möglich.
Autor:
Marcus Hein (geboren 1966) ist Trainer und Coach für Führungskräfte mit dem Schwerpunkt „Healthy & Inspired Leadership“. Er ist Autor verschiedener Fachartikel und des eBooks „Inspired Leadership“.
Quellen:
Bartmann, Ulrich (2009). Laufen und Joggen für die Psyche. dgvt-Verlag, Tübingen.
Lohmann-Haislah, Andrea (2012). Stressreport 2012. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund.
http://www.pwc.de/de/pressemitteilungen/2012/milliardenspiel_hart_umkaempftes_wachstum_auf_dem_deutschen_videogames_markt.jhtml
http://www.rp-online.de/gesundheit/stress/deutsche-haben-immer-mehr-stress-im-job-1.3153374
http://www.sueddeutsche.de/karriere/psychische-belastung-am-arbeitsplatz-was-die-deutschen-stresst-1.1585927
Academy for Excellence in Leadership
Marcus Hein ist Leiter der Akademie. Er trainiert und coacht Führungskräfte hin zu einem gesunden und gehirngerechten Führungsverhalten, dass hoch effizient ist. Teilnehmer der Seminare sind Führungskräfte des mittleren und oberen sowie des Top-Managements.
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