Wo stehe ich gerade und wo will ich eigentlich hin? Das fragen sich viele Menschen ab Mitte 40. In den 70er-Jahren hat die amerikanische Autorin Gail Sheehy den Begriff Midlife-Crisis (Krise in der Mitte des Lebens) für dieses Phänomen geprägt. Umgangssprachlich meint man damit einen psychischen Zustand der Unsicherheit im Lebensabschnitt zwischen etwa Ende 30 und Anfang 50. Landläufig schreibt man die Midlife-Crisis gerne Männern zu, die sich in ihren „besten Jahren“ plötzlich einen Sportwagen oder eine junge Freundin zulegen – manchmal auch beides. Dass auch Frauen von einer Midlife-Crisis betroffen sein können, und dass diese auch in anderen Lebensphasen auftreten kann, erklärt der Psychologe Dr. Tobias Haupt von psycheplus – und gibt wertvolle Anregungen, wie Betroffene die Krise als Chance nutzen können.
„Wissenschaftlich wurde die Existenz einer Midlife-Crisis nie nachgewiesen“, betont Dr. Haupt, „dennoch wird sie bei vielen Männern und Frauen weltweit beobachtet.“ Häufig deckt sich ihr Auftreten mit den Wechseljahren: Die hormonelle Umstellung um die Lebensmitte betrifft nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Bei Frauen sinkt nach der Menopause der Östrogenspiegel, bei Männern ab 40 die Testosteronproduktion. Betroffene klagen etwa über eine Abnahme der Libido, Hitzewallungen, Gewichtsveränderungen, erschlaffendes Bindegewebe und schütteres Haar sowie über eine Reihe von psychischen Symptomen. Diese reichen von Schlafstörungen und rascher Ermüdung über Nervosität bis hin zu Stimmungsschwankungen, die sogar die Form einer Depression annehmen können. „Betroffene sollten sich in dieser Lebensphase bewusster beobachten und länger andauernde Niedergeschlagenheit und Verstimmung unbedingt ernst nehmen“, warnt Dr. Haupt. „Die Gefahr ist hier nämlich besonders groß, eine ernsthafte Depression zu spät zu erkennen, weil man sie schlicht für ein Symptom der Midlife Crisis hält.“
Wen trifft die Sinnkrise – und warum?
Typische Betroffene sind zwischen 40 und 50, haben einen geregelten Job, eine Familie – und kämpfen nicht selten mit familiären Belastungen, weil die Kinder gerade das Elternhaus verlassen oder ein Elternteil pflegebedürftig wird. Gleichzeitig wecken die tiefer werdenden Falten im Gesicht, die grauen Haare und die nachlassende körperliche Fitness die Sorge, dass der Zenit des Lebens überschritten sein könnte. „Die Erkenntnis, dass viele Ziele nicht erreicht wurden und auch künftig nicht mehr zu erreichen sind, führt oft zu Unzufriedenheit, Stimmungsschwankungen und Gereiztheit“, erläutert der Psychologe. Der Psychoanalytiker C.G. Jung verglich die Krise der Lebensmitte deshalb sogar mit der Pubertät, sind doch beide Lebensphasen von Unsicherheit und Zweifeln gekennzeichnet. Die Hormonumstellung kann die Psyche zusätzlich belasten – und das Gefühl einer tiefen Sinnkrise verstärken. „Eine wichtige Rolle beim Zustandekommen einer Lebenskrise spielen das Selbstwertgefühl und die innere Stabilität“, erläutert der psycheplus Experte. „Wer glaubt, viel versäumt zu haben, mit seiner bisherigen Lebensleistung unzufrieden oder sehr am Schönheitsideal orientiert ist, ist besonders anfällig dafür, an diesem Punkt eine persönliche Krise zu erleben.“
Die Midlife-Crisis als Reifeprozess
Viele reagieren darauf mit einer radikalen Veränderung ihres Lebensstils, erfüllen sich einen lang gehegten Traum oder versuchen, sich zu beweisen, dass sie noch nicht zum „alten Eisen“ gehören. Weil die Lebensmitte eine Zeit der Überprüfung alter Muster und Werte ist, hinterfragen sowohl Männer als auch Frauen persönliche Grundverträge: Nicht wenige brechen in dieser Phase aus langjährigen Partnerschaften aus und entdecken mit einem neuen, oft jüngeren Partner frische Lebensenergie. „Prinzipiell ist es wichtig, von Zeit zu Zeit zurückzuschauen, Bilanz zu ziehen und bewusste Weichenstellungen je nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen für die Zukunft vorzunehmen“, betont der psycheplus Experte. Im Schnitt erreichen wir alle zehn Jahre diesen Punkt, aus dem sich – praktisch in jeder Lebensphase – eine Sinnkrise entwickeln kann. Aber ohne derartige Herausforderungen keine Reife, so Dr. Haupt: „Krisen helfen uns dabei, das Leben immer wieder zu überdenken und neu zu gestalten. Nur wer sich Veränderungen und ihren tieferen Ursachen stellt, kann sich auch weiter entwickeln.“ Viele Frauen um die 60 berichten entsprechend, dass sie im Zuge der Wechseljahre zu einem ganz neuen Selbstbewusstsein gefunden haben und zufriedener sind als je zuvor. Männer erleben sich nach bewältigter Krise oft als gelassener, entspannter und weniger fremdbestimmt.
So wird die Krise zur Chance
Um die Krise zu meistern und daran zu wachsen, ist es für die Betroffenen wichtig, ihre Lebenssituation möglichst nüchtern zu analysieren: Wo stehe ich gerade, was wünsche ich mir, welche Möglichkeiten stehen mir offen – und zu welchem Preis? „Wie auch immer die Antwort ausfällt: Diese Auseinandersetzung bietet eine große Chance, die nächste Lebensphase bewusster, besser, anders zu gestalten“, erklärt Dr. Haupt. Es ist deutlich einfacher, eine Krise zu meistern, wenn man sie akzeptiert und als Initialzündung für Verbesserungen verstanden hat.
Voraussetzung für Veränderungen sollte immer eine solide Bestandsaufnahme sein. Die Bilanz sollte neben den Zukunftszielen unbedingt auch die bisher erreichten Ziele würdigen. Dr. Tobias Haupt rät Betroffenen deshalb: „Vermeiden Sie einen ungerechten Tunnelblick, der nur das Versäumte oder die Misserfolge fokussiert. Konzentrieren Sie sich ruhig auch einmal bewusst auf das Erreichte – und seien Sie stolz darauf!“ Auch das kann den Entscheidungsdruck verringern und dem Betroffenen Selbstsicherheit zurückgeben.
Paare sollten in dieser Situation das offene und ehrliche Gespräch miteinander suchen. Vielleicht hat man in den zurückliegenden, hektischen Jahren nur den Draht zueinander verloren – und kann durch neue, gemeinsame Interessen, mehr Zärtlichkeit oder mehr individuelle Freiräume eine neue Basis für die Zweisamkeit finden. Nicht immer wiegt der Zauber einer neuen Beziehung die tiefe Vertrautheit einer langjährigen Ehe auf.
In jedem Fall sind aufgeschobene Bedürfnisse und nicht realisierte Träume kein Grund zum Verzweifeln: „Manche machen noch mit 70 ihren Tauchschein, andere heiraten mit 65 nochmals oder schreiben ihr erstes Buch“, weiß der Psychologe. „Es ist nie zu spät, einen Lebenstraum in die Tat umzusetzen – und die vorhandene Lebenserfahrung durch neue Eindrücke zu erweitern.“
Weitere Informationen unter www.psycheplus.de