von Alexander Rahr
2011 finden in Russland Parlamentswahlen, Anfang 2012 Präsidentschaftswahlen statt. Es wird immer wahrscheinlicher, dass Wladimir Putin in den Kreml zurückkehrt. Premierminister Putin und Staatspräsident Dmitrij Medwedew rivalisieren momentan gegeneinander in einer Art »Primary « um die Gunst der Bevölkerung. Im Sommer nächsten Jahres wird einer von ihnen von der Partei Einheitliches Russland zum Spitzenkandidaten gekürt werden. Putin ist Chef der Partei der Macht, und Putin und Medwedew unterscheiden sich in ihren politischen Ansichten voneinander.
Während der konservative Putin eine Modernisierung des Landes durch eine staatliche Oberaufsicht favorisiert, fordert der als liberal geltende Medwedew neben Wirtschaftsreformen auch eine Erneuerung des politischen Systems. Medwedew konnte sich bislang aber nicht von seinem Mentor Putin emanzipieren. Putin lässt keinen Zweifel daran, dass er auch nach seinem Weggang aus dem Kreml 2008 als Premierminister die Politik und Wirtschaft Russlands steuert. Damit läuft er aber Gefahr, das Präsidentenamt als Institution zu demontieren. Eine dritte Präsidentschaft Putins würde in der Bevölkerung als positiver Schritt in Richtung mehr Stabilität aufgefasst werden.
Für viele Beobachter im Westen würde eine Rückkehr Putins das Ende der demokratischen Erneuerungen bedeuten, die Medwedew – wenn auch sehr zaghaft – anzustoßen versucht hatte.

Putin gegen Medwedew

Derzeit dominiert die Person Putin in allen russischen Fernsehnachrichten. Während der Waldbrände im Sommer trat er als Retter in der Krise auf. Generös verteilte er Geschenke an notleidende Bürger aus der Staatkasse. Medwedew wurde dagegen in den Medien nur am Schreibtisch sitzend gezeigt – als braver Bürokrat. Zum ersten Konflikt der beiden Anführer kam es im August, als Medwedew sich dem Druck der Demonstranten gegen die Abholzung eines Waldstückes für den Bau der Autobahn zwischen Moskau und Sankt Petersburg im Norden von Moskau beugte und eine Revision des Bauvorhabens anordnete. Putin erklärte, die Straße werde trotzdem gebaut und fügte hinzu: Jeder, der sich an einer illegalen Demonstration beteilige, müsse damit rechnen, »einen mit dem Knüppel auf die Rübe« zu bekommen. Als sich der Moskauer Oberbürgermeister Jurij Luschkow an der Seite Putins in den Konflikt einmischte, drohte ihm Medwedew mit der Entlassung. Die Herrschaftselite Russlands machte in den vergangenen Wochen keinen geschlossenen Eindruck, die Bürokratie versteht nicht, wie sie mit der Existenz von zwei Kommandozentren umgehen soll. Anfang September trafen sich Putin und Medwedew im Rahmen zweier unterschiedlicher Foren mit ausgewählten ausländischen Politologen. Während Putin die Mitglieder des Waldai-Klubs am 6. September zu sich nach Sotschi kommen ließ, um ihnen bei einem luxuriösen Abendessen seine Strategie für die Entwicklung Russlands zu erklären, lud Medwedew die ausländischen Wissenschaftler vom 8. bis 10. September nach Jaroslawl ein, um ihnen in einer Grundsatzrede zu versichern, dass Russland von der Demokratie nicht abrücken werde. Die Experten gewannen den Eindruck, dass in Russland der Wahlkampf für 2012 eingeläutet werde und dass beide – Putin und Medwedew – Ambitionen auf das erste Amt besäßen. Kaum jemand glaubt jedoch, dass Medwedew sich gegen Putin durchsetzen kann. Mit anderen Worten: falls Putin wieder Präsident werden will, wird er, auch angesichts der Tatsache, dass er die Medien stärker kontrolliert als Medwedew, sich dieses Amt zurückholen. Oder das jetzige Tandem wird bestehen bleiben – jedoch mit größeren Vollmachten des Premierministers und einer schwächer werdenden Institution des Präsidenten.

Putins Plan
Auf welches Russland muss sich der Westen nach 2012 einstellen? Putins dreistündiger Auftritt vor dem Waldai-Klub war an Selbstvertrauen kaum zu übertreffen. Aus seiner Sicht ist Russland auf gutem Wege, die einseitige Rohstofflastigkeit seiner Wirtschaft abzuschütteln. Die Modernisierung würde fortgesetzt, ausländisches Kapital verstärkt ins Land geholt. Anders als Medwedew favorisiert Putin die enge strategische Partnerschaft mit Asien als Gegengewicht zur Kooperation mit dem Westen. Die EU mit ihrer werteorientierten Außenpolitik ist ihm lästig. Putin scheint vielmehr vom chinesischen Modell fasziniert zu sein. Russland
baut gegenwärtig eine neue Verkehrs- und Industrieinfrastruktur in Fernost und möchte sich, so Putin, ab 2012 verstärkt in die Wirtschaftsorganisationen Asiens, wie die APEC, integrieren. Putin will Russland neben China und den USA als Hauptarchitekten der neuen Weltordnung positionieren.
Russlands Großmachtstatus soll durch die Wiedergewinnung der verlorenen Einflusssphäre im postsowjetischenRaum hergestellt werden. Die Energieabhängigkeiten der ehemaligen Sowjetrepubliken werden für dieses Ziel instrumentalisiert. Ein einflussreicher russischer Vizepremier beschrieb im Waldai-Klub den Plan so: Moskau solle zu einem Weltfinanzzentrum aufsteigen, der Rubel zu einer globalen Leitwährung werden. Ganz wichtig sei die Gründung der Zollunion aus reintegrationswilligen GUS-Staaten, der alsbald der Aufbau eines »Einheitlichen Wirtschaftsraums« und schließlich eine Währungsunion, vorzugsweise der Länder Russland, Ukraine, Belarus und Kasachstan folgen soll. Mit der EU wünsche sich Russland einen gemeinsamen – nicht einheitlichen – Wirtschaftsraum: eine Freihandelszone ohne Visabarrieren.
Die Beziehungen zur EU werden durch die Energieaußenpolitik geprägt bleiben. Aus Putins Sicht ist Russland hier der große Gewinner in der Krise. Die globale Wirtschaft wachse, die Nachfrage an Rohstoffen und Energieträgern steige, an der Struktur des Energieverbrauchs würde sich in Europa langfristig nichts ändern, es gebe keine echte
Alternative zum russischen Gas. Da alternative Energiequellen erst in Jahrzehnten erschlossen würden, brauche die EU sichere Gaspipelines aus Russland. Die Nord-Stream sei fast fertig, als Nächstes würde die South-Stream gebaut. Russland habe gut funktionierende Energieallianzen mit der Türkei – als dem künftig wichtigsten Transitland für Gas von Ost nach West – sowie mit China. An die Realisierung der Nabucco-Gasleitung glaubt Putin nicht, weil für sie kein Gas zur Verfügung stehe. Als beispielsweise neulich Terroristen eine Gasleitung aus dem Iran in die Türkei gesprengt hätten, sei Russland eingesprungen und habe die Türkei mit zusätzlichem Gas beliefert. Kann Russland seine Modernisierung ohne ausländische Investoren durchführen? Putin antwortet ausweichend. Er glaubt, dass die russische Investitionsgesetzgebung liberaler sei als die westliche. Die Frage der Korruption umgeht er. Der Energiesektor werde in den nächsten Monaten gänzlich für ausländische Investoren geöffnet. Russland hoffe auf den Einstieg westlicher Firmen in die russische Atomindustrie. Die Firma Siemens sei bereits ein Vorreiter. Im sensiblen Militärbereich dagegen blieben die Restriktionen aufrecht erhalten. Russland ist sichtlich froh über die Beendigung der Gaskonflikte mit der Ukraine. Diese hat jetzt dem Weiterverbleib der russischen Schwarzmeer-Flotte auf der Krim zugestimmt und dafür verbilligte Gaslieferungen zugesichert bekommen. Dem ukrainischen Vorschlag aber, Gazprom Anteile am ukrainischen Gastransitnetz zu überlassen und dafür den eigenen Status als Haupttransitland für Gaslieferungen in den Westen zu erhalten, will Moskau nicht folgen. Stattdessen will die russische Regierung der Ukraine eine Beteiligung im Nord- Stream- und South-Stream-Konsortium anbieten und sie in den russischen Gesamtenergiekomplex einbinden. Medwedew und Barack Obama konnten die russisch-amerikanischen Beziehungen trotz des Georgien-Konflikts, der 2008 beinahe zu einem neuen Kalten Krieg geführt hatte, auf ein neues partnerschaftliches Niveau heben. Putin, der Obama während des letztjährigen Waldai-Treffen
noch skeptisch gegenüber stand, meinte jetzt, zwischen ihm und dem amerikanischen Präsidenten »herrsche beeindruckende Eintracht«, was die Sicht auf die globalen Herausforderungen angehe. Außenminister Sergej Lawrow betonte im Waldai- Klub, Russland könne sich eine gemeinsame Raketenabwehr der USA und Russlands gegen
potenzielle Gefahren aus dem Süden vorstellen. In Afghanistan fungiere Russland praktisch schon als Verbündeter des Nordens (NATO) gegen den Süden (islamischer Extremismus), indem es sein Territorium für Militärtransportflüge zur Verfügung stelle. Russland sei bereit, ein Siebtel der Kosten für den Wiederaufbau Afghanistans zu tragen. Dies sind, wenn man Putin zuhört, die wesentlichen Konturen einer künftigen russischen Politik. Für den Westen bieten sie keine Überraschung. Russland wird bei globalen Herausforderungen in vielen wichtigen Fragen an der Seite der USA und EU stehen, aber auch rigoros seine Großmachtambitionen verfolgen wollen. Doch auch wenn es für Moskau schmerzlich klingt: Für den Westen ist Russland heute keine Priorität. Russlands eigene Ambitionen werden im krassen Widerspruch zu seinen
Möglichkeiten gesehen.

Beziehung Russland–Westen
Im Juni 2008 machte Präsident Medwedew während seiner ersten Auslandsreise nach Westen – nach Berlin – den Vorschlag, eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur zwischen Europa, den USA und Russland zu errichten. Später wurde sein Vorschlag dahingehend konkretisiert, dass Moskau sich einen Sicherheitspakt zwischen der NATO und Russland vorstellen könne. Der Vorschlag Medwedews richtete sich vor allem gegen eine weitere Ausdehnung der NATO auf den ehemals sowjetischen
Raum. Der Westen befand sich in einem Dilemma. Einerseits durfte er Russland keine eigene Einflusssphäre auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion zugestehen, andererseits benötigte er Russland in der globalen Sicherheitspartnerschaft. Welche Antwort sollte er Medwedew geben? Auf dem Jaroslawler Forum wurde, im Beisein
der engsten Präsidentenberater, die Diskussion über einen möglichen euroatlantischen Sicherheitsvertrag fortgesetzt. Einer der einflussreichsten Medwedew-Berater, Igor Jürgens, favorisierteeinen schrittweisen Beitritt Russlands zur NATO. Westliche Experten beriefen sich auf die gleichen Vorschläge aus Deutschland, die aus dem Kreis
ehemaliger führender Militärs um Exverteidigungsminister Volker Rühe laut wurden. Russische und westliche Experten kamen überein, dass der Kalte Krieg wirklich zu Ende sei und sich beide Seiten auf künftige Herausforderungen wie Proliferation von Massenvernichtungswaffen, Rohstoffkrisen, Umweltkatastrophen und Terrorismus umstellen müssten. Bei der Bekämpfung dieser globalen Konflikte von morgen dürften sich Russland und der Westen auf keinen Fall gegenüberstehen. Im Waldai-Klub wurde ein neues russisches Projekt eines Großeuropas vorgestellt und debattiert. Moskaus Denkschulen glauben nicht an ein langes Leben der heutigen Europäischen Union. Wenn die EU aber von ihrem strengen »Acquis Communitaire « und Lissabonner Vertrag abrücke, könne sich Russland in Europa integrieren. Wie weit die Vorstellungen einer gemeinsamen europäischen Architektur voneinander entfernt sind, demonstrierte der deutsch-russische Gipfel im Juni 2010 im Schloss Meseberg. Bundeskanzlerin Angela Merkel unterbreitete Präsident Medwedew die Idee eines neuen EU-Russland-Rates für Außen- und Sicherheitspolitik. Ein äußerst mutiger Schritt der Bundeskanzlerin, denn er war mit den westlichen Verbündeten nicht abgesprochen. Merkels Vorschlag hatte jedoch einen Haken. Sie schlug Medwedew vor, im Rahmen des neuen Mechanismus den seit 20 Jahren schwelenden Transnistrien-Konflikt zu lösen. Der EU-Russland-Rat könnte sich beispielsweise über gemeinsame europäisch-russische Friedensmissionen einigen, die in Moldau ausprobiert würden.
Bekanntlich ist die Präsenz russischer Truppen in der moldauischen separatistischen Republik Transnistrien heute das größte Hindernis für die Ratifizierung des KSE-Vertrags durch die mittelosteuropäischen Staaten. Russland will jedoch seine Friedenstruppen in Transnistrien nicht durch europäische ersetzen lassen, weil Moskau damit seine Schutzmachtfunktion für die separatistische Republik verliert. Angesichts einer nicht mehr völlig auszuschließenden Wiedervereinigung Rumäniens
mit dem Hauptteil Moldaus würde die mehrheitlich aus Ukrainern und Russen bestehende Bevölkerung Transnistriens einen Anschluss an Großrumänien nicht akzeptieren. In dieser Frage könnten sich die Transnistrier der vollen Unterstützung Russlands sicher sein. Ein ranghohes Mitglied der russischen Regierung äußerte auf dem Waldai-Klub die Ansicht, dass Transnistrien nach der Spaltung Moldaus der Ukraine beitreten werde. Stehen Russland und der Westen in Moldau vor einem ähnlichen Konflikt wie 2008 in Georgien, der sofort wieder Assoziationen mit dem Kalten Krieg wecken würde? Konflikte im postsowjetischen Raum, zu denen neben Transnistrien Berg-Karabach, die Krim, Abchasien und Süd-Ossetien gehören, könnten sich gerade im ereignisreichen Jahr 2012 verschärfen — wenn Putin in den Kreml
zurückkehrt und in den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ein neokonservativer Republikaner Präsident Obama ablöst. Dies würde das jetzige Zeitfenster für die Annäherung zwischen Russland und dem Westen wieder schließen. Der Westen kann sich jedoch nicht in den russischen Machtkampf einmischen. Versuche von Politikern wie Obama, Medwedew den Rücken gegen Putin zu stärken, führten zu keinem Resultat. Die Wahrscheinlichkeit, dass Putin in Russland die Politik in den nächsten Jahren bestimmen wird, ist größer als die Perspektive einer vollwertigen Präsidentschaft Medwedews. Der Westen muss die strategische Partnerschaft nach 2012 mit Putin fortsetzen. Deshalb braucht der Westen ein gutes Arbeitsverhältnis zu Putin, auch wenn er lieber mit Medwedew kooperieren würde. Der Erfolg der USA-Russland Beziehungen hängt zum großen Teil von der Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten bei der Verhinderung des iranischen Atomwaffenprogramms ab. Im Übrigen braucht der Westen Russland bei der Lösung der gegenwärtigen globalen Herausforderungen. Die NATO wird in Afghanistan auch weiterhin auf eine Unterstützung durch Moskau angewiesen sein. Demnächst könnte ein strategischer Kooperationsvertrag zwischen der NATO und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (der GUS-Staaten) zur Friedenssicherung nach dem Abzug der NATO aus Afghanistan erfolgen. Dieser hat mehr Chancen auf konkreten Erfolg als Merkels Meseberg-Vorschlag zu Transnistrien. Eine Möglichkeit für die USA und die EU, auf Medwedews Vorschläge für eine neue euroatlantische Sicherheitsarchitektur einzugehen, liegt in
einer Stärkung der OSZE. Der 2009 eingeläutete Korfu-Prozess könnte den notwendigen Durchbruch bringen. Doch die Reform der OSZE müsste revolutionär sein, um Russland zufrieden zu stellen. Früher oder später könnte hier die Idee eines OSZE-Sicherheitsrats Realität werden. Dabei wäre eine dritte Präsidentschaft Putins für den Dialogkein Hindernis.

Alexander Rahr, Leiter des Berthold-Beitz-
Zentrums in der DGAP, Mitglied des Beirats des
Waldai-Klubs.
September 2010 | DGAPanalyse kompakt | Nr. 7
Herausgeber:
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