Dietmar Cuntz, Betreuungsrichter am Frankfurter Amtsgericht, erläutert die vielfältigen Aufgaben, die Betreuungsrichter sowie ehrenamtliche Betreuer und Berufsbetreuer in Pflegeheimen zu erfüllen haben. Da Erkrankungen im Alter zunehmen, erhalten Pflegeheimbewohner oft eine Vielzahl von Medikamenten. Wer ist – neben den Ärzten – zuständig, Medikamente im Pflegeheim zu prüfen? Dürfen Psychopharmaka als freiheitseinschränkender Maßnahmen eingesetzt werden? Diesen Fragen geht das Interview nach und bezieht die vor 10 Jahren veröffentlichte Frankfurter Studie „Psychopharmaka in Altenpflegeheimen“ ein und deren Wirkungen auf die Praxis von Pflegeheimen in Frankfurt.
Wann wird das Betreuungsrecht bezüglich freiheitseinschränkender Maßnahmen aktiv?
Hier gilt die maßgebliche Vorschrift des Paragrafen 1906 Abs. 4 BGB*. Es geht z. B. um einen Pflegeheimbewohner, an dem freiheitseinschränkende Maßnahmen durchgeführt werden sollen, auch gegen seinen Willen. Dieser Paragraf setzt voraus, dass ein Betreuer bestellt worden ist, der für den Aufgabenkreis Gesundheitssorge, Unterbringung und Aufenthaltsbestimmung zuständig ist.
Was sind freiheitseinschränkende Maßnahmen?
Eine typische Maßnahme ist etwa das Bettgitter. Wir haben im Pflegeheim zu begutachten, ob es freiheitsentziehend wirkt und ob diese Maßnahme erforderlich ist. Das gilt freilich nur für den Heimbewohner, der sich dazu selbst nicht mehr äußern kann. Kann er das und erklärt sich mit dem Bettgitter einverstanden, dann haben wir kein Problem. Ist dies aber nicht der Fall, dann beantragt der Betreuer das Bettgitter und wir prüfen dessen Anbringung, indem wir den Bericht der Betreuungsbehörde und weitere Gutachten einholen. Dabei wird immer geprüft, ob eine Sturzgefahr beim Betroffenen besteht, die durch das Bettgitter verhindert werden soll.
Wann werden Psychopharmaka freiheitsentziehend eingesetzt?
Als freiheitsentziehend wirken diese dann, wenn ein Mensch damit überwiegend beruhigt werden soll. In diesem Falle gibt es keinen medizinischen oder therapeutischen Grund für die medizinische Verordnung. Sie erfolgt nur deswegen, um die betreffende Person – etwa bei starkem Bewegungsdrang – vor sich selbst zu schützen oder Unruhezustände zu dämpfen. Psychopharmaka müssen immer ärztlich verordnet sein, auch für diesen Fall. Die Frankfurter Studie „Psychopharmaka im Pflegeheim“ hatte 2005 gezeigt, dass diese Medikamente häufig mit einer Bedarfsverordnung verabreicht werden. Das heißt, der Hausarzt oder der Neurologe legt fest, wann in bestimmten Phasen ein Psychopharmakum gegeben werden darf. Hier hat die Studie gezeigt, dass zu wenig angegeben wird, wann diese Bedarfssituation vorliegt. Es würden unspezifisch nur Zustände wie Unruhe oder Angst genannt, so die Studie. Je genauer ein Arzt beschreibt, wie sich die Bedarfssituation für eine Psychopharmakagabe darstellt, um so genauer wissen die Mitarbeiter des Heimes, was zu tun ist. Je unbestimmter die Angabe, desto größer die Anwendungsmöglichkeiten.
Kommt es vor, dass Psychopharmaka widerrechtlich freiheitsentziehend gegeben wurden?
Das kommt schon vor, aber doch sehr selten. Das hat damit zu tun, dass Psychopharmaka als freiheitseinschränkende Maßnahme nur dann eingesetzt werden können, wenn ein Betreuer diese Medikamente für eine im Pflegeheim lebende Person beantragt. Das Betreuungsgericht bestellt den Betreuer für eine Person, die im Pflegeheim lebt. Es obliegt dem Betreuer, bei uns einen Antrag auf Überprüfung einer freiheitsentziehenden Medikation zu stellen. Ohne Antrag werden wir nicht tätig. Wir müssen davon ausgehen, dass der Betreuer diese Angelegenheiten sorgfältig regelt und einen Überblick darüber hat.
Somit genießen gesetzliche, aber auch ehrenamtliche Betreuer viel Vertrauen.
Es zeigt sich, dass Heimbewohner zumeist sehr viele Medikamente verabreicht bekommen. Der Betreuer muss wissen, welche Medikamente sein Pflegeheimbewohner erhält, warum er Psychopharmaka einnimmt und ob diese mit Bedarfsmedikation versehen sind. Stellt der Betreuer fest, dass Psychopharmaka vorwiegend für die Beruhigung eingesetzt werden, dann müsste er uns die Frage vorlegen, ob die Medikation zu genehmigen ist. Wir untersuchen dann, ob eine freiheitsbeschränkende Wirkung vorliegt, indem wir ein Gutachten einholen. In den meisten Fällen stellte sich heraus, dass Psychopharmaka seitens der Hausärzte verordnet wurden. Diese haben darüber oft keine ausreichenden neurologischen Fachkenntnisse. Wir ließen diese Fälle nochmals von Neurologen begutachten, die zumeist zum Ergebnis kamen, dass die Dosierungen zu hoch waren und Nebenwirkungen nicht beachtet wurden. Fazit ist, man hätte mildere Mittel anwenden können, um zum Ziel der Beruhigung zu erlangen. Insgesamt beziehen Ärzte die Betreuer zu wenig in die Medikamentenverordnung ein. Berufsbetreuer, die z. B. Juristen oder Sozialarbeiter sind, schalten sich hierbei eher ein als ehrenamtliche Betreuer, die in der Regel Angehörige sind.
Die Psychopharmakastudie empfahl, verändertes Verhalten von Heimbewohnern darauf hin zu überprüfen, ob nicht Gründe wie Trauer oder Einsamkeitsgefühle vorliegen, die ja keine Krankheit sind. Haben Pflegeheime daraus gelernt?
Ich denke, einige Pflegeheime, die die Studie zur Kenntnis genommen haben und auch an den Ethikkomitees teilnehmen, setzen derartige Empfehlungen der Studie um. Das Franziska-Schervier-Altenpflegeheim fing damit an und andere Heime folgten diesem Beispiel, differenzierter auf Verhaltensänderungen und deren Gründe zu achten, um Psychopharmaka zu vermeiden.
In einem dpa-Artikel „Ein riesiges schwarzes Loch – Psychopharmaka im Altenpflegeheim“ hieß es im August 2014, dass bundesweit viele Heimbewohner lethargisch in ihren Stühlen säßen, weil sie durch zu viel Psychopharmaka stillgestellt seien. Es bestehe keine Forschung darüber. Treffen diese Aussagen zu?
So pauschal treffen sie nicht zu. Es gibt in Frankfurt zwar Heime, die nicht genug Personal haben und dadurch Bewohner weniger Ansprache haben. Deren Bewegungsdrang wird dann z. B. durch ein Steckbrett am Stuhl eingeschränkt. Treffen wir eine derartige Situation an, dann wird diese freiheitsentziehende Maßnahme überprüft und gefragt, ob dafür eine Genehmigung erteilt worden ist. Wir sprechen dann mit der Leitung des Hauses darüber. Falls sich an dieser Situation nichts ändert, haben wir die Möglichkeit, die Heimaufsicht zu verständigen. Wenn Heimbewohnern das Verlassen des Hauses etwa durch schwer durchschaubare Öffnungssysteme erschwert wird, was häufiger auftritt, dann melden wir das auch dieser Behörde.
Im genannten Artikel hieß es, dass der Sohn einer Heimbewohnerin veranlasst habe, die Psychopharmaka auszusetzen. Die Mutter sei sehr bald wieder fit gewesen.
Falls der Sohn auch Betreuer der Mutter war, dann konnte er anhand der Dokumentation überprüfen, ob in diesem Heim vermutlich nach Bedarfsmedikation zu oft Psychopharmaka verabreicht wurden und er konnte entsprechend handeln. Hier zeigt sich, dass sich Betreuer und auch Angehörige informieren müssen. Auch der Heimbewohner selbst kann beim Arzt fragen, ob seine Medikamente gerechtfertigt sind.
Welche weiteren freiheitseinschränkenden Maßnahmen überprüfen Betreuungsrichter?
Wir überprüfen bei einer Person im Heim, ob eine freiheitseinschränkende Maßnahme – z. B. Bettgitter, Steckbrett, Gurt oder auch Psychopharmaka – zu genehmigen ist. Bei nicht therapeutisch verordneten Psychopharmaka überprüfen wir mittels ärztlichen Gutachtens, ob das begründet ist. Das kann etwa der Fall sein, wenn der Tag-Nacht-Rhythmus des Bewohners gestört ist. Es kommt auch vor, dass ein Heimbewohner, der Medikamente ablehnt, diese ins Essen gemischt bekommt. Ein Betreuer beantragte einmal diese Maßnahme in der Hoffnung, dass der Betreute auf diese Weise das Medikament verabreicht bekomme. In diesem Verfahren musste nach Prüfung der Antrag zurückgewiesen werden. Seitens Betreuungsrecht sind wir so weit, dass wir derartige Anträge ablehnen, weil sie eine Art von Zwangsbehandlung darstellen. Sie kommen gegen den Willen des Heimbewohners durch eine List zustande, indem Medikamente im Essen verborgen werden. Das ist eine schwierige Situation für das Pflegepersonal im Heim. Es muss mit viel Geduld den Menschen motivieren, die Medikamente dennoch einzunehmen. Bei Ablehnung von Medikamenten muss aber auch geprüft werden, ob es sich um unabdingbare Medikamente wie Herz-Kreislauf-Mittel oder Diabetesverordnungen handelt. Hier setzen weitere Entscheidungskriterien des Betreuungsrechts ein, die sich auch gegen den Willen der Betroffenen richten können.
Haben Sie besten Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Beate Glinski-Krause
* * BGB § 1906 Abs. 4. unter Link:
http://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__1906.html
Zitat Abs. 4. und 5. * „Widerspricht eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 Nummer 2 dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in sie nur einwilligen, wenn der erhebliche gesundheitliche Schaden durch
4. keine andere dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und
5. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt“.
* Dietmar Cuntz ist Autor des 2013 erschienen Buches “Von der Vormundschaft zur gesetzlichen Betreuung“. Es ist im NORA-Verlag erschienen unter der ISBN-Nummer 978-3-86557-333-9. Der Autor bietet einen lesenswerten Überblick über „die Geschichte der Vormundschaft und Entmündigung und versucht aus den Erkenntnissen Rückschlüsse auf die heutige Rechtslage zu ziehen.“
Das FFA veröffentlicht unter anderem Pressedienste, Pressemitteilungen, Pressemappen. Diese werden je nach aktuellem Anlass produziert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Da das FFA ein Netzwerk von über 40 Pflegeunternehmen ist, die unterschiedlichen Trägern angehören, erstehen aus deren Zusammenarbeit Innovationen und kreative Ideen, die ohne diese Kooperation nicht entstünden nach den Grundsätzen:
1.Aus der Praxis für die Praxis
2.Kultur der Pflege ist Pflege der Kultur.
Kontakt
–
Beate Glinski-Krause
Wiesenau 57
60323 Frankfurt am Main
069-61994451
info@ffa-frankfurt.de
http://shortpr.com/aclgd2