Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Der Kläger hatte unverzollte und unversteuerte Zigaretten, die ohne deutsche Steuerzeichen außerhalb eines Steueraussetzungsverfahrens zu gewerblichen Zwecken aus einem anderen Mitgliedstaat in das deutsche Steuergebiet verbracht wurden, abgenommen, um diese weiterzuverkaufen. Diesbezüglich war das Finanzgericht der Auffassung, der Kläger sei als Empfänger i.S.d. § 19 Satz 2 TabStG a.F., der die Waren in Besitz genommen hat, und folglich als Steuerschuldner anzusehen.
Diese Auffassung wurde durch das Urteil des BFH bestätigt. Zunächst hatte der BFH den EuGH jedoch befragt, ob Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 RL 92/12/EWG unbeschadet seines systematischen Zusammenhangs mit Art. 7 Abs. 3 RL 92/12/EWG einer gesetzlichen Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der eine Person, die in einem anderen Mitgliedstaat in den steuerrechtlich freien Verkehr übergeführte verbrauchsteuerpflichtige Waren zu gewerblichen Zwecken in Besitz hält, nicht Steuerschuldner wird, wenn sie die Waren erst nach Beendigung des Vorgangs des Verbringens von einer andern Person erworben hat.
Daraufhin antwortete der EuGH mit Urteil vom 03.07.2014 (C-165/13): „Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 92/12/EWG […] in Verbindung mit Art. 7 der Richtlinie 92/12 ist dahin auszulegen, dass diese Vorschrift es einem Mitgliedstaat erlaubt, eine Person, die unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens im Steuergebiet dieses Staates zu gewerblichen Zwecken verbrauchsteuerpflichtige Waren in Besitz hält, die in einem anderen Mitgliedstaat in den steuerrechtlich freien Verkehr übergeführt worden sind, als Schuldner der Verbrauchsteuer zu bestimmen, selbst wenn diese Person nicht die erste Besitzerin der Waren im Bestimmungsland gewesen ist.“
Daraufhin befand der BFH, dass das FG zu Recht entschieden habe, dass der Kläger Steuerschuldner nach § 19 Satz 2 TabStG a.F. sei. Dies begründet der BFH wie folgt:
Eine Definition, wer als Empfänger der Ware anzusehen sei, ergibt sich aus dem Tabaksteuergesetz nicht. Der BGH (Urt. v. 02.02.2010 – 1 StR 635/09) habe einmal entschieden, dass der Begriff des Empfängers dahingehend auszulegen sei, dass eine Person dann nicht Empfänger i.S.d. § 19 Satz 2 TabStG a.F. sein könne, die den Besitz an den Tabakwaren erst nach Beendigung des Verbringungs- bzw. Versendungsvorgangs erlangt. Diese Auffassung sieht der BFH in seinem Urteil als zu eng an und weist darauf hin, dass der Begriff des Empfängers noch einer weiteren Auslegungsmöglichkeit unterliege. Nach Ansicht des BFH kann Empfänger i.S.d. § 19 Satz 2 TabStG a.F. auch derjenige sein, der in das Steuergebiet geschmuggelte Tabakwaren, die nach der Beendigung des Vorgangs des Verbringens bzw. Versendens nach Deutschland in hierfür bestimmten Verstecken gelagert worden sind, vom eigentlichen Verbringer oder Versender übernimmt, d.h. von diesem in Empfang nimmt, um sie im Steuergebiet an andere Personen zu veräußern. Denn als Empfänger könne nach Ansicht des BFH nach allgemeinem Sprachgebrauch jede Person verstanden werden, an die etwas Bestimmtes (Warensendung, Nachrichten, Signale etc.) gerichtet ist bzw. der etwas Bestimmtes übermittelt wird. Bei dieser Auslegung des § 19 Satz 2 TabStG a.F. sei zudem zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit den in § 19 Satz 2 TabStG a.F. getroffenen Regelungen die Umsetzung der einschlägigen Richtlinienbestimmungen – insbesondere der Art 7 und Art. 9 Abs. 1 RL 92/12/EWG – beabsichtige, so dass eine richtlinienkonforme Auslegung der Vorschrift geboten sei. Demnach kann der Meinung, dass der vermeintlich eindeutige Wortlaut des § 19 Satz 2 TabStG a.F. einer solchen Auslegung nicht zugänglich sei, nicht gefolgt werden. Der BFH begründet dies damit, dass der Gesetzestext mehrere Auslegungsmöglichkeiten zulasse und sofern – wie vorliegend – nur eine mit dem Unionsrecht vereinbar ist, diejenige Auslegung heranzuziehen sei, nach der die Norm nicht als unionsrechtswidrig einzustufen sei. Dies ist auch zu Lasten des Steuerpflichtigen zulässig.
Der EuGH habe weiterhin entschieden, dass für den Fall, dass unversteuerte verbrauchsteuerpflichtige Waren außerhalb eines Verfahrens der Steueraussetzung vorgefunden werden, der Besitz der betreffenden Ware eine Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr i.S.d. Art. 6 Abs. 1 RL 92/12/EWG darstelle (EuGH, Urt. v. 05.04.2001, C-325/99). Nach Ansicht des EuGH ist die Vorschrift dahingehend auszulegen, dass der bloße Besitz einer verbrauchsteuerpflichtigen Ware die Steuerschuldnerschaft begründet, wenn feststeht, dass die Ware noch nicht nach den geltenden gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Vorschriften versteuert worden ist. Dieser Rechtsgedanke lasse sich auf Art. 7 und Art. 9 Abs. 1 RL 92/12/EWG übertragen. Denn die Mitgliedstaaten haben dafür zu sorgen, dass eine in ihrem Steuergebiet vorgefundene und aus einem anderen Mitgliedstaat stammende verbrauchsteuerpflichtige Ware, für die die Steuer zwar entstanden, jedoch noch nicht entrichtet worden ist, nicht unversteuert bleibt. Nach dem Unionsrecht gehe es bei der Bestimmung des Steuerschuldners darum, denjenigen heranzuziehen, in dessen unmittelbarer Obhut eine Ware sich befindet und der deshalb anhand objektiver Umstände relativ leicht ausgemacht werden kann.
In Bezug auf Art. 7 und Art. 9 RL 92/12/EWG habe der EuGH entschieden, dass eine Auslegung, nach der die Steuerschuldnerschaft auf den ersten Besitzer der Ware begrenzt würde, dem Zweck der Richtlinie widersprechen würde. Daraus schließt der BFH, dass es den Mitgliedstaaten nicht möglich sei, eine nationale Regelung zu treffen, die es ausschließt, Personen als Schuldner der Verbrauchsteuer in Anspruch zu nehmen, die nicht die ersten Besitzer der Waren im Bestimmungsland gewesen sind. Daraus ergibt sich, dass Empfänger i.S.d. § 19 Satz 2 TabStG a.F. auch eine Person sein kann, die erst nach der Beendigung des Vorgangs des Verbringens aus einem anderen Mitgliedstaat im Steuergebiet Besitz an nicht mit deutschen Steuerzeichen versehene Zigaretten erlangt hat.
Offen lässt der Senat allerdings, ob § 19 TabStG a.F. (§ 23 TabStG n.F.) in steuerstrafrechtlicher Sicht – gerade im Hinblick auf § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO bzw. § 374 AO – den Anforderungen des Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes genügt.
Diese Entscheidung des BFH – und auch die zugrunde liegende Entscheidung des EuGH – bedarf jedoch genauer rechtlicher Überprüfung. Zunächst einmal hat der EuGH in seinem Leitsatz eine Frage beantwortet, die nicht gestellt wurde und die gestellte Frage nicht beantwortet. Dies hat er erst in seiner Begründung getan. Gefragt war nämlich danach, ob die Richtlinie 92/12 EWG einer nationalen Vorschrift entgegenstehe, wonach Steuerschuldner nicht ist, wer den Besitz der Waren erst nach Verbringung erlangt. Im Leitsatz äußert sich der EuGH dahingehend, dass Steuerschuldner auch derjenige sein kann, der den Besitz erst nach der Verbringung erlangt. Erst in den Gründen führt er aus, dass eine Begrenzung der Steuerschuldnerschaft auf den Erstbesitzer im Widerspruch zur Richtlinie stehe. Problematisch erscheint jedoch die Aussage des BFH, dass der Wortlaut des § 19 Satz 2 TabStG a.F. nur vermeintlich eindeutig sei. Dabei ist zunächst zu bemerken, dass nur das ausgelegt werden kann, was auch auslegungsfähig ist, mithin mehrere Deutungsmöglichkeiten hat. Dies erscheint bei § 19 Satz 2 TabStG a.F. (§ 23 Abs. 1 S. 2 TabStG n.F.) jedoch sehr zweifelhaft. Dort heißt es: „Steuerschuldner ist, wer die Lieferung vornimmt oder die Tabakwaren in Besitz hält und der Empfänger, sobald er Besitz an den Tabakwaren erlangt hat“. Dieser Wortlaut lässt jedoch gerade mit der Verbindung des ersten Teils des Satzes, also in Bezug auf die Lieferung, schließen, dass auch nur derjenige Empfänger ist, der Besitz durch Lieferung erlangt (so auch der BGH in seinem Urteil v. 02.02.2010 – 1 StR 635/09). Demnach scheint der BFH eine Vorschrift auszulegen, die nicht auslegungsfähig ist, da es einen eindeutigen Wortlaut gibt. Möglicherweise wollte sich der BFH aber auch der Frage entziehen, ob aufgrund europäischer Richtlinien Gesetze der Mitgliedstaaten über den Wortlaut hinaus „ausgelegt“ werden dürfen, wenn der nationale Gesetzgeber die Richtlinie „planwidrig unvollständig“ umgesetzt hat. Gerade im Bereich des Strafrechts – hier im Hinblick auf § 370 AO – dürfte dies jedoch nicht der Fall sein, da gemäß Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes immer noch gilt: Keine Strafe ohne Gesetz!
Rechtsanwalt Hildebrandt
Fachanwalt für Strafrecht u. zertifizierter Berater für Steuerstrafrecht (DAA)
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Torsten Hildebrandt