Buchneuerscheinung fordert neue Sichtweise der Erziehung

Das Verhalten von Kindern machte sie in der Evolution erfolgreich (Foto: Kosel Verlag)

Mannheim (pte/20.08.2009/06:00) – Eltern sollten gelassener reagieren, wenn sie das Verhalten ihrer Kinder nicht nachvollziehen können. Dahinter könnte sich eine Überlebenstaktik verbergen, die sich im Laufe der Evolution als erfolgreich herausgestellt hat. Zu diesem Schluss kommt der Mannheimer Kindermediziner Herbert Renz-Polster im jüngst erschienenen Buch „Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt“. Ohne ein wichtiges Thema auszusparen – von Koliken, Abstillen, Schlafen und Sauberwerden bis zur Moral- und Persönlichkeitsentwicklung ist alles vertreten – betrachtet der Autor die kindlichen Entwicklungsphasen mit der Brille der gesamten Menschheitsgeschichte. Alle wissenschaftlichen Studien dazu, die der Autor in mühsamer Kleinarbeit zusammengetragen hat, werden auf einer Begleithomepage www.kinder-verstehen.de näher ausgeführt. „Diese Sichtweise soll Eltern helfen, ihren Kindern auf ,natürlichere‘ Weise zu begegnen. Eltern können dann die Stärken ihrer Kinder besser wahrnehmen“, so Renz-Polster im pressetext-Interview.

Dass Kinder eine sehr hohe Kompetenz besitzen, mit ihrer Lebenswelt zurecht zu kommen, ist die zentrale Botschaft des Buches. „Kinder sind keine unfertigen Erwachsenen, sondern sind bereits perfekt ausgestattet, um die Herausforderungen ihrer Entwicklung zu meistern. Da die Stärken bereits vorhanden sind, müssen sie nicht erst geschaffen werden. Allerdings muss Kindern auch der Erfahrungsraum zugestanden werden, in dem sie ihre Kompetenzen ausspielen können. Durch unsere Lebensweise schotten wir uns immer mehr von diesen Möglichkeiten der Erfahrung ab“, so der Autor. Das heutige Leben im Überfluss vergleicht Renz-Polster mit einem Zoo, in den sich die Menschen selbst begeben haben. „Es gibt zwar Futter im Übermaß, das Leben spielt sich jedoch zwischen Eisenstäben ab“, so der Autor. Und dadurch werde auch das Leben als Familie nicht leichter. So sei etwa die Entwicklung elterlicher Kompetenz durchaus mit dem Erlernen des Schifahrens zu vergleichen, bei dem es darauf ankomme, einmal selbst auf den Schiern zu stehen. „Sich Erziehung nur anzulesen hilft nichts, sondern man muss selbst Erfahrungen machen. Während das Leben in früheren Zeiten auf Schritt und Tritt Erfahrungen im Umgang mit kleinen, unreifen Menschen anbot, erleben viele frischgebackene Eltern die Geburt ihres Kindes so, wie wenn sie plötzlich auf der schwarzen Piste stehen, ohne jemals auf eigenen Brettern gestanden zu sein. Dass sie da Angst haben, ist verständlich.“

Erstaunliche Fähigkeiten zeigen Kinder etwa in ihrer Anpassung an sehr unterschiedliche Lebensbedingungen, entwickeln sie sich doch sowohl in der Arktis als auch in der Wüste Sahara zu kompetenten Erwachsenen. Dabei helfen ihnen „offene“ Lernprogramme, die in jeder Umwelt ausgepackt werden können. „Wie flexibel diese Programme funktionieren, zeigt zum Beispiel die Sprache. Das gleiche Lernprogramm lässt die Kung in der afrikanischen Kalahari eine Sprache aus Klicklauten erlernen, chinesische Kinder in kantonesischen Sprachmelodien kommunizieren und deutsche Kinder eben Deutsch sprechen“, so Renz-Polster. Diese enorme Flexibilität des Homo sapiens erstrecke sich auch auf die Ernährung. „In der Arktis ernährt er sich etwa völlig gemüsefrei allein von Fisch- und Robbenfett, während ihm im Amazonas die Früchte fast schon in den Mund wachsen. Das Interessante dabei ist, dass die Kinder durch ihre ‚offenen‘ Lernprogramme genau diejenigen Nahrungsmittel lieben lernen, die vor Ort vorhanden sind – je nach Region also fettes Robbenfleisch, gegrillte Vogelspinnen oder Knödel“, so der Kinderarzt.

Die Evolution wurde bisher kaum als gedankliches Werkzeug für ein Erziehungsbuch gewählt, scheinen doch die ehernen Prinzipien von Mutation und Selektion kaum mit fürsorglicher Elternliebe vereinbar. Zu Unrecht, wie Renz-Polster behauptet. Viele Theoretiker der Evolutions-Debatte hätten sich in der Vergangenheit viel zu sehr aus ihrem Kerngebiet hinausgelehnt und die Evolution als einen gnadenlosen, egoistischen Prozess beschrieben. „Dabei wurde unterschlagen, dass Kooperation ebenso ein Überlebensprinzip sein kann, sowohl für Verhaltensweisen als auch für einzelne Gene“, bemängelt der Autor. Werturteile wie freimachend und bindend würden nicht zum Evolutionsgedanken passen. „Die Evolution ist nicht gut oder böse, sie ist einfach das Grundmuster, nach dem sich das Leben entwickelt.“ Die Evolution wirke auch heute noch weiter, gibt Renz-Polster zu bedenken. „Allerdings geschieht sie in so großen Zeitfenstern, dass sich die radikalen Veränderungen unseres Lebens seit der Industrialisierung nicht in unseren Genen wiederfinden.“

Falsch sei auch der Versuch, Evolution immer mit Fortschritt gleichzusetzen. Und dies gelte sogar für die kulturelle Evolution. „Wir denken, wir hätten ständig dazugelernt und stünden mit unserer Kultur auf einer immer höheren Stufe. Wir haben aber auch Erlerntes wieder verloren, etwa Technologien, Fertigkeiten und Wissen, wie wir unter einfacheren Bedingungen gut mit unserer Umwelt zurechtkommen.“ Durch zahlreiche Berichte von Erziehungspraktiken nicht-westlicher Kulturen verdeutlicht Renz-Polster in seinem Buch diesen Kulturverlust. Ein Beispiel dafür könne auch die heimische Geburtshilfe liefern, gehe doch die steigende Kaiserschnittrate auch mit einem Verlust geburtshelferischen Könnens bei schwierigeren Vaginalgeburten einher. „Wer kann heute noch eine Steißlage oder Zwillinge vaginal entbinden?“, so der Pädiatrist. Ebensowenig dürfe man annehmen, dass die Menschheit heute kompetenter mit der Umwelt umgehe als in früheren Zeiten. Im Gegenteil, so Renz-Polster: „Wenn nicht alles trügt, ist die angeblich erfolgreichste Art der Evolution gerade dabei, den Planeten gegen die Wand zu fahren.“ (Ende)

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