Wissenschaftler können geschlechtsspezifische Unterschiede von Gehirnen bei Jungen und Mädchen nicht bestätigen

New York / Heidelberg, 18. August 2011

Es gibt keine wissenschaftlich haltbare Grundlage dafür, dass Jungen und Mädchen getrennt voneinander erzogen werden sollten. Dies ist das Ergebnis einer amerikanischen Untersuchung von Lise Eliot von der Chicago Medical School. Ihre umfassende Studie enthüllt grundlegende Fehler in der Argumentation derer, die eine getrenntgeschlechtliche Schule propagieren. Die Verfechter dieser Erziehungsform stützen ihre Behauptung darauf, es gebe wesentliche Unterschiede zwischen dem ‚männlichen’ und dem ‚weiblichen Gehirn‘ und dies habe ein unterschiedliches Lernverhalten von Jungen und Mädchen zur Folge. Eliot macht jedoch deutlich, dass die Neurowissenschaften kaum relevante Unterschiede zwischen den Gehirnen von Jungen und Mädchen entdeckt haben, die sich beim Lernverhalten und der Erziehung bemerkbar machen. Ihre Arbeit erscheint jetzt in der Online-Ausgabe des Springer-Journals Sex Roles.

Eliot macht zunächst deutlich, dass die Verfechter der getrennten Erziehung oft Unterschiede von Gehirnen bei Jungen und Mädchen anführen, die aus Studien mit erwachsenen Männern und Frauen resultieren. Bei Kindern wurden jedoch solche geschlechtsspezifischen Unterschiede nicht festgestellt. Die Annahme, dass Kindergehirne genauso funktionieren wie die von Erwachsenen, ist schlichtweg falsch, denn Kindergehirne entwickeln sich bis zum erwachsenen Alter. Die neuronalen Vorgänge bei Erwachsenen jedoch sind zum großen Teil abhängig von dem sozialen Umfeld und der Erziehung eines Individuums. Die Annahme, dass biologische Unterschiede der Gehirne starr, gewissermaßen „fest verdrahtet“ sind, ist ungenau.

Eliot untersucht sieben Argumente, die oft als Rechtfertigung für getrennten Erziehung benutzt werden: Geschlechtsunterschiede im Corpus callosum* und Sprachlateralisierung**; Unterschiede in Hirn-Reifetempo und -ablauf zwischen Jungen und Mädchen; Geschlechtsunterschiede bei Gehör, Sehkraft, und im autonomen Nervensystem; Geschlechtshormone und Lernverhalten; und schließlich bevorzugte Lernarten von Jungen und Mädchen. Für jedes dieser Argumente zeigt sie auf, wie wissenschaftliche Erkenntnisse verdreht und übertrieben wurden, um eine Rechtfertigung für die getrennte Erziehung zu finden – Eltern kamen fälschlicherweise zur Überzeugung, es gäbe eine wissenschaftliche Grundlage für das Erziehen von Jungen und Mädchen in getrennten Klassenzimmern.

Zweifellos haben Jungen und Mädchen unterschiedliche Interessen, sie reagieren anders auf verschie-dene Fächer. Den Neurowissenschaftlern ist es aber schwergefallen, wirkliche Unterschiede in den neuronalen Abläufen bei beiden Geschlechtern auszumachen – selbst beim Lesen lernen, was bis heute am häufigsten untersucht wurde, ist dies nicht gelungen. Und obwohl Forschungsergebnisse zeigen, dass Männer und Frauen – nicht aber Jungen und Mädchen – zu unterschiedlichem Lernverhalten nei-gen, gibt es keinen Hinweis darauf, dass ein speziell auf solche Unterschiede abgestimmter Unterricht wirklich von Vorteil ist.

Eliot schlussfolgert: „Über die Fehlinterpretation von Forschungsergebnissen wollen wir gar nicht reden – allein der Gedanke, Kinder aufgrund anatomischer und physiologischer Unterschiede zu trennen, widerspricht Zweck und Prinzipien der Erziehung. Anstatt Kinder unter dem Vorwand angeblich unabänderlicher Fähigkeiten und Lernverhaltensweisen zu trennen, sollten Schulen das Gegenteil tun: in Kindern den Glauben an ihre Flexibilität stärken und ihre Lernfähigkeit fördern, unabhängig von Geschlecht, Rasse oder anderen demografischen Besonderheiten.“

*der Gehirnbalken aus weißer Substanz, der die beiden Gehirnhemisphären verbindet und den Informationsaustausch zwischen der rechten und linken Seite des Gehirns ermöglicht
** die Vorstellung, dass Sprachfunktionen hauptsächlich von der linken Gehirnhälfte ausgeführt werden

Quelle
Eliot L (2011). Single-sex education and the brain. Sex Roles. DOI 10.1007/s11199-011-0037-y

Der vollständige Artikel steht Journalisten auf Anfrage zur Verfügung.
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