Bluthochzeit, Carmen, Falstaff, Schändung der Lucretia und Coppelia in vier Tagen …
(von Dieter Topp) Für die Ungarische Nationaloper Budapest und ihren Chef Szilveszter Okovacs war es ein überaus bedeutender Tag, den es mit einem runden Programm und einem guten Schuss ungarischem Nationalstolz zu füllen galt. Die Institution besteht mittlerweile wieder aus zwei Häusern, der altehrwürdigen Staatsoper von Miklos Ybl, erbaut 1873-1884 und dem Jungendstil Erkel Theater von 1911, benannt nach dem Komponisten Ferenc Erkel (1810 bis 1893), der mit „Laszlo Hunyadi“ (Uraufführung 1844) eine Art Nationaloper schuf und dessen Geburtstag am 7. November ein gewichtiger Anlass des Tages bedeutet.
Der Tag der Ungarischen Oper: Gleich mehrere Ereignisse galt es feierlich auf Ungarisch zu begehen und dafür wurden weder Mühen noch Kosten gescheut, zumal es ja nur eine einzige Oper im Land gibt. Und die steht nun gleich zweimal in Budapest. Der „Festakt“ fand seiner Idee gemäß im Erkel Theater am 7. November statt. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts wollte man dem prunkvollen und der Oberschicht gewidmeten Kaiserbau eine Art „Volksoper“ für die Mittelschicht zugesellen. Hohe Qualität und niedrige Eintrittspreise für alle, so lautete der Slogan, dem man jedoch aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gerecht wurde. Ein eigenes Profil dieses Hauses hatte sich bis zur Wiedereröffnung im vergangenen Jahr nicht entwickelt.
2300 Plätze müssen gefüllt werden, „ein anspruchsvolles Programm, für jeden erschwinglich, findet regelmäßig seit einem Jahr im Erkel statt“, so der Herr beider Budapester Häuser, Szilveszter Okovacs, bei der Pressekonferenz. Mit diesem Vorhaben eng verknüpft existiert ein „Schulprogamm“ der Staatsbetriebe. Auch hier galt es zu feiern. Gleich bei der Geburt wird jedem Kind in Ungarn ein Willkommen-Paket in die Wiege gelegt, darunter auch Musik von Oper und Opernorchester. Die Schulen erhalten regelmäßig Programminfos und Arbeitsmaterialien rund um die Oper. Tausende Schüler kamen seitdem aus dem ganzen Land in die Hauptstadt, um „das Original“ anzuschauen und zu erleben. Auch dies ein Grund zum Feiern. Während die Bürde des „Prunk-Hauses an der Andrassy“ einem repräsentativen, Staatskultur tragenden und vor allem jedoch touristischen Image obliegt, will man im Erkel das ungarische Nationalgefühl in Sachen Musik und Oper stärker in den Vordergrund rücken.
Der bekannten ungarischen Komponisten gibt es einige, und zahlreiche der jüngeren, modernen oder zeitgenössischen. Diese gilt es programmgemäß im Erkel zu repräsentieren. Dazu stand am „Tag der Ungarischen Oper“ die Jubiläumsaufführung der „Bluthochzeit“ von Sandor Szokolay an. 1964 fand die Uraufführung des Werks nach einer Vorlage von Federico Garcia Lorca hier statt. Die Oper wurde zwischenzeitlich von Balasz Kovalik regietechnisch und in einer minimalistischen, jedoch äußerst aufwendigen Bühne von Peter Horgas auf einen ausgezeichneten internationalen Stand gebracht. „Bluthochzeit“ in der aktualisierten Fassung vom B. Kovalik bezeichnet Intendant Okovacs als die zeitgenössische Wiedergeburt einer der wichtigsten ungarischen Opernwerke. Als Einziger repräsentierte Bühnenbildner Peter Horgas die ehemalige Crew bei der Konferenz. Den 50. Tag der Uraufführung konnte der leider im vergangenen Dezember verstorbene Komponist nicht mehr miterleben.
Auch Kovalik arbeitet seit dem unrühmlichen Fortgang von der Budapest Oper vor fünf Jahren nicht mehr in Ungarn. Zumindest spielt die jetzige Intendanz wieder seine hervorragenden Inszenierungen. Diese „Bluthochzeit“ lässt adäquat dem spanischen Poeten und seinem ungarischen Komponisten in besagter Regie zusammen mit dem Orchester unter Janos Kovacs und der einer Solistenschar mit enormem Willen und Können aus einem modernen Opernwerk ein Gesamtkunstwerk erwachsen.
Ob das Haus sich eines Tages auch wieder als eine „Volksoper“ bewähre, die verlorenes Publikum mit niedrigen Preisen locken soll, stehe in den Sternen, so zweifelte ein ungarischer Journalist noch vor einem Jahr. Die Besucherzahlen sprechen allerdings im positiven Sinne dagegen. Die Eintrittsgelder werden subventioniert und so präsentiert sich mir auch an einem normalen Wochentag das Haus so gut wie ausverkauft. Man gibt „Carmen“ und die zieht. Das neue Erkel lockt und zu den Ungarn hat sich eine gemischte Schar internationaler Gäste eingefunden. Es tönt australisch, amerikanisch, deutsch, schweizerisch und österreichisch, nordische Sprachen klingen durch und optisch fallen die vielen asiatischen Besucher ins Auge.
Das will und braucht man in Budapest und ist darauf vorbereitet. Eingangs stehen junge Hostessen, die die Gäste in Richtung ihrer Plätze weisen – in perfektem Englisch versteht sich. Kaum ein Ausländer vermag auf sein ungarisch gedrucktes Ticket hin seine Reihe, den Sitzplatz rechts oder links zu finden. Also eilen auch drinnen junge Volontäre beflissentlich zur Hilfe.
Und dann geht’s los, eine frühe Carmen-Fassung. Viel will man beweisen, das staubige Image soll weggefegt werden. Budapest ist schließlich die Hauptstadt und der Ruf soll sich ändern. Ein Blick in die Runde lässt augenscheinlich werden, wie es gehen soll: Im Inneren des Theaters laden der Bühnenbereich im ursprünglichen Spätjugendstil/ArtDeco Outfit ein, umgeben von aufgefrischten Sälen und einer ebensolchen äußeren Hülle. So auch Carmen, die alte Dame. Die Inszenierung wirkt jedoch etwas gekünstelt im Straßen-, Huren- und Soldaten-Milieu vor einem Hintergrund aus überdimensionalen Spiegeln.
Carmen muss bei Regisseur Pal Oberfrank lasziv sein, sehr lasziv, eher schon ordinär. Doch erst wenn Titelsängerin Erika Gal spritzig spanisch sein darf, dann kommt sie rüber und das Publikum jubelt. Eine Carmen zwischen Streetdancern im Hip Hop Stil zu Bizets Musik mutet schon ungewöhnlich an. Den Tänzern, dem Chor und dem Publikum gefällt’s. Die beiden Zigeunerinnen Frasquita und Mercedes (Cecilia Lloyd und Eva Varhelyi) spielen und singen sehr überzeugend die Prostituierten mit ihren herrlichen Stimmen. Gabriella Letay Kiss darf mit ihrer gelungenen Rolle als Michaela nicht unerwähnt bleiben.
Zu 25 Bühnenjahren darf eine andere, ungarische Operndiva feiern, Andrea Rost. 1989 debütierte die junge Studentin der Musikakademie als Juliette in Gounods „Roméo et Juliette“ auf den Brettern des Erkel Theaters. Eine Weltsensation ward mit diesem Auftritt geboren. Über die Wiener Staatsoper hinaus eroberte sie die Opernhäuser von Paris, Mailand, München, Berlin, Chicago und New York. Ihr zur Seite stehen zum Jubiläumskonzert einige ihrer engsten und liebsten Freunde, selbst Weltstars wie die bulgarische Mezzosopranistin Vesselina Kasarova und der italienische Tenor Luciano Ganci. Der junge rumänische Bariton Zoltan Nagy, der erst neulich mit ihr zusammen im „Bajazzo“ auftrat, ist ihr ein liebenswerter Kollege, der ebenso wie La Diva mit einem Stimmfachwechsel ein Publikum neu erobert. Hinzu kommt noch Krisztian Cser als Bass, dessen Stimmgewalt in Benjamin Brittens „Schändung der Lucretia“ zum Tragen kommt.
Mit „Lucretia“ soll das ungarische Publikum an Britten herangeführt werden, kein leichtes Unterfangen in Budapest. In dieser Vorstellung suchen einige einheimische Kenner und ausländische Besucher ihr musikalisches Erlebnis. Britten rangiert noch nicht oben im Ranking der ungarischen Opernwelt. Am Abend gelten die Bravo-Rufe den acht Solisten, ebenso dem Orchester und seinem Dirigenten Maté Hamori mit wunderbarem Gespür für das eruptiv Erotische dieser Musik – ein Erlebnis der musikalischen, viel mehr als der darstellerischen Art. Es hat dem Werk gut getan halbszenisch in der Liszt Akademie aufgeführt zu sein. So konnte man Britten pur erleben.
In Memoriam Gyula Harangozó Sr.. Vor vierzig Jahren verstarb der berühmteste Ungar, geschätzt als Tänzer und Choreograf der leichten Schritte und der physiognomischen Ausdruckskraft, dessen „Coppelia“ von Léo Delibes als einer der Schätze des Meisters in dieser Spielzeit in einer Art wie das Hervorholen und Darbieten von Kronjuwelen gegeben wird. Wieder ein Abend in der Oper, in der Traum und Realität im opulenten Umfeld zu verschmelzen beginnen und die Besucher in den Sog der artifiziellen Vergangenheit geraten, woraus sie nicht wieder erwachen wollen.
Auch ein Morgen kann unerwartet erfrischend sein, wenn man sich an einem grauen Novembertag noch müde in eine Opern-Matinee hineinzögert. Wieder ein volles Haus. Welch ein Muntermacher am frühen Samstagmorgen: „Falstaff“ in der Staatsoper. Alexandru Agache gilt es zu erleben, ob am Royal Opera House Covent Garden, an den Häusern von München, Dresden, Zürich, Wien, Amsterdam, Barcelona, Madrid, Israel, Chicago, Buenos Aires, Tokio und in der Arena di Verona, an der Deutschen Oper Berlin, an der Mailänder Scala und heute in dieser Matinee in Budapest. Der im rumänischen Cluj geborene Bariton spielt sich mit stimmlich und komödiantischem Supertalent beschwingt durch die Rolle von Verdis dickem Trunkenbold, umgeben von einer Schar ausgezeichneter ebenbürtiger Kollegen. Sie werden durch die flotte Inszenierung von Arnaud Bernard über die von ihm entworfene geschickt opulente Bühne von einem fulminanten Orchester unter Leitung von Domonkos Heja gescheucht, dass einem der Atem stockt. Wir haben schließlich erst 11.00 Uhr vormittags. Zum Wohle euch allen, die ihr dem heiligen Geist aus der Flasche zusprecht. Welch ein Genuss. Und nach drei Stunden ist dieser Rausch leider schon wieder vorüber. Ein Marathon geht ebenfalls zu Ende, ein Aufenthalt rund um einen Festtag, bei dem für den Chronisten der Marathon zum Fest wurde.
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