Wie betäubt? – Immersive Computerspiele beeinflussen Empfindungen im wirklichen Leben
Neue Studie: Rollenspiele am PC können das Realitätsgefühl verändern und abstumpfend wirken
Wer viel Zeit am PC verbringt, versunken in ein Rollenspiel als virtueller Charakter oder Avatar, nimmt wichtige Körpersignale im echten Leben möglicherweise nicht mehr so intensiv wahr. Dies ist das Ergebnis einer Studie von Ulrich Weger von der Universität Witten/Herdecke in Deutschland und Stephen Loughnan von der Melbourne University in Australien. Eine Studie hierzu erscheint in der Springer-Fachzeitschrift Psychonomic Bulletin & Review.
Die Wissenschaftler untersuchten, was geschieht, wenn ein Spieler eines immersiven Computerspiels die Rolle eines nichtmenschlichen Charakters oder eines Avatars annimmt und sich mit ihr identifiziert. Im Fokus stand vor allem die Frage, inwieweit das Schmerzempfinden dabei beeinflusst wird. Avatare haben oft mechanische, roboterartige Wesenszüge wie mechanistische Trägheit, Starrheit und das Fehlen von Emotionen und Wärme.
Die Teilnehmer wurden gefragt, wie viel Zeit sie jede Woche mit Computerspielen verbringen. Ihre Antworten wurden dann in Bezug zu einer Schmerztoleranzmessung gesetzt: Gezählt wurde, wie viele Büroklammern ein Proband aus eiskaltem Wasser holen konnte. In einem zweiten Experiment spielten die Probanden entweder ein immersives oder ein nicht-immersives Computerspiel, bevor sie den gleichen Schmerztoleranztest absolvierten. Die Spieler immersiver Spiele zeigten ein reduziertes Schmerzempfinden, sie holten deutlich mehr Klammern aus dem Eiswasser. Sie ließen sich auch weniger beeindrucken von Abbildungen von Menschen mit Schmerzreaktionen.
Weger und Loughnan stellten damit fest, dass das Eintauchen in die Rolle eines automatenhaften Avatars nicht nur das eigene Schmerzempfinden herabsetzt, sondern auch unempfindlicher für die Schmerzen anderer macht. Ein derartiges Rollenspiel scheint sich damit über die virtuelle Umgebung hinaus sogar auf das echte Leben auszuwirken.
Dr. Weger verweist auf etwas, was er als irreführende Entwicklung erachtet: Die Grenze zwischen Mensch und Maschine verschwimmt immer mehr – Menschen versetzten sich einerseits in die Rolle virtueller Maschinen und Roboter; andererseits werden animierte Figuren und Spielsachen anthropomorphisiert, bekommen also scheinbar menschliche Eigenschaften zugeschrieben – sie werden so programmiert, dass Menschen mit Zuneigung auf sie reagieren. Virtuelle Figuren und Roboter übernehmen sogar Aufgaben und Rollen, die traditionell menschlichen Gesprächspartnern zukommen wie die des Roboters als Therapeut. In einem solchen Umfeld wird es zunehmend normal, Mensch und Maschine als austauschbar zu sehen.
„Dass sich die Grenzen auflösen, steht außer Frage, dennoch ist dies eine beunruhigende Entwicklung, die unsere Gesellschaft zu beeinflussen beginnt,“ sagt Weger, der am neu gegründeten Department für Psychologie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke tätig ist. „Wir meinen, es ist nötig, einen Ausgleich im Blick zu halten. Wir müssen uns bewusst machen, was Menschsein wirklich bedeutet, und wir müssen herausfinden, wie wir die Fortschritte im Bereich künstlicher Intelligenz so einsetzen, dass die freigesetzten Ressourcen und das individuelles Potenzial sinnvoll zum Tragen kommen können, ohne das wir uns selbst zum Sklaven dieses Fortschritts machen.“
Quelle: Weger, U.W., Loughnan, S. (2013). Virtually numbed: Immersive video gaming alters real-life experience. Psychonomic Bulletin & Review DOI 10.3758/s13423-013-0512-2
Der vollständige Artikel steht Journalisten auf Anfrage zur Verfügung.
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