Ethnologin Inga Schwarz forscht über Migrationsverläufe und erläutert, warum Fluchtmigration ein Langzeitprozess ist
Über 65 Millionen Menschen befanden sich laut Statistik des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) Ende 2015 weltweit auf der Flucht. Das sind mehr Menschen als jemals zuvor dokumentiert. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni 2017 wird UNHCR nun die Statistik für das Jahr 2016 veröffentlichen. „Eine Kehrtwende der drastisch steigenden Zahl derer, die vor Krieg, Konflikten, Verfolgung und Hunger fliehen, ist bisher nicht absehbar“, sagt Dr. Inga Schwarz von der Forschungsgruppe Cultures of Mobility in Europe am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Albert-Ludwigs-Universität. Nachdem die ersten größeren Gruppen von Flüchtlingen im Sommer 2015 Zentraleuropa erreichten, seien die Themen Flucht und Migration auch in Deutschland verstärkt in den Fokus des gesellschaftspolitischen Interesses gerückt. Einhergehend mit der Blockade der Balkan-Route und der sinkenden Zahl neu ankommender Geflüchteter in Deutschland, ließe sich laut Schwarz ein Rückgang der öffentlichen Aufmerksamkeit beobachten, wie auch eine Abnahme der positiven Grundeinstellung und Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen mit Fluchterfahrung.
„Im Kontrast zu der kurzen Aufmerksamkeitsspanne, die das Phänomen in Zentraleuropa erreichen konnte, wird die Zeitspanne stehen, in der das Thema Flucht auch weiterhin von hoher Bedeutung sein wird“, betont Schwarz. Dies treffe nicht nur auf die betroffenen Krisenregionen, deren Anrainerstaaten sowie die weiter entfernten Zielländer zu, sondern umfasse vornehmlich auch die Einzelschicksale von Menschen mit Fluchterfahrung. „Fluchtmigration lässt sich keinesfalls als lineare Bewegung vom Herkunfts- in ein Zielland verstehen, sondern muss als Langzeitprozess begriffen werden, der sich oftmals über Monate, Jahre und Jahrzehnte erstreckt.“
Im Forschungsprojekt “Il/legalizing Mobility – Legal Categorizations of Unauthorized Migrants in Europe” untersucht Schwarz aktuelle Migrationsverläufe nach und durch Europa. „Die sich über Jahre entwickelnden Fluchtwege meiner Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen setzen sich während der Langzeitstudie fort.“ Diese sei darauf ausgelegt, Menschen auf ihren sich zeitlich und räumlich unvorhersehbar entwickelnden Migrationsrouten zu begleiten. Aus den offenen Migrationsverläufen des Projektes lasse sich ein Endpunkt von Fluchtverläufen jedoch nicht empirisch ableiten. Es stellt sich daher die Frage: Zu welchem Zeitpunkt endet ein Fluchtverlauf? Mit dem Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung? Dem Gefühl der Beheimatung? Dem Wunsch, an einem Ort der eigenen Wahl zu bleiben? Dem Gefühl der Zugehörigkeit?
Wie sich die steigende Zahl von Geflüchteten auswirke, werde in Zukunft maßgeblich auch davon abhängen, inwieweit die bereits angekommenen und weiterhin Europa erreichenden Menschen bereit sind, sich langfristig mit den Themen Flucht und Beheimatung auseinanderzusetzen. Das Gleiche gelte für die Gesellschaften, die sie aufnehmen. „Nicht nur der Fluchtverlauf selbst, sondern auch die sich anschließende Beheimatung sind in diesem Zusammenhang als Langzeitprozesse zu betrachten, die uns als Gesellschaft über Jahrzehnte begleiten werden.“
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Sandra Meyndt
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
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