Meine Doppelrolle
2018 liegt das Jahr 1968 für uns genauso weit zurück wie für die 68er das Jahr 1918. Der Vergleich zwischen diesen beiden fünf Jahrzehnte umfassenden Zeitspannen macht klar, wie unterschiedlich die Jahrhunderthälften jeweils gewesen sind. Zwischen 1918 und 1968 lagen das Ende des als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichneten Ersten Weltkriegs, die krisengeschüttelte Weimarer Republik, die furchterregende Zeit der NS-Herrschaft mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust und dem Neubeginn nach 1945 mit dem nochmaligen Versuch einer Demokratie. Was immer man auch für die 50 Jahre nach 1968 in die Waagschale werfen will – kaum etwas kann mit den Schwergewichten der Zeit zuvor mithalten. Dennoch ist es höchst angebracht, auch nach diesen historischen Besonderheiten zu fragen, ihren Konflikten, Aufbrüchen und Umwälzungen. Um sich eines solchen Abstandes zwischen 1968 und 2018 zu vergewissern und danach zu fragen, was in dieser vergleichsweise stabilen Ära geschehen ist, bedarf es ebenfalls der Entschiedenheit zu einem großen zeithistorischen Bogenschlag. Etwas anderes kommt allerdings noch hinzu:
Beim Thema »1968« wird, wie bei jedem anderen historischen Kapitel auch, die Frage nach der Erzählerrolle und ihrer jeweiligen Angemessenheit aufgeworfen. Geschichte schreiben heißt, ungeachtet aller gängigen Kritik an der bloß narrativ ausgerichteten Optik klassischer Historiker, vor allem erzählen. Insofern besteht die vorentscheidende Frage darin, welche Rolle ein Autor als Erzähler einnimmt und welche Qualität ihm im Hinblick auf die Erzählkunst beigemessen werden kann.
Es ist bezeichnend, dass ein ehemaliger 68er wie der Historiker Peter Kuckuk schon vor Jahren einmal die Irritation, die von dieser Frage ausgeht, artikuliert und damit auch das Feld der damit einhergehenden Möglichkeiten thematisiert und ausgelotet hat. Es war eine ganze Kette von Fragen, die er dabei aufwarf: »Wie soll ich nun vorgehen? Chronologisch? Systematisch? Oder kombiniert chronologisch-systematisch? Mit welchem Handwerkszeug? Als Historiker, wie gehabt? Als sich selbst überschätzender geschwätziger Memoiren-Schreiber, der sich selbst ständig auf die Schulter klopft? Als Vorbild, als Missverstandener, als resignierender Weiser, als Zyniker? Als winner? Als loser? … Was habe ich über 1968 zu sagen, wovon ist zu berichten? Erinnerungen, Erfahrungen, gar Lehren aus 68?« Es ist naheliegend, dass die meisten dieser Varianten von ihm nur deshalb erwähnt worden sind, um sie zugleich wieder verwerfen zu können. Sie werden benannt, um deutlich zu machen, was alles als unvertretbar erscheint und deshalb gerade nicht zu erwarten ist. Damit wird gleichzeitig der Kreis möglicher Variationen so weit eingeschränkt, dass sich eine bestimmte Formung der Erzählerrolle herausschält.
Grundsätzlich existiert ja ein ganzes Spektrum möglicher Rollen, aus dem heraus eine Wahl getroffen werden kann. Sie reichen vom Autobiographen, Biographen, Ex-Aktivisten, Noch-immer-Aktivisten, Teilnehmer, Zeitzeugen, Chronisten, Historiker, Journalisten, Literaten, Politologen, Soziologen und Psychologen bis zum Ethnologen. Auch wenn damit immer noch nicht alle möglichen Varianten und Rollenkombinationen erwähnt sind, so ist doch klar, dass es bei jeder einzelnen Konfiguration um das jeweils unterschiedliche Mischungsverhältnis von Subjektivität und Objektivität, von eigener Erfahrung und aus anderen Quellen aufgenommenen Wissen, geht.
Im Grunde genommen gibt es zwei Extrempositionen, die die Grenzen markieren, zwischen denen sich die unterschiedlichen Erzähltypen herausbilden. Die eine besteht darin, zu behaupten, nur wer »1968« miterlebt habe, der könne auch angemessen über die 68er-Geschichte schreiben. Mit dieser Haltung wird unterstellt, dass es in der damaligen Bewegung Implikationen gegeben habe, die von Außenstehenden entweder nicht gewusst oder nicht erkannt werden können. Um dieses Wissen oder diese Erfahrungen zum Ausdruck bringen zu können, wird stillschweigend argumentiert, bedürfe es einer unmittelbaren Zeugenschaft, einer Qualität, Zeugnis zu liefern, die nur von einem oder einer unmittelbar Beteiligten aufzubringen sei.
Die andere Position lautet, nur wer über keinerlei persönliche Beziehungen zur 68er-Bewegung verfüge, habe auch den genügenden Abstand, um über deren Geschichte schreiben zu können. Mit anderen Worten, nur ein ausreichendes Maß an Distanz garantiere auch eine Erkenntnisqualität, die Objektivierungskriterien standzuhalten in der Lage sei. Damit wird unterstellt, dass eine eigene Beteiligung an den damaligen Mobilisierungs- und Aktionsformen das Erkennen der Logik von Handlungsabläufen, Rollenmustern, Kontexten usw. maßgeblich erschwere oder gar regelrecht für das Durchschauen von Zusammenhängen blind mache. Nun sollte die Ausschließlichkeit, mit der die beiden Extrempositionen vertreten werden, nicht dazu führen, sich eine voreilige Wahl aufzwingen zu lassen.
Damit bin ich auch bei meiner eigenen Rolle angelangt. Wenn es nicht so pathetisch klingen würde, dann müsste ich darüber klagen, dass sich »Zwei Seelen, ach, in meiner Brust« befänden. Denn wenn ich über ein Jahr schreibe, das in gewisser Weise kanonisch geworden ist, dann befinde ich mich in einer Doppelrolle: in der des Zeitzeugen ebenso wie in der des Historikers. Und diese beiden Rollen stehen in einem andauernden Spannungsverhältnis zueinander, manche behaupten sogar, dass der Erstere der Feind des Letzteren sei. Wie auch immer man das bewerten mag – um ihren wechselseitigen Fallstricken aus dem Weg zu gehen, hilft eigentlich nur eins, beides sichtbar zu machen und die Bezüge möglichst transparent zu gestalten. Die Erinnerungen und die Erfahrungen des einen sollten jedenfalls nicht einfach gegen die Einsichten und Erkenntnisse des anderen ausgespielt werden.
Um mit den Erinnerungen und Erfahrungen zu beginnen: Ich war neunzehn, als ich unter der Androhung, von der Schule verwiesen zu werden, zum ersten Mal an einer Demonstration teilnahm. Das war an einem Samstag des im Nachhinein so glorifizierten Mai 1968. Es ging damals um den sogenannten »Sternmarsch auf Bonn«, mit dem noch in letzter Minute die Verabschiedung der Notstandsgesetze verhindert werden sollte. Zumindest der Rhetorik nach erinnerte das ein wenig an Mussolinis berühmten »Marsch auf Rom«, fast so, als hätte es darum gehen sollen, die Macht im Staat zu übernehmen, wie das dem »Duce« 1922 ja auch tatsächlich handstreichartig gelungen war. Doch an derartig kritische Assoziationen kann ich mich nicht erinnern. Ich war einfach nur froh, endlich mal mit dabei sein zu können.
Die größte Kundgebung der 68er-Bewegung findet mit 60 000 Teilnehmern am 11. Mai 1968 im Bonner Hofgarten statt. Die bundesweit angereisten Demonstranten versuchen vergeblich, die Verabschiedung der Notstandsgesetze zu verhindern.
In jenen Tagen, während im Pariser Quartier Latin französische Studenten Barrikaden errichteten und die bundesdeutschen Universitätsstädte vor Aktivitäten nur so vibrierten, um der jungen Republik eine veränderte Verfassung, die Notstandsverfassung, zu ersparen, machte ich Abitur – an der König-Heinrich-Schule, einem ziemlich konservativen Gymnasium im nordhessischen Fritzlar. Das Thema meines Deutschaufsatzes lautete: »Die Studentenunruhen in der Sicht eines Primaners – Diskutieren Sie das Recht auf Widerstand in einer parlamentarischen Demokratie!« Angesichts der Tatsache, dass in der hessischen Landesverfassung ein solches Recht explizit verankert war und es damals zwar nicht nur, aber auch um die Frage ging, in welcher Form »Widerstand« gegen eine per Notstandsgesetzgebung möglich werdende Entmachtung des Parlaments geleistet werden könne, erschien mir das Thema erstaunlich gut gewählt zu sein.
Doch wer hätte gedacht, dass ich mich mit dem auf diese Weise angeschnittenen Thema insgesamt auch noch Jahrzehnte danach beschäftigen und das in gewisser Weise zu meinem Beruf machen würde – ich vermutlich am allerwenigsten. Und kaum weniger hätte ich mir vorstellen können, dass jenes Jahr, dessen letzte Monate ich dann selbst noch als Philosophiestudent an der Frankfurter Universität erleben konnte, einmal für eine Protestbewegung, eine Jungendgeneration, ja fast eine Ära hätte stehen können. Und dass ich wie nicht wenige andere auch all dies immer wieder aufs Neue erforschen und unter die Lupe nehmen würde.
Ich weiß noch zu genau, was mich bewegte, als ich die Gymnasialzeit endlich hinter mir hatte – ich wollte mich nicht länger mehr als Zaungast auf die Verfolgung des turbulenten Geschehens in den Medien beschränken. An der Frankfurter Universität glaubte ich nun endlich selbst in den Bewegungsstrudel eintauchen zu können, mit meinen eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen, den abstrakten wie den sinnlichen, meinen vermeintlichen Geistesblitzen ebenso wie mit meinen Körpererfahrungen, zu denen bekanntlich auch die eher schmerzhaften zählen. Als bekennendem Anhänger Martin Heideggers, dem Sein und Zeit als die späte Krönung der Metaphysik erschien, war ich zwar am Seminar seines schärfsten Kritikers gelandet, jenem magisch-genialischen Philosophen Theodor W. Adorno, dessen Buch über den Jargon der...