Einleitung
Ein Passagierflugzeug, das sich am 11. September 2001 auf halber Höhe in einen Wolkenkratzer fräst;
zerklumpte Metallteile auf den Straßen, Überreste eines Triebwerks, daneben zerfetzte Körper mit breiten Gurten um die Hüften, angelegt zur Sicherheit während eines Fluges;
der benachbarte Büroturm, auch er wenige Minuten später in Flammen und Rauch, getroffen von einem zweiten Düsenjet;
im oberen Drittel der Hochhäuser Eingeschlossene, den Tod durch Ersticken oder Verbrennen vor Augen, mit Stofffetzen um Hilfe winkend die einen, in ihrer Verzweiflung zum Sprung aus Hunderten von Metern Höhe bereit die anderen, im Fall gefilmt von Fernsehkameras und Touristen;
Feuerwehrleute mit Äxten auf dem Weg zur Brandstelle – «you went in, when we went out», wird später in ihren Todesanzeigen als letzter Gruß von Überlebenden zu lesen sein;
die Meldung, dass zwei weitere Flugzeuge entführt wurden, beide mit Kurs auf die politischen und militärischen Schaltzentralen des Landes, schließlich die Nachricht: auch Teile des Pentagon stehen in Flammen, und «United Airlines 93» ist in der Nähe von Shanksville, Pennsylvania, in einen Acker gestürzt, 20 Flugminuten vom Weißen Haus und vom Kapitol entfernt.
Eine Synagoge in Tunesien, April 2002, Todesstätte für 21 Menschen – darunter 14 deutsche Touristen – nach der Explosion einer Bombe, die von den Drahtziehern von «9/11» in Auftrag gegeben worden war.
Der beliebte Touristenort Kuta auf Bali am späten Abend des 12. Oktober 2002, wo «Jemaah Islamiah» – eine Gruppe mit engen Kontakten zu Al-Qaida – drei Bomben zündete und 202 Menschen tötete.
Das mit 900 Besuchern voll besetzte Dubrowka-Theater in Moskau, am 23. Oktober 2002 während einer Vorstellung von einem tschetschenischen Kommando besetzt und nach zwei Tagen unter Einsatz von Nervengas erstürmt – eine Aktion, die 129 Geiseln und ungefähr 50 Terroristen das Leben kostete.
Vier Vorortzüge in Madrid, von Bomben zerfetzt im Berufsverkehr am frühen Morgen des 11. März 2004 – 191 Tote und über 2000 Verletzte nahmen die Bombenleger in Kauf, um die spanische Regierung zum Rückzug ihrer Truppen aus dem Irak zu bewegen.
Die knapp 1300 Geiseln, Anfang September 2004 drei Tage lang in der «Schule Nummer Eins» in Beslan festgehalten und gequält von radikal-islamischen Gotteskriegern, die ihren Kampf gegen Moskau auf Nordossetien ausweiten wollten und 331 Menschen, darunter 186 Kinder, mit in den Tod rissen.
Die Londoner U-Bahn am Morgen des 7. Juli 2005, erschüttert von der Explosion mehrerer Bomben, die 56 Menschen töteten und 700 verletzten.
Die dreitägigen Schießereien Ende November 2008 in Mumbai, nachdem mehrere Kommandos an zehn verschiedenen Stellen der Stadt Bomben und Feuer gelegt, 174 Personen ermordet und über 300 verletzt hatten.
Der Morgen des 29. März 2010, als in der Moskauer U-Bahn zwei Selbstmordattentäterinnen, Mitglieder extremistischer Gruppen aus dem Nordkaukasus, sich selbst und 40 Passagiere in die Luft sprengten.
Bilder und Eindrücke aus den letzten zehn Jahren, Schattenwürfe einer Geschichte, die sich jederzeit wiederholen kann, an jedem Ort der Welt. Diese Geschichte handelt im Kern von einer Rückkehr politischer Angst ins öffentliche Leben, erinnert an die dunkelsten Kapitel des Kalten Krieges: «Sie sind überall, in Fabriken, Büros, Metzgereien, an den Straßenecken, in privaten Firmen», so der amerikanische Justizminister Tom Clark Ende der 1940er Jahre über kommunistische Schläferzellen. «Und jeder trägt den Keim für den Untergang der Gesellschaft mit sich.»[1] Tom Ridge, Leiter des US-Heimatschutzministeriums, klang zum Verwechseln ähnlich, als er 2003 und 2004 wiederholt vor noch schlimmeren Angriffen als im September 2001 warnte. Von Giftgasanschlägen in U-Bahnen war die Rede, Hunderte von Detektoren wurden in der Hoffnung auf eine frühzeitige Warnung über das Stadtgebiet von Los Angeles verteilt, F-15-Abfangjäger patrouillierten über potentiellen Anschlagzielen. Was ein Mitarbeiter der CIA über die Stimmung in den USA sagte, konnte und kann man zeitweise auch in Europa beobachten: «Etwas nicht anzuzeigen, weil es einfach verrückt ist, kommt den Leuten gar nicht mehr in den Sinn. Es gibt keine Blockaden mehr. Alles wird angezeigt, überall. Und die Bewertungskriterien sind verloren gegangen. Niemand sagt: ‹Also gemessen an meiner Erfahrung ist dieser Kerl ein verdammter Lügner›. Niemand sagt, ‹diese Berichte haben überhaupt keine Grundlage›.»[2] Wie hätte es auch anders sein sollen angesichts von verängstigten Meinungsmachern und Politikern, die ihrerseits die Ängste der Anderen für eigene Zwecke ausbeuteten? Auffällig oft warnte das Weiße Haus ausgerechnet während des Wahlkampfes 2004 vor erhöhter Terrorgefahr; und 2008 versuchte auch Hillary Clinton, während der Vorwahlen auf Kosten von Barack Obama mit Angst Politik zu machen: «Wem würden Sie mehr vertrauen, wenn nachts um drei das Telefon klingelt?»
Schon jetzt eine umfassende Geschichte dieses nervösen Jahrzehnts schreiben zu wollen, wäre ein vermessener Anspruch. Trotzdem ist die Zeit für eine erste Bilanz über die Hintergründe und Folgen des 11. September 2001 gekommen. Ausgerechnet über die Administration George W. Bush, die sich hermetisch gegenüber der Außenwelt abzuschotten versuchte, drang noch während ihrer Amtszeit ungewöhnlich viel nach außen. Von Finanzminister Paul O’Neill über den Koordinator der Anti-Terrorpolitik, Richard Clarke, bis zum ehemaligen Botschafter Joseph Wilson und weniger bekannten Mitarbeitern von Ministerien quittierten Dutzende den Dienst und gaben Interna preis – in der Regel nicht wegen gekränkter Eitelkeit, sondern aus Sorge um den Kontrollverlust innerhalb des politischen Systems und mithin über den Zustand der Demokratie in ihrem Land. Allen Unkenrufen über den Niedergang ihres Genres zum Trotz leisteten auch investigative Journalisten – vorweg Seymour Hersh, Dana Priest, Barton Gellman und Ron Suskind – einen unverzichtbaren Beitrag. Ihnen, der Initiative von Hinterbliebenen der Anschlagsopfer in New York und Washington sowie Anwälten und Bürgerrechtsorganisationen, die sich um Häftlinge in Guantanamo kümmern, ist die Freigabe Hunderter von Akten zu verdanken, die ungewöhnliche Einblicke in die Arbeit der Regierung, des Pentagon und der Geheimdienste bieten. In der vom Kongress bestellten Untersuchungskommission zu den Hintergründen von «9/11» wurden zahlreiche dieser Dokumente penibel ausgewertet, John Ehrenberg, Karen Greenberg und John Prados haben einschlägige Editionen vorgelegt. Die umfangreichste Quellensammlung indes steht im Internet zur Verfügung, aufgearbeitet von Historikern des «National Security Archive». Diese an der George Washington University angesiedelte gemeinnützige Organisation ist für Zeithistoriker mittlerweile unumgänglich; sie genießt zu Recht den Ruf, ihre umfangreichen, bis zum Zweiten Weltkrieg zurückreichenden Bestände nach den Maßstäben professioneller Archivare zu pflegen. Herkunft, Kontext und Wirkungsgeschichte der Quellen sind nachvollziehbar, elektronische Findbücher erleichtern die Recherche. Fortlaufende Ergänzungen ermöglichen überdies eine kontinuierliche Ergänzung oder Korrektur bereits vorhandenen Wissens.
Aufgrund dieses vielfältigen Materials lassen sich auch die «weißen Flecken» in der Geschichte des 11. September 2001 kartographieren, jene Bereiche also, die künftig für ein besseres Verständnis der Ereignisse bearbeitet werden sollten. In diesem Sinne kann das vorliegende Buch zugleich als Beitrag zur Diskussion von Fragen verstanden werden, die sich aus der Geschichte von «9/11» aufdrängen, aber keineswegs nur von historischem Interesse sind – Fragen zur Außen- und Militärpolitik, zu Bündnisbeziehungen, zum internationalen Völker- und Kriegsrecht und vor allem zur Art und Weise, wie Demokratien mit realen oder imaginierten Gefahren umgehen und welchen Preis sie für den Ausnahmezustand zahlen.
Gerade die Vorgeschichte der Anschläge spielt, sei es hintergründig oder explizit, in tagespolitischen Debatten eine herausragende Rolle. Die Behauptung, dass religiös motivierter Terror und Religionskriege im Namen Allahs die größte Gefahr für Freiheit und Zivilisation sind, steht wie ein Glaubensbekenntnis im Raum, eingängig wegen der radikalen Reduktion von Komplexität und tröstend zugleich, weil es den Blick auf irritierend andere Facetten erspart. Zieht man demgegenüber Studien zu Selbstmordattentätern im Allgemeinen und zu Al-Qaida im Besonderen zu Rate, macht das Bild der von glühender Religiosität getriebenen Fanatiker kaum noch Eindruck. Stattdessen gewinnen weltliche, säkulare Elemente an Kontur: soziale Entwurzelung, Enttäuschung, Demütigung, Bindungslosigkeit, verletztes Ehrgefühl, Wut und Zorn über nationale Erniedrigung, Rache für die Opfer...