Mythen, Menschen und Methoden
Hollywood hat so manche abenteuerliche Vorstellungen über die Archäologie befeuert: Mal ist es der mit Tropenhelm, Khakikleidung und Pinsel ausgerüstete Nickelbrillenträger, mal der mit Schlapphut, Lederjacke und Peitsche bewaffnete, raubeinige Forscher, der Goldschätze zu Tage fördert, mysteriöse Begebenheiten aufdeckt und neuerdings dabei natürlich ständig sein Laptop auf den Knien hält. Indiana Jones scheint allgegenwärtig. Seit «Jurassic Park» begegnet man mitunter auch dem Irrglauben, dass die Erforschung der Dinosaurier zum Aufgabenfeld der Archäologen gehöre; es sind allerdings die Paläontologen, die sich darum kümmern, so wie die Paläoanthropologen die Entstehung des Frühmenschen aufklären. Geht es etwas seriöser zu, so wird die Archäologie gerne mit der Enträtselung von Geheimnissen im Alten Ägypten gleichgesetzt; aber auch das sind bewährte Klischees, die freilich mit der Realität nur wenig zu tun haben.
Die Archäologie ist eine der faszinierendsten Wissenschaften überhaupt. Sie ist so international, interdisziplinär und Völker verbindend wie kaum ein anderes Fach. Klischees entstehen ja nicht selten aus dem enormen Interesse der Öffentlichkeit an einem Thema. Nahezu jeder Mensch ist doch irgendwie an der Frage interessiert, wo er herkommt und wie sich unser heutiges kulturelles Leben entwickelt hat. Archäologie fasziniert, weil sie diese Fragen gleichsam aus dem Nichts beantwortet. Die Müllhalden der Vergangenheit erlauben es, die früheste Geschichte der Menschheit zu entschlüsseln – und längst sind wir noch nicht am Ende der Erkenntnis angelangt: Ständig hören wir von neuen Entdeckungen und Aufsehen erregenden Grabungsfunden, unentwegt ändert sich unser Bild von fernen Zeitperioden, weil es noch längst nicht vollständig ist und vielfach auf Fragmenten und Zufallsentdeckungen beruht. Kann eine Wissenschaft spannender sein? Ich bin fest davon überzeugt, dass Archäologie eine so große Faszination auf die Menschen ausübt, weil jedes noch so unbedeutende Detail und jede noch so unspektakuläre Ausgrabung durchaus unser Geschichtsbild von Grund auf verändern, ja sogar auf den Kopf stellen kann. Hätten wir beispielsweise vor der Entdeckung der Himmelsscheibe von Nebra gedacht, dass der prähistorische Mensch auf dem Gebiet des heutigen Mitteldeutschlands schon vor den alten Ägyptern in der Lage war, Beobachtungen der Gestirne in eine bildliche Darstellung zu übertragen? Eine geradezu unglaubliche intellektuelle Leistung!
Doch wie fing eigentlich alles an – wie wurde die Archäologie zur Wissenschaft? Archäologie ist – wörtlich übersetzt– die Kunde von alten Dingen. Es klingt vielleicht erstaunlich, aber an keiner einzigen deutschen Universität kann man heute Archäologie studieren. Dieses Fach existiert nicht. Die «alten Dinge», also die materiellen Hinterlassenschaften, sind stets in ihrem kulturellen, historischen und geografischen bzw. kulturgeografischen Kontext zu betrachten. Und genau deshalb gibt es keine «Archäologie» als Universitätsfach, aber es gibt eine Klassische Archäologie, eine Vorderasiatische, eine Biblische, eine Christliche, eine Byzantinische, eine Provinzialrömische, eine Islamische, eine Chinesische, eine Altamerikanische und eine Naturwissenschaftliche Archäologie und neuerdings auch eine Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Immer widmen sich die Forscherinnen und Forscher als Vertreter dieser Fächer bestimmten Zeitepochen, bestimmten Kulturräumen oder ganz spezifischen Quellengattungen.
Am universellsten ist die Prähistorische Archäologie oder Ur- und Frühgeschichte. Sie ist nicht an bestimmte Räume gebunden, auch wenn sie sich überwiegend der frühen Menschheitsgeschichte Europas widmet. Prähistoriker erforschen – und zwar weltweit – die Geschichte des Menschen seit dem Zeitpunkt, an dem er seine ersten Werkzeuge zu fertigen beginnt, und das geschah vor mehr als 2,7 Millionen Jahren. Die Erforschung der Urgeschichte ist jenen Perioden gewidmet, in denen es noch keine schriftlichen Zeugnisse gab – Epochen aus der dunklen Anonymität frühester Jahrtausende. Die Urgeschichte wird ab jenem Zeitpunkt zur Frühgeschichte, wenn die Wissenschaft zusätzlich mit ersten Schriftquellen arbeiten kann. Doch zwei Überlegungen sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig: Erstens reichen diese Schriftquellen bei weitem nicht aus, um die Geschichte umfassend zu rekonstruieren – folglich braucht man weiterhin die Archäologie. Und zweitens ist für frühgeschichtliche Kulturen charakteristisch, dass immer nur Andere über sie schreiben, also etwa Griechen über Kelten oder Römer über Germanen – Kelten und Germanen aber nie über sich selbst. Erst wenn Völker über eine eigenständige Geschichtsschreibung verfügen, endet ihre Frühgeschichte. Im Mittelmeerraum trifft dies schon auf die antiken Kulturen der Griechen und Römer zu; in weiten Teilen Mitteleuropas beginnt Geschichtsschreibung hingegen nicht vor dem Frühmittelalter, in Nord- und Osteuropa sogar erst im Hochmittelalter.
Als Begründer einer wissenschaftlichen Archäologie, die in erster Linie aus kunstgeschichtlichen Betrachtung entstand, gilt Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). Nach einem Studium der Theologie, Geschichte, Medizin, Philologie und Philosophie reiste er nach Italien, begann, in Rom und Pompeji Antiken zu sammeln, und wurde schließlich von Papst Clemens XIII. im Jahr 1763 zum Aufseher der Altertümer im Kirchenstaat ernannt. Winckelmann sah die vornehmste Aufgabe der Kunst darin, die Schönheit darzustellen. Er prägte die berühmte Formel von der «edlen Einfalt und stillen Größe». Seine Begeisterung für männliche Helden- und Götterstatuen der Antike war auch Ausdruck homoerotischer Neigungen, wie in seinen Briefwechseln zum Ausdruck kommt. Die Vollendung jeglicher Kunst schien ihm die griechische zu sein, während er der römischen nur eine Rolle als deren Nachahmerin zugestand – so wie er die griechische Demokratie als dem römischen Despotismus überlegen betrachtete. Während seiner Forschungstätigkeit erkannte Winckelmann bereits früh die Notwendigkeit, sich dem Altertum auf dem Wege systematischer Ausgrabungen zu nähern, und so forderte er diese Vorgehensweise zum Beispiel für die bedeutende antike Stätte von Olympia ein, wo tatsächlich deutsche Archäologen 1874 die Arbeiten aufnahmen und dort bis heute tätig sind.
Nur wenige Jahre nach Winckelmann begründete Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865), Antiquar am Kopenhagener Nationalmuseum, eine Gliederung der heimischen Altertümer in eine Stein-, Bronze- und Eisenzeit – das so genannte Dreiperiodensystem. Er richtete – fehlte es doch in seiner Heimat an einer mit Rom und Griechenland vergleichbar ‹großen› Kunst – den Blick erstmals auf die gesamte materielle Hinterlassenschaft der Vergangenheit, also etwa auf alltägliche Gerätschaften und Schmuck, die wegen ihrer Unscheinbarkeit wenig spektakulär anmuteten.
Fast zur selben Zeit, als die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809–1882) Verbreitung fand (seit 1858), entdeckte man eigentümliche Menschenknochen «vom Geschlechte der Flachköpfe» im Neandertal bei Düsseldorf (1856). Doch selbst ein so anerkannter Anthropologe wie der berühmte Rudolf Virchow (1821–1902) hielt ein hohes Alter dieser menschlichen Überreste für ausgeschlossen und vertrat die Auffassung, dass diese Knochen von einem neuzeitlichen Menschen stammten, der durch Krankheit extrem deformiert gewesen sein soll. Allein aufgrund des enormen Ansehens Virchows wagte es die Forschung fast ein halbes Jahrhundert lang nicht, diese fundamentale Fehleinschätzung, die schon bald offensichtlich war, zu korrigieren.