1. Kapitel
Grundwissen über AD(H)S
AD(H)S ist ein Dauerthema, zu dem es viele Bücher und Informationsseiten im Netz gibt. Diese Vielfalt verwirrt. Hinzu kommt, dass das noch recht junge, psychische Störungsbild immer wieder in Frage gestellt wird. Ursächlich dafür sind die drei Hauptsymptome, die jeder Mensch bei sich mehr oder weniger feststellen kann. Die Grenze von einem normalen Verhalten zu einer Störung wie AD(H)S ist dabei fließend. Niemand kann sie bis heute genau festlegen.
Die drei Hauptsymptome sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität.
Unaufmerksamkeit
Die Unaufmerksamkeit zeigt sich in allen Lebensbereichen und hat besonders in der Schule, in der Ausbildung oder im Studium negative Folgen. Die Jugendlichen übersehen Details und machen jede Menge Flüchtigkeitsfehler. Sie können sich nicht lange konzentrieren und haben Probleme zuzuhören. Sie fangen viel an und führen kaum etwas zu Ende.
Natürlich fällt es ihnen auch schwer, ein Projekt oder eine Aufgabe zu planen und diese Planung dann auch abzuwickeln. Das Wissen um diese Unfähigkeit führt dazu, dass die Betroffenen solche Aufgaben aktiv vermeiden und sich aus Angst vor dem Misserfolg entziehen. Sie sind vergesslich und verlieren gerne Gegenstände aller Art. Ihre Reizoffenheit ist ursächlich verantwortlich dafür, dass sie sehr leicht ablenkbar sind von allem, was um sie herum passiert.
Hyperaktivität
Am auffälligsten ist das Symptom Hyperaktivität, denn ein unruhiges, nie still sitzendes Kind kann seine Umgebung in den Wahnsinn treiben. Besonders in der Kindheit machen hyperaktive Jungen und Mädchen ihren Eltern das Leben schwer. Häufig vermeiden die Familien Besuche bei anderen und ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück, um nicht immer wieder unangenehm aufzufallen. Später wandelt sich die äußere Unruhe oft in eine innere Nervosität. Typische Anzeichen für das hyperaktive Verhalten sind:
- • Zappeln und sich winden, während man sitzt oder steht
- • Aufspringen und herumlaufen während sitzender Tätigkeiten
- • Rennen oder herumklettern, egal wo man sich befindet
- • Nicht in der Lage sein, leise zu spielen
- • Getrieben wirken, umtriebig sein
- • Übermäßig viel reden
Impulsivität
Die Impulsivität stellt Kinder und Jugendliche mit AD(H)S oft ins soziale Aus. Immer wieder sagen sie unüberlegt Dinge, die andere verletzen. Im Unterricht stören Sie massiv, weil ihnen die Zurückhaltung nicht gelingt. Typische Verhaltensweisen der Impulsivität sind:
- • Mit Antworten herausplatzen, bevor die Frage zu Ende gestellt worden ist
- • Reihenfolgen ignorieren und nicht warten können, bis man an der Reihe ist
- • Anderen ins Wort fallen oder gleichzeitig sprechen.
Wer unter der Störung leidet, am gesellschaftlichen Leben kaum teilnehmen kann, soziale Kontakte vermisst oder in der Schule und Ausbildung versagt, braucht Unterstützung. AD(H)S kann das Familienleben extrem belasten und führt manchmal sogar zu ihrer Auflösung. Je besser Eltern informiert sind, desto eher kann eine Therapie Hilfe bringen. Der Weg zu Fachleuten ist sehr zu empfehlen.
AD(H)S und Hochbegabung
In einem Teil der Literatur über AD(H)S wird immer wieder davon ausgegangen, dass die Störung Ausdruck einer Hochbegabung sei. Prominente Beispiele werden für diese These angeführt. So sollen beispielsweise Bill Gates und auch der verstorbene Apple-Chef Steve Jobs von AD(H)S betroffen gewesen sein. Allerdings gibt es keine gesicherte Diagnose, lediglich Vermutungen, denn die beiden erfolgreichen Unternehmer gelten als schwierige, getriebene Persönlichkeiten.
Für ein erhöhtes Zusammentreffen von AD(H)S und einer Hochbegabung gibt es keine wissenschaftlichen Beweise. Jugendliche mit AD(H)S sind ebenso wie der Durchschnitt der Bevölkerung zu circa 2 Prozent hochbegabt. Ob sie allerdings ihre Begabung ausschöpfen und umsetzen können, ist fraglich. Ohne die Fähigkeit zum strukturierten Arbeiten bleiben schulische oder wissenschaftliche Ausnahmeleistungen schwierig und sind eher als Zufallstreffer, bei erkannten Begabungsinseln, möglich.
Wer stellt die Diagnose?
Erzieher, Lehrer, Freunde und Verwandte können AD(H)S nicht diagnostizieren, versuchen es aber gerne immer wieder. Die Hinweise von außen sollten ernst genommen und überprüft werden. Wenn ein Kind oder Jugendlicher immer mehr Probleme im Alltag hat, ist eine fachliche Abklärung sinnvoll.
Nur Fachleute können klären, ob eine Störung vorliegt. Ansprechpersonen sind:
- • der Kinder- und Jugendarzt
- • der Hausarzt
- • Kinder- und Jugendpsychiater
- • Psychotherapeuten
- • Beratungsstellen
- • Ambulanzen und sozialpädiatrische Zentren.
Anhand von empfohlenen Leitlinien5 werden die Experten überprüfen, ob eine AD(H)S vorliegt. Das kann mehrere Sitzungen dauern, in denen neben ausführlichen Gesprächen auch testpsychologische und körperliche Untersuchungen durchgeführt werden. Dabei werden mögliche andere Ursachen ausgeschlossen, um anschließend eine in Frage kommende Therapie zu empfehlen. Zur Diagnose der verbreiteten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung AD(H)S genügt es, dass die Symptome bis zum 12. Lebensjahr das erste Mal auftreten. Betont wird im DSM-V6 auch, dass AD(H)S bis ins Erwachsenenalter anhalten kann.
AD(H)S – Diagnostische Kriterien nach ICD-10 (DSM-IV/V)
Unaufmerksamkeit
- • häufig unaufmerksam gegenüber Details, Sorgfaltsfehler
- • häufig nicht in der Lage, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben und beim Spielen aufrechtzuerhalten,
- • häufig scheinbar nicht zuhören, was gesagt wird,
- • oft Erklärungen nicht folgen oder Aufgaben nicht erfüllen können,
- • häufig beeinträchtigt, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren,
- • häufig Vermeiden von, (zusätzlich: hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit)
- • ungeliebten Arbeiten, die geistiges Durchhaltevermögen erfordern,
- • verliert häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben wichtig sind
- • häufig von externen Stimuli abgelenkt,
- • im Verlauf der alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich.
Überaktivität
- • fuchteln häufig mit Händen und Füßen oder winden sich auf den Sitzen,
- • verlassen ihren Platz, wenn Sitzenbleiben erwartet wird,
- • laufen häufig herum oder klettern exzessiv in unpassenden Situationen (bei Jugendlichen und Erwachsenen nur ein Unruhegefühl),
- • häufig unnötig laut beim Spielen oder Schwierigkeiten bei leisen Freizeitbeschäftigungen
- • häufig »auf Achse«, handelt »wie getrieben«)
Impulsivität
- • häufig mit der Antwort herausplatzen, bevor die Frage beendet ist,
- • kann häufig nicht warten,
- • häufig Unterbrechen und Stören Anderer.
Vier Typen von AD(H)S
Die Experten sprechen momentan von vier unterschiedlichen Typen der Störung.
- 1. Der AD(H)S-Mischtyp (alle Komponenten vorhanden)
- 2. Der vorwiegend unaufmerksame AD(H)S Typ (hauptsächlich unaufmerksam)
- 3. Der vorwiegend hyperaktiv-impulsive AD(H)S Typ (hauptsächlich hyperaktiv und impulsiv)
- 4. Der AD(H)S-Residual Typ (Jugendlicher oder Erwachsener, bei dem nicht mehr alle Symptome stark ausgeprägt sind, die früher vorhanden waren)
Dabei sind auch diese Typen in sich nicht identisch, sondern unterscheiden sich in Stärke und Ausprägung der Symptome. Die AD(H)S kann sich also ganz verschieden zeigen und ist auch deswegen nicht leicht oder vorschnell zu diagnostizieren. Der stille, verträumte, in sich ruhende Computernerd kann davon ebenso betroffen sein wie der laute, ständig redende und überaus anstrengende Extremsportler oder Moderator. Solange ein Betroffener die Symptome der AD(H)S in sein Leben integrieren kann und sie vielleicht sogar positiv nutzt, ist eine Therapie in der Regel nicht notwendig. Wenn die Symptome aber sehr stark ausgeprägt sind und das Leben behindern, profitiert der Betroffene von Hilfe.
Diagnose AD(H)S
Ein einziges testpsychologisches Verfahren, mit dem eine AD(H) S definitiv festgestellt werden kann, gibt es nicht. Verschiedene Untersuchungen und Gespräche beim Facharzt sind notwendig, um zu einer Diagnose zu gelangen, die komplex und aufwendig ist.
Bei einer Erstdiagnostizierung von AD(H)S im Jugendalter muss immer auch an eine organische oder psychische Erkrankung gedacht werden. Eine Psychose, eine manische Episode oder eine schizophrene Störung können durch den Facharzt ausgeschlossen werden. Das gilt auch für eine Persönlichkeits-, Angst- oder Panikstörung. Nach dem Ausschluss anderer ursächlicher Erkrankungen und dem Vorliegen der...