II. Die Masche der Romeos
Die Anmache
Sommer 1957. Nach einem arbeitsreichen Tag im Auswärtigen Amt klingelt es abends an der Wohnungstür von Leonore H. in Bonn-Duisdorf. Ein Mann steht mit einem Strauß roter Rosen davor. Er lächelt und bittet höflich, »mit der Dame sprechen zu dürfen, die ich gestern Abend kennengelernt habe«. Frau H. bedauert, nicht jene Dame zu sein, glaubt an eine Verwechslung und bittet schließlich den offenbar enttäuschten Rosenkavalier herein. Sie findet Gefallen an seiner Gesellschaft, lässt sich die Blumen schenken und nimmt seine Einladung zum Abendessen an.
Leonore H., von Freunden und Bekannten nur Lore genannt, hat so ihrer besten Freundin und Kollegin Ada M. die erste Begegnung mit dem Fotografen Heinz Sütterlin geschildert und von dem »glücklichsten Zufall ihres Lebens« geschwärmt.
Zufall? Glück? Der geflüchtete KGB-Oberstleutnant Jewgenij Runge hat, als er sich im Oktober 1967 der US-Mission stellte und unter anderem das Agenten-Ehepaar Sütterlin der CIA als Morgengabe offerierte, eine andere Variante des ersten Treffens zu Protokoll gegeben.
Heinz Sütterlin, 1924 in Freiburg geboren, im Krieg als Fahnenjunker verschüttet, wurde 1956 von der HVA angeworben. 1957 forderte der Zweite Sekretär der Sowjet-Botschaft und KGB-Geheimdienstoffizier, Leonid Prochorow, die Überstellung Sütterlins zum KGB. Wie immer, kam die HVA dem Verlangen des sowjetischen Geheimdienstes ohne Widerspruch nach.
Sütterlin erhielt umgehend von Prochorow den Auftrag, eine Sekretärin in Schlüsselstellung des Auswärtigen Amtes zu umgarnen, sie zu heiraten und für die Spionage zu gewinnen. Zur Auswahl soll Prochorow Sütterlin drei Kandidatinnen genannt haben, darunter Leonore H., »die warmherzige und kameradschaftliche Sekretärin aus guter Familie, die zwei unglücklich verlaufene Liebesaffären hinter sich hatte, die sich ungeschickt anzog und zur höchsten Klasse der Geheimnisträger im Auswärtigen Amt gehörte« (Runge). Warum Sütterlin, dessen Anziehungskraft auf Frauen vielfach dokumentiert ist, sich für Lore H. entschied, anstatt für eine der anderen unverheirateten Zielobjekte, weiß niemand. Die Sekretärin H. saß seit 1955 im Vorzimmer des Chefs der Unterabteilung Verwaltung, der Personal- und Verwaltungsabteilung des AA, zu der auch die Referate Chiffrier- und Fernmeldewesen wie der Geheimschutz gehörten. In dieser Position war Lore H., nach einer Unbedenklichkeitserklärung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, für den Umgang mit Vorgängen bis hin zur höchsten von vier Geheimhaltungsstufen (»nur für den Dienstgebrauch«, »vertraulich«, »geheim«, »streng geheim«), der sogenannten Verschlusssachen-Vorschrift, zugelassen.
Aus der vom KGB eingefädelten Komplizenschaft zwischen dem Fotografen, der sich mit Public-Relations-Aufträgen für den Zivilen Bevölkerungsschutz und für das Bundespresseamt über Wasser hielt, und der Sekretärin mit dem Schlüssel zum Panzerschrank entwickelte sich ein Liebesverhältnis – zumindest aus der Sicht von Lore H. Nicht aus Misstrauen, wohl eher aus anerzogener Korrektheit, stellt die Tochter eines namhaften Düsseldorfer Rechtsanwalts dem Sicherheitsbeauftragten im AA sogar die Frage, ob gegen ihren neuen Bekannten Sütterlin Sicherheitsbedenken bestünden. Antwort: nein – der KGB-Agent war bisher nicht ins Visier des Verfassungsschutzes oder des Militärischen Abschirmdienstes geraten.
Trotz der Warnungen ihrer Schwester und besten Freundin, die in dem Fotografen mit der Piratennarbe auf der Stirn einen »arroganten und zynischen Playboy« vermuten (so ihre Aussagen am 25. November 1969 vor dem Oberlandesgericht Köln im Prozess gegen Heinz Sütterlin), heiratet Lore H. am 12. Dezember 1960 in Köln-Lindenthal ihren Heinz. Der frisch gebackene Ehemann funkt noch am selben Tag den erfolgreichen Abschluss der ersten Etappe seines Auftrags an die KGB-Dependance in Berlin-Karlshorst.
Irene S., 29, Stenotypistin im Liegenschaftsamt der Stadt Köln, macht sich im Sommer 1965 mit einer Kleinanzeige im »Kölner Stadt-Anzeiger« auf die Suche nach einem zuverlässigen und humorvollen »Mann fürs Leben«. Mehr als 30 Jahre danach wird sie behaupten, sie habe mit einer Freundin »nur aus Spaß« annonciert, um zu sehen, welche Typen sich da wohl melden. In Wahrheit träumt die junge Frau, froh der häuslichen Enge in der niedersächsischen Provinz und den Annäherungsversuchen eines früheren Chefs entkommen zu sein, von einer »richtigen Familie«.
Mehrere Kandidaten antworten auf ihre Anzeige, Irene S. trifft zwei oder drei von ihnen, bevor sie dem Mann begegnet, der sich Helmut Schneider nennt. Er sagt, dass er als technischer Zeichner arbeitet, darüber hinaus aber versuche, sich im Abendstudium als Ingenieur zu qualifizieren. Zuvor habe er in Südafrika im Bergbau gearbeitet, das Land aber einer unglücklichen Affäre wegen verlassen. Irene S. erzählt ihm vom Ende ihrer letzten Beziehung und wie sie in Abendkursen Englisch lernt. Sie verliebt sich in den ruhigen, zärtlichen Pfeifenraucher. Sie verreisen, sie schmieden Pläne für die Zukunft. Er gibt vor, sich auf das Kind zu freuen, das sie von ihm zu erwarten glaubt. Doch Irene S. ist nicht schwanger, ihr Körper täuscht dies bloß vor.
Auf einem Wochenendtrip nach Amsterdam lernt sie einen guten Freund des Geliebten kennen, der wie er Mitglied eines in London ansässigen Friedenskomitees sein soll. Dieser Mann empfiehlt, sie solle sich ihrer Karriere wegen im Bundeswirtschaftsministerium bewerben, anstatt in einer städtischen Behörde ihr Talent verkümmern zu lassen. Und er erzählt ausführlich, wie wichtig die Arbeit des Friedenskomitees ist, das ohne reichen Informationsfluss aus allen Bereichen seinen Auftrag nicht erfüllen könne. Einen Satz, den er sorgfältig an das Ende seines Vortrags platziert, wird Irene S. Jahre später vor Gericht zitieren: »Man muss auch manchmal etwas Unrechtes tun, um dem Frieden in der Welt zu dienen.«
Als Irene S. den Job im Bonner Wirtschaftsministerium bekommt, schickt Helmut Schneider sich an, aus ihrem Leben zu verschwinden. Angeblich plant er, zu seiner früheren Freundin nach Südafrika zurückzukehren, die er einfach nicht vergessen kann. Doch bevor er auf Nimmerwiedersehen abtaucht, arrangiert Schneider ein Treffen mit dem Freund vom Friedenskomitee. In der stillen Hoffnung, irgendwie mit Schneider verbunden zu bleiben, fährt Irene S. mit ihm nach Zürich. Dort stellt ihr Schneiders Freund, in Wahrheit sein Führungsoffizier, einen Mann namens Hans Türke vor.
Der Name ist so falsch wie fast alles, was ihr der vorgebliche Handelsvertreter in den nächsten zehn Jahren von sich erzählt und weitere 20 Jahre später in einem Interview (»Superillu« Nr. 28 vom 2.7.1998) über seine Jagd »nach Geheimnissen in den Betten Bonner Sekretärinnen« preisgeben wird. Wilhelm Richard M., Jahrgang 1931, einst Oberfeldwebel der kasernierten Volkspolizei und heute Rentner in Eisenhüttenstadt, beginnt 1968 als Hans Türke auf das Leben von Irene S. Einfluss zu nehmen. Bereits wenige Wochen nach der ersten Begegnung ziehen sie zusammen. Er verspricht ihr die Heirat, verlangt aber als Liebesbeweis Arbeit für das »Internationale Friedenskomitee«: Dokumente von ihrem Arbeitsplatz, Informationen über Vorgesetzte und Kollegen. Sie willigt ein, denn als Lohn winkt die Eheschließung vor Weihnachten 1977.
»Temperamentvolle Eva, 28, sucht entsprechenden Mann fürs Leben, der Intelligenz, Humor und viel Verständnis besitzt«, lautet im »Bonner General-Anzeiger« eine Anzeige, aufgegeben im August 1973 von einer kaufmännischen Angestellten eines Pharma-Unternehmens. Aus den etwa 30 Zuschriften sucht Elke F. drei heraus, einer der Schreiber stellt sich als Gerhard Thieme vor. Schon in seinem Antwortbrief philosophiert er so schön über die »inneren Werte« des Menschen, dass Elke F. erwartungsfroh dem ersten Treffen im Stadtpark von Bad Godesberg entgegensieht. Ihre Hoffnungen scheinen sich zu erfüllen. Am Tag nach der Begegnung telefonieren Thieme und sie mehrere Stunden, andere potentielle Partner will sie gar nicht mehr sehen.
»Ich hatte das Gefühl, den Mann gefunden zu haben«, so wird sie 16 Jahre später vor Gericht das erste Rendezvous mit Thieme beschreiben. Als sie sich 1973 aus eigener Initiative der sicheren Versorgung wegen (»ich entstamme einer Beamtenfamilie«) und auch auf Rat des neuen Freundes bei einem Ministerium bewerben will, wundert sie seine Empfehlung nicht: »Verteidigung ist immer gut.« Er gibt sich aber auch zufrieden, als sie statt auf der Hardthöhe erst einmal im Bundeskanzleramt beginnt. Er beschwert sich nicht, dass sie zuvor eine Anstellung beim Auswärtigen Amt abgelehnt hat, weil sie ihrer alten und pflegebedürftigen Eltern wegen nicht ins Ausland wechseln will. Er weiß: Er hat sie in der Falle.
Da die bulgarische Schwarzmeerküste als kinderfreundliches und billiges Urlaubsgebiet gilt, reist Dagmar K.-S., 26 Jahre, aus München im August 1973 mit ihrer sieben Jahre alten Tochter nach Burgas – der erste Urlaub seit der Trennung von ihrem Mann. Schon nach dem ersten Tag möchte Dagmar K.-S. am liebsten wieder abreisen. Überall Familienidylle wie aus dem Bilderbuch – am Strand, im Hotel, im Restaurant, auf der Strandpromenade. Und bei jeder sich bietenden Gelegenheit fragt die Tochter: »Warum kann denn Papi nicht dabei sein?« Die Mutter, angesichts des Massenbetriebs enttäuscht und ohnehin auf dem seelischen Tiefpunkt, lernt am nächsten Tag einen Mann kennen, der alles in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Der Mittvierziger hat sich zufällig neben die hübsche blonde Frau mit dem temperamentvollen Töchterchen am Strand niedergelassen. Am 7. Juni 1993, fast 20...