1 Einleitung
1.1 Problemstellung
Der Anlagen- und Maschinenbau als Beispielindustrie der Auftragseinzelfertigung1 ist einer der führenden Industriezweige in Deutschland. Diese Branche generierte im Jahre 2013 einen Umsatz von 206 Milliarden Euro und beschäftigte in über 6000 Unternehmen rund 986.000 Mitarbeiter.2 Die deutsche Wirtschaft ist daher wie kaum eine andere auf die Erforschung, Entwicklung und Fertigung von Produktionstechnologien spezialisiert.
Der Anlagen- und Maschinenbau steht vor der Aufgabe, sich gegen aufstrebende Nationen wie China und Indien zu behaupten. Die Herausforderung ist, den Vorsprung im Hinblick auf Technologie und Qualität zu verteidigen.3 Aber auch hinsichtlich der Kostenvorteile, die diese Wettbewerber häufig besitzen, dürfen hiesige Unternehmen mögliche Optimierungspotenziale nicht aus dem Blick verlieren. Unregelmäßige Auftragseingänge sowie für jeden Auftrag abweichenden Abläufe führen zu Unsicherheiten und Variabilität und sind Herausforderungen für die Planung eines Auftragseinzelfertigers.4 Allerdings liegen in der Planung und Steuerung der Unternehmensprozesse sowohl Potenziale zur Schaffung von weiteren Wettbewerbsvorteilen hinsichtlich Qualität und Technik als auch Potenziale in Bezug auf Kosteneinsparungen.
Dennoch befindet sich in der aktuellen Forschung der Schwerpunkt zur Verbesserung der Ressourcennutzung häufig auf den Methoden und Instrumenten zur Planung und Steuerung des Produktionsprozesses in der Serienfertigung.
Eine Fokussierung auf die Serienfertigung ist verständlich, da diese in vielen Industrien eine Anwendung findet und ein hoher Output generiert wird. Die vergleichsweise ausgeprägte Vernachlässigung der Auftragseinzelfertigung, die in einigen deutschen Schlüsselindustrien vorherrscht, ist hingegen nicht nachvollziehbar.5
Die Untersuchung des Produktionsprozesses ist naheliegend, da von einem Kernprozess eines jeden Fertigungsunternehmens ausgegangen werden kann.6 Die Zielsetzung der Wissenschaft besteht überwiegend darin, auf Einflussfaktoren des Erfolgs eines Unternehmens wie Kosten, Qualität und Zeit einzuwirken. Neben der Produktionsplanung und -Steuerung beschränkt sich die Forschung auf Informationssysteme, auf Fertigungssysteme und auf die Koordination von Vertrieb und Fertigung. Der Vorproduktionsprozess7 findet jedoch nur selten Eingang in die aktuelle Forschung.8
Vor dem Hintergrund, dass bis zu 80 % der Produktentstehungszeit, bis zu 70 % der Qualität und bis zu 70 % der Herstellkosten im Prozess vor der eigentlichen Produktion definiert werden9, wird jedoch deutlich, dass der Vorproduktionsprozess neben dem Abwicklungsprozess der Herstellung von besonderer Bedeutung ist. Demzufolge kann die Berücksichtigung des Vorproduktionsprozesses zum Unternehmenserfolg beitragen.10
Folgende Aussagen bekräftigen diese Vermutung:
- Bis zu 90 % der Projekt- und Produktkosten werden während der Angebotsphase bestimmt.11
- 75 bis 80 % der vermeidbaren Gesamtkosten sind in der Entwicklungsphase kontrollierbar.12
- 75 % der Nacharbeit können durch verbesserte Produkt- und Prozessplanung verhindert werden.13
- Über 50 % der Zeitüberschreitungen in Projekten können auf Planungsfehler im Entwicklungsbereich zurückgeführt werden.14
- In der Konstruktionsphase werden etwa 60 bis 70 % der Herstellungskosten eines Produkts festgelegt, aber nur zwischen 5 und 10 % der Gesamtkosten verursacht.15
Cutler (2006) propagiert, dass sehr Erfolg versprechende Verbesserungsmöglichkeiten für Auftragseinzelfertiger in den Geschäftsprozessen liegen. Die Beseitigung nicht wertschöpfender Aktivitäten in der Konstruktion, in der Kalkulation, bei der Erstellung von Angeboten, in der Beschaffung und Rechnungslegung bieten Möglichkeiten für durchschlagende Besserungen.16
Ein Aspekt, der die Einsparpotenziale im Vorproduktionsprozess unterstreicht, ist, dass nur etwa 30 % aller Angebotsabgaben im Bereich der Auftragseinzelfertigung zum Erfolg führen.17 Dies liegt u. a. an den großen Unsicherheiten, die während eines Auftragsanbahnungsprozesses zu bewältigen sind.18
Davon ausgehend ist jede Angebotserstellung als Risiko zu beurteilen, weshalb die Entscheidung, um welche Aufträge sich ein Unternehmen bewirbt, sinnvoll geplant sein muss. Wenn der Auftrag dem Unternehmen nicht zugeteilt wird, müssen dessen Kosten durch andere Aufträge abgedeckt werden. Zudem werden erhebliche Kapazitäten genutzt, die nicht für andere Aufträge zur Verfügung stehen. Insgesamt sinkt der Ressourcennutzungsgrad und die Profitabilität der anderen Aufträge leidet.19 Demzufolge kann die Erhöhung der Auftragswahrscheinlichkeit durch verbesserte Vorproduktionsprozesse zur Erfolgssteigerung eines Auftragseinzelfertigers beitragen. Mittels einer Erhöhung der Auftragswahrscheinlichkeit können die Kosten deutlich gesenkt werden. Diesen Zusammenhang zeigt folgendes Beispiel:
Angenommen ein Unternehmen benötigt durchschnittlich 100.000 € für die Durchführung des Vorproduktionsprozesses bei einer Auftragswahrscheinlichkeit von 32 %. Unter diesen Bedingungen muss ein Unternehmen durchschnittlich Aufwendungen in Höhe von 312.500 € leisten, bevor eines der abgegebenen Angebote zum Auftrag wird. Bei einer um 8 % höheren Auftragswahrscheinlichkeit müsste das Unternehmen pro erfolgreiche Angebotsabgabe nur Kosten in Höhe von 250.000 ₢ im Voraus decken. Dies entspricht einer Ersparnis von 20 %.
Durch einen systematisch geplanten und abgewickelten Vorproduktionsprozess können Kosten, Zeit und Qualität des Gesamtprozesses verbessert und erhebliche Wettbewerbsvorteile erzielt werden.20 Ein weiterer Aspekt, der für die explizite Berücksichtigung des Vorproduktionsprozesses eines Auftragseinzelfertigers spricht, ist, dass lange Entwicklungszeiten und Qualitätsprobleme unweigerlich Markteinbußen zur Folge haben.21
Verlässlich eingehaltene Kundentermine und kurze Durchlaufzeiten sind wesentliche Ziele auftragsorientiert arbeitender Unternehmen. Durchschnittlich werden die Produkte jedoch zwischen 6 und 12 Monaten zu spät geliefert. Die Grundvoraussetzung, um Kundentermine einzuhalten, ist ein komplikationsfreier Durchlauf der Auftragsabwicklung und eine bestmögliche Planung im Vorproduktionsprozess. Demzufolge müssen alle an der Produktentwicklung und –erstellung beteiligten Bereiche koordiniert werden.22
Eine Herausforderung der Auftragseinzelfertigung besteht im Einmalcharakter der Produkterstellung. Die kundenindividuelle Ausgestaltung der zugrunde liegenden Produkte setzt einem standardisierten Vorgehen und der Etablierung stabiler Prozesse und Pläne scheinbar enge Grenzen. In der Praxis wird im Bereich des Produktionstyps der Auftragseinzelfertigung die Anwendung einer systematischen Planung und Steuerung häufig skeptisch beurteilt.
1.2 Fragestellung und Zielsetzung
Vor dem Hintergrund der skizzierten Problemsituation wird mit der vorliegenden Ausarbeitung das Ziel verfolgt, die Abwicklung des Vorproduktionsprozesses eines Auftragseinzelfertigers zu verbessern. Diesbezüglich wird das Rahmenkonzept der dauerhaften teamorientierten Organisation, ein Ansatz des agilen Projektmanagements, angewendet.
Bereits mit bzw. vor Eingang einer Anfrage können Abläufe in Gang gesetzt werden, die zu einer höheren Auftragswahrscheinlichkeit und einem stabileren Durchlaufen der gesamten Auftragsbearbeitung beitragen können. Nicht wertschöpfende Aktivitäten sowie Unsicherheiten werden abgebaut. Es kann gelingen, nicht nur die Durchlaufzeiten, sondern auch Kosten zu senken sowie die Qualität der Prozesse und Produkte zu erhöhen.23 Eine systematische Planung und Steuerung sollte einen komplikationsarmen Durchlauf des Vorproduktionsprozesses möglich machen, sodass der Vorproduktionsprozess beim ersten Mal erfolgreich ist.24 Der in dieser Arbeit vorgestellte Ansatz untersucht demnach die Forderungen nach einer anwendbaren Systematik, die bereits vor dem eigentlichen Angebot die Anforderungen und Aufwände des Lebenszyklus einer Anlage bzw. Maschine prüfen kann.
Insgesamt wird der Forschungsfrage nachgegangen, ob ein agiles Projektmanagement im Vorproduktionsprozess eines Auftragseinzelfertigers zielfördernd einsetzbar ist. Daraus ergeben sich weitere Fragestellungen, mit deren Beantwortung die übergeordnete Forschungsfrage eine Antwort erfährt:
- Welche Organisationsform ist bei den Voraussetzungen eines Auftragseinzelfertigungsunternehmens im Hinblick auf die Planung und Steuerung des Vorproduktionsprozesses vorteilhaft?
- In welcher Form kann das agile Projektmanagement im Vorproduktionsprozess eines Auftragseinzelfertigers angewendet werden?
- Wie ist die dauerhafte teamorientierte Organisation unter den Rahmenbedingungen des Vorproduktionsprozesses eines Auftragseinzelfertigers zu gestalten?
- Wie kann die Anwendung des Rahmenkonzepts der dauerhaften teamorientierten Organisation die Projektparameter Kosten, Qualität und Zeit eines Auftragseinzelfertigers beeinflussen?
Der Fokus vorliegender Arbeit liegt demzufolge auf der organisatorischen Gestaltung des Vorproduktionsprozesses. Es wird gezeigt, wie ein agiles Projektmanagement in Form der dauerhaften teamorientierten Organisation zur erfolgreichen Planung und Steuerung des...