ENGLAND
Schwierige Zeiten
Das London der Nachkriegszeit lässt den Menschen nicht viele Möglichkeiten. Das einst so stolze Königreich Großbritannien hat die Folgen des Zweiten Weltkriegs noch nicht überwunden. Die Staatskasse ist leer, dringend benötigtes Kapital für den Wiederaufbau muss mittels Darlehen aus den USA beschafft werden. Auch die Wirtschaft muss sich erholen, den Wandel von Kriegs- zu Friedenszeiten erst mühsam bewerkstelligen. Es herrscht eine Zeit der Austerität. Die Übersee-Territorien nutzen die Gunst der Stunde. Indien wird, angeführt durch Mahatma Gandhi, unabhängig. Damit wird der Dekolonisationsprozess in Gang gebracht, und die Weltmacht Großbritannien ist im Begriff zu zerfallen. Das nationale Selbstbewusstsein liegt am Boden, die britische Bevölkerung ist verunsichert. Viele Menschen leiden unter materiellen Zwängen, ihnen stecken die strengen Lebensmittelrationierungen in den Knochen. Obwohl England als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist, bestehen die Rationierungen noch bis zum Juli 1954 fort, mehr als vier Jahre länger als in Deutschland.
Winston Churchill wird 1951 wieder Premierminister. Das Britische Empire wandelt sich zu dem zeitgemäßeren Commonwealth of Nations. Mit der Krönung Queen Elizabeths II. 1952 wird schließlich ein neues Kapitel in der Geschichte Großbritanniens aufgeschlagen. Im Verlauf der 1950er-Jahre weichen Angst und Unsicherheit allmählich einem leisen Optimismus.
Nach und nach erholt sich auch die Hauptstadt. London war während des Zweiten Weltkriegs Ziel unzähliger Angriffe der deutschen Luftwaffe. Mehr als eine Million Häuser sind beschädigt oder zerstört. Um den Wiederaufbau voranzutreiben und den Wohnungsmangel zu beheben, werden in London massenhaft riesige Wohnblöcke und Sozialbauten hochgezogen.
In einem davon leben die Betts.
Die junge Familie spürt von dem Aufschwung lange Zeit nichts. Bill, die schwangere Hazel und ihr Sohn Tony leben in einer kleinen Wohnung in West-London.
Am 7. August 1951, einem kühlen und nassen Sommertag, kommt dort ihr zweiter Sohn auf die Welt. Das kleine, schreiende Bündel ist zunächst namenlos. Seine Eltern haben sich eigentlich eine Tochter gewünscht, und so dauert es eine Weile, bis sie sich zu einem männlichen Vornamen durchringen können. Tatsächlich schlägt die Hebamme einen Namen vor: Peter. Bei diesem soll es nicht bleiben. Jahre später, im Zuge seiner Ordination zum Mönch, wird er seinen buddhistischen Namen erhalten: Brahmavamso, aus dem Geschlecht Brahmas. Bekannt ist der Junge von damals heute vor allem unter dem Namen Ajahn1 Brahm.
Doch das liegt alles noch in ferner Zukunft. Weder Bill noch Hazel ahnen zu diesem Zeitpunkt auch nur ansatzweise, was aus ihrem jüngsten Sohn werden wird. Seine Entwicklung ist in der Tat außergewöhnlich: vom Londoner Arbeiterkind zu einem der bekanntesten Buddhismus-Gelehrten des 21. Jahrhunderts, von Tausenden Anhängern weltweit gehört, geachtet und verehrt.
Aber bleiben wir erst einmal bei der Kindheit Peter Betts. Beide Eltern müssen arbeiten, damit das Geld für die kleine Familie reicht. Wie alle Eltern wollen sie das Beste für ihre Kinder. Sie versuchen, die Entbehrungen der Kriegsjahre vergessen zu machen, und tun ihr Möglichstes, um ihren beiden Söhnen einen guten Start ins Leben zu geben. Das klappt oft mehr schlecht als recht. Der asthmakranke Bill jobbt unregelmäßig, soweit es sein Gesundheitszustand eben zulässt, in einer Tankstelle, Hazel arbeitet als Sekretärin in einem Schreibbüro. Das hart verdiente Geld bleibt ein knappes Gut. Als Hazel einmal die Wohnung lüften will, weht ein unglücklicher Windstoß eine Ein-Pfund-Note ins Kaminfeuer. Bill versucht verzweifelt, den Schein zu retten. Leider vergeblich. Schlimmer noch, er verbrennt sich dabei beide Hände. Ein Britisches Pfund von damals wäre heute etwa fünfundzwanzig Euro wert: sehr viel Geld für die Familie. Zu viel, um es untätig den Flammen zu überlassen.
Die Wohnung der Betts liegt in Acton, einem Arbeiterviertel am westlichen Rand Londons. Hier verbringt Peter seine ersten Lebensjahre. Gemeinsam mit seinem Bruder geht er hier auch zur Schule, in die Derwentwater Elementary School. Das klassische Backsteingebäude in der Shakespeare Road wird von den Kindern der Nachbarschaft auch gerne Dirtywater Elementary School genannt – Schmutzwasser-Grundschule. Ein Bild, das die triste Umgebung, in der die Jungen aufwachsen, anschaulich beschreibt.
Fröhliche Weihnachten
Als kleiner Junge bekommt Peter von seinem Großvater als Weihnachtsgeschenk eine Angelrute. Weihnachten, die besondere Atmosphäre und Geschenke, es gibt kaum Aufregenderes für ein Kind. Leider auch für seinen Vater nicht. Der schnappt sich die Angel und nimmt sie genau in Augenschein. Testet die Biegsamkeit ausführlich und biegt und biegt … und bricht sie entzwei. Große Aufregung, großes Geschrei. Der Großvater ist aufgebracht, der Vater beschämt, der kleine Peter traurig und wütend – fröhliche Weihnachten.
Damals weiß Peter noch nicht, dass dieses väterliche Missgeschick auch seine guten Seiten hat. Es hält ihn davon ab, Fische zu fangen und zu töten, und bewahrt ihn somit vor karmischen Folgen. Von dieser Einsicht wird Ajahn Brahm erst viele Jahre später berichten, nachdem er sich intensiv mit der buddhistischen Karma-Lehre auseinandergesetzt hat.
Karma: Ursache und Wirkung
Der Begriff Karma kommt aus dem Sanskrit und bedeutet wörtlich Wirken oder Tat. Im westlichen Kulturkreis ist Karma mittlerweile ein geläufiges Wort; wir versuchen damit schicksalhafte, mysteriöse Begebenheiten zu erklären. Hat man zum Beispiel Pech, läuft etwas nicht wie erhofft oder geplant, sprechen wir gerne von schlechtem Karma. Etwas steht dann unter einem schlechten Stern. Es wird als eine Art kosmische Bestrafung für unsere Verfehlungen gesehen, wobei der Zusammenhang zwischen unserem Tun und den karmischen Folgen bestenfalls vage bleibt, meistens sogar kaum erkennbar. Insgesamt hat Karma einen negativen Beigeschmack und lässt sich am ehesten in rational nicht so leicht zugänglichen Sphären verorten.
Im Buddhismus bedeutet Karma nur scheinbar Ähnliches. Es hat hier nichts Gottgegebenes oder Schicksalhaftes an sich. Karma wird von Buddhisten als ein Naturgesetz gesehen, vergleichbar etwa mit dem dritten Newton’schen Axiom. Dieses Newton’sche Gesetz, auch Wechselwirkungs- oder Reaktionsprinzip genannt, besagt, dass auf jede Aktion, jede Kraft eine gleich große, aber entgegengerichtete Kraft wirkt. Anders ausgedrückt: In einem geschlossenen System heben sich die wirkenden Kräfte gegenseitig auf, sie streben nach Ausgleich. Im Buddhismus spricht man hier von karmischem Ausgleich. Jedes Handeln setzt Energien frei, die wiederum eine Reaktion, die sogenannte Vipaka, auslösen. Man stelle sich vor, dass man einen Stein in einen See wirft und dieses im Wasser Kreise zieht – das Prinzip von Ursache und Wirkung. So funktioniert auch Karma. Alles, was unserem Willen und Bewusstsein unterliegt, jedes Tun, jeder Gedanke, jedes einzelne Wort hat unweigerlich eine Wirkung.
Karma ist weder Strafe noch Belohnung, sondern lediglich die Folge unserer geistigen und physischen Handlungen. Wir sind dafür verantwortlich und tragen letztendlich auch die Konsequenzen, ob wir wollen oder nicht.
Die Wirkung kann je nach Ursache und Gewicht unmittelbar oder zeitlich versetzt eintreten. Manche Handlungen entfalten ihre Wirkung in diesem Leben, manche erst in einem späteren. Neben positiver und negativer gibt es auch neutrale Energie. Im Buddhismus spricht man in diesem Zusammenhang von karmisch heilsam, unheilsam und unwirksam. Liegen den Taten Motive wie Mitgefühl, Großzügigkeit oder Klugheit zugrunde, spricht man von heilsamem Karma. Erfolgen Handlungen aus Gier, bösem Willen, Egoismus oder auch aus Verblendung oder Unwissenheit, bezeichnet man das Karma als unheilsam. Das eine lindert Leid, das andere erzeugt Leid.
Entscheidend für die karmische Wirkung, die Folgen einer Tat, ist die Absicht, die ihr zugrunde liegt. Geschieht etwas ohne Absicht, sprechen Buddhisten von karmisch wirkungslosem Handeln. Allerdings hat das auch seine Tücken. Denn meistens liegen einem absichtslosen Handeln Unachtsamkeit oder Gleichgültigkeit zugrunde und wirken auf diesem Weg dann doch als negatives Karma. Solange wir denken und handeln, ist Karma – heilsam oder unheilsam – unvermeidbar. Taten sollen möglichst wenig neues Leid erzeugen, daher sollte man so gut und mit so positiver Absicht wie möglich handeln.
Folgt man der buddhistischen Lehre, ist das Ziel des menschlichen Lebens, letztendlich in den Zustand von Bodhi, des Erwachtseins, zu gelangen. In diesem Zustand sammelt man kein Karma mehr an und unterbricht damit Samsara, den ewigen Kreislauf aus Leben, Tod und Wiedergeburt. Man erreicht Nirvana.2 Das gelingt freilich nur sehr wenigen, unsere primäre Aufgabe ist es daher, gemäß dem Achtfachen Pfad zu leben und so die Ausgangsposition im folgenden Leben zu verbessern.
Betrachtet man die Geschichte von der zerbrochenen Angel unter karmischen Gesichtspunkten, ergibt sich folgendes Bild: An erster Stelle steht der schenkende Großvater. Wir können davon ausgehen, dass er selbstlos und in bester Absicht handelt: Er will seinem Enkel eine Freude machen. Heilsames Karma also. Andererseits hat dieses Geschenk auch eine zweite Seite. Es verleitet den Jungen dazu, Fische zu fangen und zu töten und so seinerseits unheilsames Karma anzuhäufen. Dies geschieht hier aber nicht...