Nun also Philipp von Mazedonien. Was wir bisher gehört, war wie die wüste Rauf- und Prügelszene in Wagners »Meistersingern«; man sehnt sich, endlich eine Solostimme zu hören.
Es war für die Stadt Theben, es war für Hellas das Verhängnis, daß Philipp, dies begabte Raubtier, als Knabe für drei Jahre nach Theben kam, das eben damals sich Großmacht dünkte. Der Bengel war frühreif, wach und schlau, dazu herzgewinnend und mutmaßlich auch bei Gelde. Dem Epaminondas und Pelopidas sah er da als gelehriger Schüler genau auf die Finger, lernte das neue Kriegswesen, aber auch die Schwächen der Einzelstaaten gründlich kennen, wie schwerfällig ihre Politik, wie brüchig ihre Bündnisse; dazu die Habgier und Käuflichkeit des Durchschnittsbürgertums.
Als er wider alles Erwarten, 23 Jahre alt, die Regierung Mazedoniens übernahm (im Jahre 359), fand der junge Mensch sein Land durch Wirren unter seinen königlichen Verwandten, mehr noch durch den Einbruch barbarischer Nachbarvölker bis zur Ohnmacht geschwächt und kläglich zerstückelt. Für die Herren in Theben und Athen war Mazedonien damals geradezu eine Niete geworden, mit der man nicht mehr rechnete. Philipp aber überblickte mit kaltem Hirn die Lage, und sein Genie begann sofort zu spielen; er organisierte sofort ein Heer als Mustertruppe nach modernstem Vorbild, warf die Barbaren, Illyrier, Päonier, Thraker in raschen Feldzügen oder auch durch Verhandlung aus dem Land und trieb die etlichen Prinzen, die ihm seine Machtstellung bestritten, ins Exil oder brachte sie ums Leben. So war er Alleinherrscher, das Gebiet Mazedoniens überraschend schnell in seinem früheren Umfang wiederhergestellt, an Bodenfläche annähernd so groß wie unsere Provinz Hannover, doppelt so groß wie Thessalien, viermal so groß wie die Gebiete, die damals noch unter Athens Oberhoheit standen. Im Heere hatte er die berühmte mazedonische Phalanx eingeführt, den Kerntruppen die alles überbietende, fast 16 Ellen lange Stoßlanze, die Sarissa, in die Hand gegeben. Dabei war er gar nicht einmal rechtmäßiger König. Dies wäre vielmehr sein Neffe Amyntas gewesen. Amyntas war noch Knabe; Philipp sein Vormund; aber Amyntas wagte auch später sein Herrscherrecht dem Onkel gegenüber nie geltend zu machen. Erstaunlich, daß Philipp ihn nicht umbrachte.
Denn der Verwandtenmord grassierte seit langem und durch Generationen in dem Königshaus just so wie in den Königshäusern der alten Germanen; man denke an die Merowinger oder an Shakespeares englische Königsdramen. So hatte man auch Archelaos, den Gönner des Euripides, den intelligentesten der früheren Herrscher, durch Mord beseitigt. Vettern und Stiefbrüder waren ihres Lebens nie sicher. Die Vielweiberei der Könige kam dazu; man hielt es damit wie der Held Gideon im Buch der Richter. Daher eben die vielen Stiefbrüder; daher aber auch die ewige Eifersucht, der Rachedurst der Königinnen. Die Frauen treten hier in Mazedonien dramatisch auf die Bühne, an Blut gewöhnt wie die Gotin Brunhilde oder wie Fredegunde bei den Franken. Auch Olympias, Alexanders Mutters, war solcher Gewaltmensch.
Philipp hatte sein Kronland errettet, das Vaterland wiederhergestellt, und nicht nur der junge Amyntas wird darum in dankbarer Verehrung zu ihm aufgeblickt haben, sondern auch die Männer des Landadels, die wieder sicher auf ihren Höfen saßen, zum Teil hochbegabte und willensstarke Recken und Herrenmenschen, hielten fortan unbedingt zu ihm, trotz aller Selbständigkeit, die dieser Adel dem König gegenüber behauptete. Die Majestät konnte sich hinter kein steifes Zeremoniell verschanzen; völlige Redefreiheit herrschte vielmehr in ihrem Verkehr. Jene Herren hießen des Königs Gefährten (ἑταῖροι). Es war Kameradschaft. Freilich dienten die Söhne der Edelherren als Knappen oder Pagen am Hof, wo sie stramm in Zucht gehalten wurden; auf Vergehen stand die Peitsche. Die human erzogenen Griechen berichten uns das mit Schaudern. Ein derbes Leben. Derb oder roh und gänzlich unsentimental. Später rückten die Knaben dann in hohe Stellungen, zum Heermeister oder Statthalter, auf.
Aber auch ganz Griechenland war für den so sympathischen jungen Monarchen, der aus schwierigster Lage sich so rasch hochgehoben, begeistert und voll Bewunderung; und Philipp verneigte sich auf das liebenswürdigste und dankbar für die Anerkennung wie ein guter Schauspieler nach allen Seiten. Es ist nichts praktischer als beliebt zu sein. Er spielte die Sirene, die betört und würgt. In Wirklichkeit war sein Lebensplan schon jetzt in ihm fertig. Eroberung. Er hatte es als Knabe den Thebanern abgelauscht. Er wollte es besser als sie machen; denn er war in viel günstigerer Lage als sie.
Die ganze Balkanhalbinsel wollte er haben, den ganzen Fausthandschuh bis in die Fingerspitzen. Sein Arm war stark, und er konnte damit selbst Persien bedrohen.
Aber gemach. Es galt die kleinen Griechenstaaten einzeln zu schlucken, Bündnisse unter ihnen zu verhindern, freundlich gegen alle zu sein bis auf den einen, dem er gerade zuleibe ging.
Zunächst Stärkung der Hausmacht. Weithin erobernd griff er im Balkangebirge und über den Balkan bis ins heutige Serbien und Albanien aus. Festungen oder Burgen sicherten gleich den neuen Besitz. Die unterjochten Stämme stellten Hilfstruppen, für Gebirgskriege trefflich zu verwenden. Aber auch an den lieben Griechen vergriff er sich schon ohne Besinnen. Sie saßen in ihren festen Mauern an seiner mazedonischen Küste unter dem Athos und Olymp, sowie jenseits des Olymp in Thessalien. Er wußte ihnen beizukommen. Nur nicht mit dem Säbel rasseln! Mit Lüge und Bestechung kämpft sich besser. Er selbst hat über sich geurteilt: nicht seiner siegreichen Schlachten wolle er sich rühmen, denn das Verdienst um sie teile er mit anderen; wohl aber seiner Diplomatie, seiner Kunst der Gesprächsführung, die ihm die größten Erfolge brachte; denn dabei habe ihm keiner geholfen. Was die Lüge im Kampf der Völker vermag, haben wir auch heute erfahren; damals war sie Philipps persönlichste Gabe.
In Thessalien waren Unruhen; freundschaftlich griff er, Ruhe schaffend, als Protektor im Lande ein und behielt dort sogleich einige Plätze besetzt. Welch freundliche Fürsorge! Dann überfiel er die erwähnten griechischen Küstenstädte einzeln. Diese Städte hatten sich dem athenischen Seebund, der sie noch hätte schützen können, eigensinnig entzogen. Denn Athen steckte all sein überschüssiges Geld in seine Kriegsflotte, und diese konnte Schutz gewähren, da sie damals noch ohne alle Nebenbuhler das ganze Inselmeer beherrschte. Plötzlich belagert Philipp Amphipolis; Athen runzelt die Stirn; denn Athen selbst erhob auf den Besitz dieser Stadt Anspruch; Philipp beteuert: »Bei den Göttern, ich nehme sie nur, um sie euch, ihr Teuren, zu überliefern.« Die Athener glaubten das, sandten der Stadt keine Hilfe. Philipp hatte die Beute. Ein Narr gibt heraus, was er hat (i. J. 358).
Und so ging es weiter. Ganz Griechenland erschrak. Unter dem Athos lagen auf der Halbinsel Chalkidike, vom Meer mm spült, 32 Handelsstädte dicht beieinander, Heimstätten alter griechischer Kultur. Philipp beschloß kurzerhand ihre Vernichtung und überrumpelte und zerstörte sie sämtlich. Sie existierten nicht mehr. Die stärkste und stolzeste unter ihnen war die Stadt Olynth, einst von Athen kolonisiert. Philipp verstand sie zuvor zu ködern; er spielte den Großmütigen, wendete ihr neues Gebiet zu (es war das Gebiet einer der Nachbarstädte, die er vor kurzem zerstört hatte), beschenkte die führenden Personen in Olynth mit Geld oder Geldeswert, wie mit Rinderherden, die aus Mazedoniens Weiden herbeigetrieben wurden. Als die Stadt eingeschläfert ist, steht er plötzlich vor ihren Toren, Unterwerfung fordernd. Jetzt rufen die Olynthier nach Athen. Als die athenischen Kriegsschiffe anliefen, war es zu spät. Die Stadt fiel durch schmählichen Verrat und wurde dem Erdboden, auf dem sie stand, gleichgemacht, die Frauen und Kinder auf dem Sklavenmarkt verhandelt (i. J. 348). Würden sich für sie Käufer finden? Gewiß. Sogar reiche Athener kauften sich die jungen Töchter Olynths und prahlten damit, indem sie sie mißbrauchten. Philipp rieb sich indes die Hände und trank einige Schläuche Weins leer vor Vergnügen. Er wußte jetzt, wie's gemacht wird. Die Offiziere, die Kommandanten der belagerten Städte selbst waren von ihm bestochen. Auf ihre Anordnung fuhr sich im Stadttor ein Lastwagen voller Bausteine fest, das Tor war nicht mehr zu schließen, und der Mazedone drang ein; und ähnliches mehr.
Ein Charakterbild Philipps ist schwer zu geben. Diese Mazedonenkönige gleichen in mancher Hinsicht Peter dem Großen, der auch sein Rußland groß machte, indem er sich die Kultur von auswärts holte, von ihr aber nur sehr äußerlich bestrichen wurde. Auch an die Könige von Serbien, die Balkanbewohner, kann man denken, die sich neuerdings ihre Bildung aus Paris holten. Listig und lauernd war Philipp und doch wild impulsiv und der Sklave seiner Instinkte; die Gastlichkeit selbst; er brauchte Leute, muntere Gesellen, und sah ihnen so treuherzig jovial ins Auge. Griechen und wieder Griechen, Gesandte, Mimen, Dichter und sonstige Künstler, Clowns und allerhand Ehrgeizige sonst strömten nach...