Vorwort
Die statistischen Zahlen über den Gesundheitszustand der Menschen in den Industrienationen gleichen inzwischen Katastrophenmeldungen. Sie scheinen eine deutliche Sprache zu sprechen: Die „zivilisierte“ Menschheit hat in Anbetracht des erschreckenden Anstieges an Morbidität wohl den Zenit ihrer evolutionären Karriere überschritten. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die häufig beklagte Zunahme von „Allergien“ und anderen Erkrankungen des atopischen Formenkreises: Auch die Zunahme rheumatischer und chronisch-entzündlicher oder aber auch metabolischer, neoplastischer und degenerativer Krankheitsbilder lässt die Kosten im Gesundheitswesen explodieren und die Regierenden sorgenvoll in die Zukunft blicken.
Angesichts der rapiden Entwicklungen sehen sich Medizin und Pharmazie in hektische Betriebsamkeit gezwungen: Immer neue Wunderwaffen werden aus dem Hut gezaubert. Standen vor wenigen Jahren noch „Inhibitoren“, „Suppressoren“ und „Antagonisten“ hoch im Kurs, sind es nun „Biosimilars“, „Biologics“ oder sonstige ausgeklügelte Wirkstoffprinzipien, die ein schlagkräftiges Arsenal im Kampf gegen die Vielzahl von Krankheitssymptomen bieten sollen.
Es geht um Symptome unterschiedlichster Ausprägung und Gefährlichkeit, die dem zivilisierten Menschen zusetzen und ihn krank machen. Mindestens jedoch hindern sie ihn daran, seine gewohnte, komfortable und in erster Linie von Konsum und Lustgewinn geprägte Lebensweise weiterzuführen. Diese Symptome gilt es zu bekämpfen, zu verhindern, zu unterbinden, denn sind keine Symptome mehr spürbar, ist ja alles in Ordnung und es kann so weitergehen ...
Im Ernst?
Wie kann es sein, dass es nun hierzulande seit kaum mehr als ein, zwei Generationen kaum noch Kinder gibt, die keine „Allergie“ gegen irgendetwas haben? Dass chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED) immer häufiger werden und schwere Erkrankungen bereits bei Kindern keine Seltenheit mehr sind? Oder dass in jeder Schulklasse AD(H)S-Kinder dem Unterricht nur unter Methylphenidat länger als zehn Minuten folgen können? Krankheitsbilder, die vor nicht allzu langer Zeit fast Raritäten waren, scheinen sich, einer Seuche gleich, auszubreiten.
Lange Zeit war alles, was die konventionelle, evidenzbasierte Medizin als Erklärung zu bieten hatte, der entschuldigende Hinweis auf genetische Dispositionen und die somit schicksalsergebene Haltung, dass hier eine „Heilung“ sowieso nicht erwartet werden kann. Denn genetische Dispositionen sind ja bekanntlich angeboren ... Und daher muss eine Therapie an einer „anständigen“ Unterbindung der Symptome ansetzen.
Kann das wirklich der richtige Weg sein? Wieso gab es Beschwerdebilder wie die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) oder Diabetes oder „Allergien“ nicht früher schon in einem vergleichbaren Ausmaß? „Früher“, als es mehr um „Handfestes“ ging, wie um Milzbrand und Cholera, Pocken und Pest. Erkrankungen, die dank der medizinischen Fortschritte heutzutage ihren Schrecken fast verloren haben. Was also hat diese Entwicklung hin zu einer immer bedrohlicheren Morbidität ganz anderer Krankheitsformen denn nun eigentlich losgetreten? Was war denn „früher“ so anders?
Jeder weiß es: Vieles war anders. An sich fast alles …
Immer noch möchten wir gerne an all die gesundheitsförderlichen Dinge glauben, die uns die Lebensumstände und die Lebensweise der heutigen Zeit, die „Zivilisation“, zum Geschenk macht. Wir schwärmen von der guten medizinischen Versorgung, singen das Hohelied der Hygiene oder streifen an endlosen Regalen mit allen erdenklichen Lebensmitteln entlang, die unseren Gaumen schmeicheln möchten. Die dunklen Seiten der „Zuvielisation“ ignorieren wir gerne, sei es im Großen, wenn es um Globalisierung, Ausbeutung, Armut und Artensterben geht, oder im KLeinen, wenn es „nur“ um die Gesundheit des Einzelnen geht. Negative Einflüsse, Schadstoffe aus Nahrung und Umwelt, unser Lifestyle und alle Effekte des Convenience Food – das schöne Leben scheint bedroht, wenn wir uns die Vielzahl von Faktoren bewusst machen, die bereits bekannt sind, und versuchen, diese dann zumindest für uns selber zu meiden.
Diese drastische Änderung unserer Lebensumstände und unserer Lebensweise innerhalb der letzten 50, 60 Jahre scheint den menschlichen Organismus tatsächlich aus der Balance geworfen zu haben. Das Immunsystem mit all seinen hochselektiven Informationssystemen und fein aufeinander abgestimmten Regulationskreisen scheint außer Rand und Band geraten, bisweilen so dermaßen überspannt, dass z.B. autoimmune Reaktionsschienen aktiviert oder im Extremfall harmlose Pflanzenmoleküle einen tödlichen anaphylaktischen Schock auslösen. Solche Ereignisse können wohl kaum mehr als sinnvolles Ergebnis der Evolution gedeutet werden. Jegliche Fähigkeit zur Toleranz, zur Kompensationsfähigkeit scheint verloren, wir haben es mit Systemen zu tun, die sich offenbar in permanentem Alarmzustand befinden.
Aber keine Angst – wir kennen die Prozesse genau: welche Zytokine welche Reaktionen bei welchen Zellen hervorrufen und was letztendlich die Symptomatik dieser Panikreaktionen hervorruft. Alles ist bestens erforscht: Wir können im Idealfall selbst lebensbedrohliche Verläufe noch stoppen und dramatischen allergischen Kettenreaktionen ein Ende setzen.
Und dennoch haben selbst solche beeindruckenden medizinischen Erfolge einen schalen Beigeschmack. Denn von einer „Heilung“ des irrlaufenden, weil überschießend „allergisch“ reagierenden Organismus kann man kaum sprechen. Für die meisten Patienten besteht die Gewissheit eines „nächsten Mals“.
In der konventionellen Medizin scheint das therapeutische Überlegen stets vom Charme einer möglichen, schnellen Symptomfreiheit geblendet. Oder ist es der Anspruch des Patienten, der schnelles und effektives Handeln gebietet? „Geben Sie mir doch einfach nur die richtige Tablette!“
Der Großteil der therapeutischen Bemühungen zielt dahin, stets die Symptome, also die letzten Schritte der entstandenen Körperreaktionen, anzugreifen und den Patienten gerade eben zur Symptomfreiheit zur verhelfen. Damit ist dieser aber eben nicht gesund!
Im Grund genommen sind wir Ärzte und Therapeuten uns doch im Klaren darüber, dass die lange Kette der vorangehenden Reaktionen und Ausgleichsversuche, die im Organismus letztendlich dann zur Ausprägung der Symptomatik führten, weiterhin abläuft. Lediglich das Symptom wird abgeschnitten, das nur selten als ein Zeichen der Gegenregulation verstanden wird. Und hiermit wird wieder einmal deutlich, dass wir uns mit den bisher üblichen therapeutischen Ansätzen nur um die berühmte sichtbare Spitze des Eisberges kümmern.
Die Kernfrage bleibt: Was irritiert, belastet den menschlichen Organismus so dermaßen, dass sich all diese Kettenreaktionen bilden können und sich das System gleichsam im Versuch der Kompensation der Kompensation zu verheddern scheint? Der Toleranzverlust als häufigster Immundefekt – wo kommt er her? Und was also ist zu tun?
So schwierig diese Frage scheint, so einfach und vollkommen einleuchtend lautet die Antwort: Es geht ganz ursächlich um die Integrität unseres Seins, um eine erfolgreiche Abgrenzung von unserer potenziell tödlichen Umgebung. Erfolgreiche Abgrenzung oder Integritätsverlust – davon hängt das Überleben unseres Organismus ab. Die Aktivierung von Immunreaktionen und Heilungsversuchen hat nur ein Ziel: unsere Integrität und damit die volle Funktionsfähigkeit wieder herzustellen.
Hinter diesem Prinzip verbirgt sich ein hochkomplexes System, das, obwohl schon lange bekannt, erst in jüngster Zeit zunehmend wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt.
Nur wenige denken bei dem Ausdruck „Grenzfläche“ unseres Körpers an etwas anderes als an die äußere Haut. Viel größer und wichtiger ist jedoch die innere Grenze zur Umwelt, das Schleimhautorgan, mit seiner ungleich größeren Oberfläche. Dabei steht insbesondere der Darm als die Wiege und Schule des Immunsystems im Vordergrund. Das Schleimhautorgan beherbergt darüber hinaus den lebensnotwendigen, bisher nur unzureichend beachteten zweiten Teil des menschlichen Organismus: die in enger Symbiose mit dem Menschen lebende menschliche Mikrobiota.
Wichtigste Bedingung für das erfolgreiche Zusammenleben mit dieser unvorstellbar großen Menge an unterschiedlichsten Mikroorganismen ist eine funktionstüchtige Abgrenzung zum menschlichen Körper. Rein anatomisch ist dieses die epitheliale Grenzfläche, die im weitaus größten Teil unseres Schleimhautorgans aus einer einzelligen, mancherorts gerade mal 5μm messenden Epithelschicht besteht. Sie stellt jedoch weit mehr als eine komplexe, selektive Barriere dar. Sie fungiert vielmehr als zentrale „Schnittstelle“ in einem hochdifferenzierten Informationssystem! Wir haben es hier, modern ausgedrückt, mit dem „Interface“ zwischen den zwei Systembereichen des Organismus zu tun, die sich gegenseitig bedingen. Die epitheliale Zellschicht ist damit für intensivsten, bidirektionalen Informationsaustausch zwischen sämtlichen Regulationssystemen des Organismus auf der einen Seite und dem Mikrokosmos „mikrobielles Milieu“ auf der anderen Seite verantwortlich! Dieses komplex regulierte Informationssystem scheint, ausgehend von diesem Grenzraum, über Gesundheit und Krankheit des gesamten Organismus zu entscheiden.
Auch wenn diese komplexen Zusammenhänge zu großen Teilen bereits von den Urvätern der Mikroökologie Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts vermutet wurden und empirisch wie auch...