Der Abschied
Meine Lippen sprachen die Worte »Ich liebe dich« aus, obwohl ich eigentlich »Es tut mir leid« sagen wollte.
Ich gab belanglose Sätze von mir, versuchte mich zu rechtfertigen: »Mach dir keine Sorgen«, »Ich werde schon aufpassen« … Dabei wusste ich, dass es für sie keinen vernünftigen Grund gab, warum ich mich in ein Abenteuer stürzen wollte, das mich – auf dem höchsten Gipfel der Erde – das Leben kosten konnte. Doch in diesem Moment verspürte ich das unwiderstehliche Verlangen, Berge zu besteigen, um zu leben, auch wenn ich damit mein Leben riskierte. Ich kann nichts dagegen tun – dieser Drang hat einen mächtigeren Einfluss auf meine Entscheidungen als alle Vernunft oder Liebe.
Mit dem schlechten Gefühl, ein selbstverliebter Egoist zu sein – denn das bin ich wahrscheinlich –, brachte ich nur ein gemurmeltes »Leb wohl« heraus. Gleich darauf nahm ich den Rucksack aus dem Kofferraum und schlug die Klappe viel zu kräftig zu. Erschrocken über das laute Geräusch klopfte ich gegen die hintere Scheibe, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie fahren konnte.
Es war Anfang August, doch die Luft war kühl. Es roch nach Meer. Tromsø ist eine von der Fischerei lebende Stadt auf einer von Fjorden und Bergen umgebenen Insel im Norden von Norwegen, nördlich des Polarkreises. Im Sommer geht die Sonne einige Wochen lang nie unter, es ist immer hell, als würde der Tag nie zu Ende gehen. Alte Leute gehen um Mitternacht spazieren, und man sieht Nachbarn, die mitten in der Nacht ihren Balkon aufräumen oder ihr Dach reparieren. Es ist, als würden die Menschen dieser Breiten einen endlosen Tag lang von einem kollektiven Rausch ergriffen. Die Sonne scheint jedoch nur schwach und steht nie hoch am Himmel, sondern beschreibt eine Bahn an seiner Peripherie und färbt ihn in gelblichen oder orangefarbenen Pastellfarben, die bisweilen in ein leuchtendes Rot übergehen.
Die Stadt ist durch zwei lange Brücken über das Meer und einen Tunnel unter dem Wasser mit dem Festland verbunden. Der Flughafen, vor dem ich mich eben von dem Menschen verabschiedet hatte, den ich am meisten liebe, liegt an einem der Enden der Insel. Während Emelie davonfuhr, warf ich ihr einen stillen Kuss nach. Schnell drehte ich mich um und betrat den Terminal. Ich hoffte, meine feuchten Augen wären getrocknet, bevor ich den Check-in-Schalter erreichte. Doch obwohl mir klar war, dass die Reise, die mich bis hinauf auf den Mount Everest führen würde, beschwerlich und voller Gefahren wäre, kam mir nicht einen Moment in den Sinn, meinen Traum aufzugeben.
Ein paar Stunden vorher waren Emelie und ich gemeinsam joggen gegangen. Das endlose Licht nutzend hatten wir uns nach dem Abendessen auf den Weg gemacht, um uns ein bisschen die Beine zu vertreten und den Geist zu lockern, denn wir hatten stressige, angespannte Tage hinter uns, die wir mit der Organisation eines Rennens für mehrere Hundert Teilnehmer verbracht hatten. Ständig mussten wir telefonieren, mit dem Auto hoch- und runterfahren und zahlreiche Hände schütteln, und was gestern Abend nur ein wenig Bewegung hätte sein sollen, um unsere Köpfe frei zu kriegen, hatte sich zu einer komplett mit Laufen verbrachten Nacht entwickelt.
Wir starteten auf einem engen Pfad und ließen den Trubel der Ortschaft hinter uns. In den Bergen suchten wir Erholung von der Stadt. Das sanfte Rauschen des Windes verdrängte die Stimmen und die Musik, die durch die halb offenen Türen der Lokale drangen, und eine kühle, reine Luft durchdrang die Schwüle in den vollen Straßen und ihre zahlreichen Gerüche. Unsere Beine begannen sich zu lockern, und wir verspürten ein angenehmes Gefühl von Leichtigkeit. Wir liefen einen ersten Gipfel hoch und rannten weiter, ohne auch nur eine einzige Sekunde stehen zu bleiben. Etwas später verließen wir den Weg und liefen querfeldein, um weitere Gipfel, die abseits unserer Strecke lagen, in Angriff zu nehmen. Das mit Raureif überzogene Gras, das unsere Schuhe durchnässte, bildete einen herrlichen Kontrast zu dem harten Asphalt, und mit der Zeit schlugen unsere Herzen in einem gleichmäßigeren Rhythmus und passten sich unseren Schritten an.
Wir liefen Seite an Seite, gehüllt in ein Gefühl des Friedens und der Ruhe, das den rastlosen Trubel der vorangegangenen Tage in Vergessenheit geraten ließ. Doch das Glück war nicht vollkommen, denn die Ruhe um uns herum war nichts anderes als die melancholische Stille, die unserem Abschied vorausging und diesen bereits ankündigte. Obwohl wir ab und zu den Mund aufmachten, um das bedrückende Schweigen zu brechen, wollten unsere Stimmbänder uns nicht gehorchen, und kein Laut drang nach draußen.
Später, als wir im Wagen saßen und zum Flughafen fuhren, waren wir unfähig auszudrücken, was wir beide seit einiger Zeit spürten: unsere Sorgen und unseren Kummer. Ohne es auszusprechen, beschlossen wir einen Schweigepakt, der so lange anhalten würde, bis ich von meiner Expedition zurück wäre. Es war ein unbesiegelter Pakt, damit wir später nicht bedauerten, uns bei unserer letzten Umarmung gestritten zu haben.
Die Stadt hinter dem kleinen Fenster wurde immer kleiner, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Ich klebte noch immer mit der Nase am Glas, den Blick starr auf den Schatten des Flugzeugs gerichtet, das Fjorde und schneebedeckte Gipfel überquerte, die sich zwischen den Tälern und Gebirgen verloren und plötzlich wiederauftauchten. Ich kannte viele dieser Wege und Kämme, doch von oben entdeckte ich neue Pfade und sah mich bereits nach meiner Rückkehr dort laufen. Doch jetzt ließ ich sie hinter mir, in der Hoffnung, sie würden mir verzeihen, dass ich auf dem Weg zu einer anderen großen Liebe war.
Ich dachte an alles, was ich Emelie hätte sagen sollen, um die Spannung zu lockern, während wir gemeinsam liefen, und um den Schmerz zu lindern, den sie bestimmt empfinden würde während der Zeit, in der wir voneinander getrennt wären. Vielleicht hätte ein Witz oder eine geistreiche Bemerkung geholfen, um dem Moment die Schwere zu nehmen, aber ich bin niemand, der in jeder Situation spontan das Richtige macht. Im Gebirge bin ich die Ruhe selbst, denn Berge sind, wie Reinhold Messner einmal sagte, weder gerecht noch ungerecht – sie sind nur gefährlich. Und in der Gefahr kann man auf eine gewisse Logik zurückgreifen, wenn es darum geht, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Im Gebirge lösen unvorhergesehene Situationen keine Zweifel in mir aus, doch auf dem heikleren Terrain der persönlichen Beziehungen bin ich oft wie gelähmt und zu keiner Entscheidung fähig, bis es irgendwann zu spät ist. Ich muss einsehen, dass ich nie genau wusste, wie man mit Menschen umgeht, egal ob es sich um gute, böse oder gefährliche Menschen handelt.
Plötzlich verschwand die Erde unter mir; wir waren in eine Wolke geflogen, und die Turbulenzen rissen mich aus meinen Gedanken. Geht man fort, löst dies immer widersprüchliche Empfindungen aus: ein Gefühl der momentanen Freiheit und zugleich die Sehnsucht nach der vertrauten Wärme, die man gerade aufgegeben hat.
Im Frachtraum des Flugzeugs befand sich ein Koffer, dessen Gewicht nur haarscharf die erlaubten 20 Kilo unterschritt. Ich hatte exakt berechnet, wie ich verstauen konnte, was ich für die Reise benötigte, um die Besteigung dieses gewaltigen Gipfels zu wagen. Nichts passte mehr hinein, nicht mal eine Feder.
Die Vorbereitung war nahezu perfekt gelaufen – zumindest hatte ich diesen Eindruck. Den letzten Monat hatte ich in den Alpen verbracht, größtenteils in einer Höhe über 4000 Meter. Die Höhe hatte mir nichts ausgemacht, und ich hatte mich lange mit den Schwierigkeiten befasst, auf die ich stoßen könnte.
Bei der Vorbereitung auf eine Gipfelbesteigung gibt es ein wichtiges Detail, das man nicht berechnen kann, egal wie viele Kilometer man zurückgelegt und welche Gefahren man bestanden hat. Es ist der Moment, in dem du das Gefühl verspürst, über genügend Motivation und die erforderliche Gelassenheit für den Aufstieg zu verfügen. Dieses Gefühl der Sicherheit, wenn man sich auf einem Terrain zu Hause fühlt, auf dem man sich, wäre man vernünftiger, eher unsicher fühlen sollte. Ich spürte, dass ich mich genau in diesem Zustand befand, in dem der schmale Grat der Gefahren, denen ich mich aussetzen würde, jenseits des normalen Bereiches verlief. Einerseits hatte dieser Zustand etwas Tröstliches, andererseits sorgte er dafür, dass ich mich vor mir selbst fürchtete, denn ich wüsste nicht zu sagen, welche Entscheidung ich treffen würde, wenn ich mich zwischen der Freude am Bergsteigen und der Liebe entscheiden müsste, die mir Ruhe und Gelassenheit schenkt und mich davor bewahrt, Grenzen zu überschreiten, bei denen es kein Zurück gibt. Aber ich verscheuchte diesen Gedanken sofort, denn es gibt Dinge, die nicht mit demselben Maß gemessen werden können. Einfacher gesagt: Beides ist nötig, um zu leben. Zumindest empfand ich das in diesem Moment so.
Die Flugbegleiterin hielt mit ihrem...