2. Psychologie und antike Philosophie
Der griechische Begriff „Psyche“(Seele) ist alt, aber den Begriff „Psychologie“ gibt es erst, seit ihn Philipp Melanchton (1497-1560) zusammengefügt hat (Lehre von der Seele). Erst Rodolph Goclenius (1547-1628) hat 1590 ein Buch mit dem Titel „Psychologie“ versehen (Traxel 1964). Die Psychologie als Wissenschaft wird erst viel später mit dem Jahr 1879 verbunden, als Wilhelm Wundt in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie gründete und damit die Psychologie in den Rang einer eigenständigen Wissenschaft hob. Davor war die Beschäftigung mit der menschlichen Seele der christlichen Theologie vorbehalten, so wie auch alle anderen Wissenschaften über die Jahrhunderte hinweg dem kritischen Blick der Institution Kirche standhalten und im Zweifel ihre Erkenntnisse widerrufen mussten.
Erst mit der Emanzipation der Wissenschaften vom Einfluss der Kirche konnte auch das menschliche Verhalten getrennt von Religion und Kirchendogmen untersucht werden. Während die christliche Theologie noch damit beschäftigt war, die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809-1882) heftig zu bekämpfen, wonach - verkürzt ausgedrückt - der Mensch nicht nach der biblischen Schöpfungsgeschichte, sondern nach dem Affen entstanden sei, entwickelten sich bereits verschiedene Versuche, die Seele des Menschen nach weltlichen Gesichtspunkten zu analysieren. Auch dies stieß auf entsprechend großen Widerstand. Immer noch überlassen deshalb die meisten Psychologen den Begriff „Seele“ den Priestern und betonen, dass sie am konkreten menschlichen Verhalten interessiert sind und nicht in spirituelle Angelegenheiten eingreifen wollen. Längst gibt es allerdings eine „Pastoralpsychologie“, welche sich psychologische Methoden zunutze macht.
Im Zusammenhang mit „seelischen“ Erkrankungen hat sich der ursprünglich aus Deutschland stammende Leib-Seele-Begriff „Psychosomatik“ jetzt durch die Weltgesundheitsorganisation WHO als das „Bio-Psycho-Soziale Modell“ etabliert. So versucht man den umgangssprachlichen Gleichsetzungen und Diskussionen wie „Wissenschaft von der Seele“, „Seelendoktor“ oder gar „Seelenklempner“ - beides für Psychotherapie - aus dem Wege zu gehen.
Die Frage, wie man sich Zugang verschaffen kann zur Beobachtung und Erklärung der verschiedenen Phänomene in der uns umgebenden Natur führt stets in die antiken Wissenschaftstheorien zurück, auf die man sich in der so genannten westlichen Welt immer wieder bezieht. Die zwei berühmtesten und wahrscheinlich wichtigsten Vertreter altgriechischer Denkschulen in Athen waren Platon (427 bis 347 v. Chr.) und einer seiner Schüler, Aristoteles (384 – 322 vor Chr.).
Der adelige Platon war seinerseits ein Schüler des Sokrates (469-399 v. Chr.), der wegen „Gottlosigkeit und verderblichen Einflusses auf die Jugend“ durch Vergiften (Schierlingsbecher) hingerichtet wurde. Darüber empört verließ Platon die Stadt, kam aber zurück und gründete 387 eine Akademie, die sich bis 529 n. Chr. erhalten hat. Er interessierte sich besonders für Themen wie Staat und Gesellschaft und versuchte, seine Lehren mit Hilfe damaliger Herrscher konkret umzusetzen, was ihm aber nicht gelang. Er entwickelte eine so genannte „Ideenlehre“, wonach es in der Welt Dinge (Ideen) gibt, die tatsächlich wahrnehmbar, erfahrbar und beobachtbar sind (Physik) und solche, die nicht mit menschlichen Sinnesorganen wahrnehmbar sind (Metaphysik). Seine bevorzugte Methode war die „Dialektik“, wobei zwei Gesprächspartner im Dialog eine Logik und ein Ergebnis zu einem Diskussionsgegenstand entwickelten.
Aristoteles (384 – 322 vor Chr.) studierte 20 Jahre lang bei Platon in Athen, konnte aber nach dessen Tod im Jahre 347 aufgrund seiner Herkunft und Abstammung die Akademie nicht übernehmen. Er verließ Athen und war unter anderem auch Privatlehrer von Alexander dem Großen (343 bis 336 v. Chr.). Im Jahre 335 v. Chr. gründete er dann in Athen eine eigene Akademie und vertrat dort eine Denkweise, die wir vor allem mit „Empirik“ (Erfahrung) verbinden. Seine Philosophie war, dass jede Wahrnehmung und jede Erklärung von Angelegenheiten immer auch tatsächlich nachprüfbar, zählbar und messbar sein müsse. Sein Gedankengut und das seiner Nachfolger hielt sich bis ins Mittelalter, bis es dann schließlich unter den Dogmen der christlichen Kirche unterzugehen drohte – deshalb „finsteres“ Mittelalter. Jedoch keimte es um 1600 wieder auf durch Philosophen wie dem Engländer Francis Bacon (1561-1626, Empirismus: Orientierung an der Wirklichkeit) oder dem Franzosen René Descartes (15961650, Rationalismus: Orientierung an der Vernunft). Diese beiden Strömungen mündeten in der Folge in eine Vielfalt von philosophischen Disputen und Auslegungen. Sehr viel später haben Gelehrte wie der Österreicher, in England geadelte Karl Popper (1902-1994), einen wissenschaftstheoretischen Standard geschaffen, der heute weit verbreitet ist und weiterentwickelt wurde.
Sowohl die Philosophie des Platon wie auch die des Aristoteles blieben Grundlage des europäischen Wissenschaftsverständnisses. Beide sind auch heute noch Bestandteil von grundlegenden geisteswissenschaftlichen Fragestellungen und immer wieder Anlass zum Streit der grundsätzlichen philosophischen Schulen untereinander.
Als methodisches Gegenstück zur heute in den Naturwissenschaften meist angestrebten Empirik ist die Hermeneutik zu sehen. Dies ist ein Erkenntnisverfahren, welches sich eher auf Quellenstudium und dessen Interpretation bezieht als auf experimentell veränderbare und konkret beobachtbare Fragestellungen. Meist geht es dabei um Erkenntnisphilosophie, also etwa um Fragen nach dem Verhältnis von Leib zu Seele oder um die Existenz des Menschen überhaupt, also um Themen, die sich der Empirie weitgehend entziehen und deshalb methodisch anders untersucht werden müssen. Die hermeneutische Herangehensweise findet sich überwiegend in juristischen, theologischen, soziologischen, psychotherapeutischen oder pädagogischen Fragestellungen. Wilhelm Dilthey (1833 - 1911) hat dazu eine Unterscheidung in „verstehend“ (Hermeneutik) und „erklärend“ (Empirik) angeregt.
Viele Philosophen haben sich mit der Analyse der Psyche beschäftigt und bedeutsame Modelle entwickelt. Die „Psychoanalyse“ des österreichischen Arztes Sigmund Freud (1856-1939) wurde zur größten Schule dieser Art, ja sogar zu einer geisteswissenschaftlichen Bewegung, weil sie anhand eines umfassenden Modells viele, wenn nicht gar alle menschlichen Verhaltensweisen zumindest im Groben einzuordnen suchte. Diese Modelle und viele der alten Freud’schen Begrifflichkeiten („Tiefenpsychologie“) sind längst in die deutsche Alltagssprache eingesickert und bereits modernisiert; sie werden aber dadurch ebenfalls der definitorischen Unschärfe ausgesetzt. Karikaturisten haben jedenfalls ihre Freude daran.
aus: Die Drillinge des Sigmund Freud. Hans Biedermann, 1993
Weitere Beispiele für philosophische und soziologische deutsche Denkschulen im 20. Jahrhundert sind Ludwig Binswanger (1881-1966, „Daseinsanalyse“), Edmund Husserl (1859-1938, „Phänomenologie“).
Wenn nun an irgendeiner Hochschule ein Professor oder ein Forschungsteam bedeutsame Theorien, Methoden und möglicherweise auch schon Ergebnisse gefunden hat und durch entsprechende Veröffentlichungen in Zeitschriften, Büchern und vor allem auf Kongressen eine weithin beachtete Lehrmeinung vertreten wird, so sprechen die jeweils anderen von einer Denkschule oder nur von einer „Schule“. Solche „Schulenbildung“ gibt es in jeder Wissenschaft, insbesondere in den hermeneutischen Bereichen der Forschung. Wissenschaft findet ja meist in einem Konkurrenzzustand statt: jeder will der Erste und der Beste sein; und die Qualität von Hochschullehrern wird unter anderem an der Zahl ihrer Veröffentlichungen gemessen.
Weil dann der wissenschaftliche Nachwuchs, also die Assistenten, oft in dieselben Fußstapfen tritt und die vorhandenen Forschungsansätze weiterentwickelt, gibt es eine über Jahre oder sogar Jahrzehnte anhaltende Lehrmeinung. So hat z. B. Werner Traxel in Kiel in den 60-er Jahren eine Lehrmeinung zum Gegenstand und zur Methodik der Psychologie entwickelt und vertreten, die sich bis in die zweite und dritte Generation seiner Schülerschaft behaupten konnte. Ein anderer Kieler Psychologe, Hermann Wegener (1922-2003), erlangte große Anerkennung sowohl im Bereich der Forensischen Psychologie als auch im Bereich Pädagogische Psychologie und schuf damit ebenfalls eine Denkschule.
Diese Schulen der Psychologie sind also bestimmte wissenschaftstheoretische Herangehensweisen und Traditionen. Es geht um die Frage, mit welchen Theorien und Methoden man den vorhandenen Fragestellungen am besten beikommen kann. Berühmte Schulmeinungen wurden allerdings eher von Soziologen, Politologen oder Ärzten begründet, zumal sich in der „Gründerzeit“ dieser Schulen der Berufstand des Psychologen noch gar nicht etabliert hatte. So ist etwa die „Frankfurter Schule“ mit Jürgen...