Die Erde dreht sich bekanntlich einmal im Jahr um die Sonne. Von uns aus gesehen, scheint es aber so zu sein, dass die Sonne eine kreisförmige Bahn um die Erde beschreibt. Der Astrologie wird vielfach vorgeworfen, sie ignoriere diesen grundlegenden Unterschied. In Wirklichkeit ist er für die astrologischen Horoskopdeutungen jedoch nicht von Bedeutung.
Diesen in den Himmel projizierten Kreis nennt man »Ekliptik«. Die Ekliptik wird in zwölf gleich große Abschnitte gegliedert, denen die Namen der zwölf Stern- bzw. Tierkreiszeichen zugeordnet sind. Zwischen dem 22. Juni und dem 22. Juli durchläuft die Sonne gerade den Abschnitt Krebs, weswegen dieses Tierkreiszeichen auch das »Sonnenzeichen« genannt wird.
Beginnen wir jetzt mit der Betrachtung des Sonnen- oder Tierkreiszeichens, dem dieser Band gewidmet ist, um zunächst einmal herauszufinden, was denn nun »typisch Krebs« ist.
Wie wird man ein Krebs?
Kinder des Himmels
Wer Anfang Februar um Mitternacht in den Himmel blickt, kann in südlicher Richtung das Sternbild Krebs erkennen. Es ist recht unscheinbar, und man braucht einige Zeit, um es zu entdecken. Aber wem es gelingt, die richtigen Gestirne mit Linien zu verbinden, sieht eine Art Spinnennetz, in dessen Mitte sich ein Sternhaufen mit bloßem Auge erkennen lässt. Sein Name: »Praesaepe« bzw. »Praesepe« oder – übersetzt – »die Krippe«. Unter dem unendlichen Sternenhimmel mag dem nächtlichen Betrachter jetzt der Gedanke kommen, dass er einen Blick in die Wiege des Kosmos wirft, und er könnte sich fragen, was ihm Wörter wie »Geburt«, »Ursprung«, »Kindheit«, »Heimat« und »Mutter« bedeuten.
Das Himmelszeichen Krebs führt den Menschen in sehr tiefe und verborgene Räume seiner Seele. Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen; man braucht vor allem Zeit und Offenheit. Aber wer sich einlässt, dem offenbart sich sein allerinnerstes Sein.
Kinder ihrer Jahreszeit
Am 21. Juni beginnt für die nördliche Halbkugel der Sommer. An einem klaren Morgen steigt die Sonne fast senkrecht in den azurblauen Himmel und erwärmt rasch die Luft. Die Natur versteckt sich: Üppiges Grün verwächst zu unzugänglichen Büschen und Hecken, gestaltet sich unter Bäumen zu unsichtbaren Höhlen. Der Wald wird zum Dom, der die Stille fängt. An den Blättern vorbei bricht sich das helle Licht der Sonne – wärmt die Schatten der Geborgenheit. Draußen auf den weiten Feldern schwillt das Korn, und auf manchen Bäumen reifen die ersten Früchte. Das Lied der Lerche weckt Sommerträume.
Beim Eintritt in das Krebszeichen erreicht die Sonne ihren höchsten Punkt. Dann kehrt sie um und steht nun jeden Tag ein Stück weniger hoch am Himmel. Aber überall hinterlässt sie ihre Spur: Die ganze Natur ist zur großen Mutter geworden – und zu einem Sinnbild für Reifung, Geborgenheit und Geburt; denn überall in den Leibern der weiblichen Tiere oder in den Nestern und Schlupfwinkeln der Vögel keimt neues Leben.
Kinder der Kultur
In der Nacht vom 21. auf den 22. Juni, auch in den Nächten davor und darauf, werden in vielen Ländern Europas die Sonnwend- oder Johannisfeuer angezündet. Gegen Ende springen die mutigsten Burschen und Mädchen über die noch brennende Glut. Symbolisch soll das Feuer reinigen und stählen; und wer es durchspringt, wird damit zu einem Mann oder einer Frau. In Österreich, zum Beispiel im Kaisergebirge, entzündet man auf hohen Bergzinnen mehrere kleine Feuer, deren Schein weit in die Täler dringt. Mancherorts werden auch Feuerräder geflochten und brennend ins Tal hinuntergelassen.
Zwischen Juni und Juli finden vielerorts Dorf- und Städtegründungsfeste statt, man feiert die Geschichte. Als Beispiel sei die Dinkelsbühler Kinderzeche angeführt. Alljährlich Mitte Juli drehen sich die Uhren bis ins Mittelalter zurück. Damals wurde die Stadt wie durch ein Wunder vor der Zerstörung bewahrt. Andere bekannte Feste sind das »Kaltenbacher Ritterturnier«, die »Landshuter Hochzeit« oder der »Schwedentrunk in Rothenburg«. Der Sinn dieser Veranstaltungen ist eigentlich immer der gleiche: Man geht zurück in der Zeit – zu den Anfängen und Wurzeln der Stadtgeschichte – und feiert aus Dankbarkeit und zur Erinnerung ein Fest.
Auch der Geburtstag eines jeden Menschen, gleich, ob er nun im Februar oder im Oktober stattfindet, ist eigentlich ein ausgesprochenes Krebsritual: Man feiert den Tag, an dem einem das Leben geschenkt wurde.
In den Monaten Juni und Juli beginnen in allen europäischen Ländern die großen Ferien. Der Staat (Steinbock) überlässt der Familie (Krebs) ihre Kinder. Weder Schule noch Arbeit sollen jetzt das Familienglück stören.
Kinder der Tierwelt
Krebse sind Wassertiere, und die meisten von ihnen leben im Meer. Sie haben fast immer zwei Paar Fühler, und der Körper ist von einem dicken Panzer aus Chinin umhüllt. Um wachsen zu können, müssen sie diesen sprengen und abwerfen, also sich häuten. So ist die Entwicklung von der kleinen Krebslarve mit nur einem Auge und wenigen Füßen bis zum erwachsenen Krebs mit vielen Gliedern und den großen Facettenaugen ein kontinuierlicher Vorgang der Verwandlung.
Der Krebs ist ein unglaublich scheues Tier. Nur im Gefühl vollkommener Sicherheit wagt er sich aus dem Wasser. Bei der leisesten Bewegung oder bei einem leichten Schatten huscht er in sein schützendes Versteck zurück. Manche Krebstiere der Meere legen sich neben ihrem eigenen Panzer eine zusätzliche Schutzmaßnahme zu und nisten sich in einer Muschelschale ein.
Krebse haben einen seltsamen Gang. Sie gehen oft seit-, manchmal sogar rückwärts. Manche Astrologen sehen darin eine Verbindung zur Sonne, die, wenn sie das Krebszeichen betritt, wieder »rückwärts«-läuft, das heißt täglich weniger hoch in den Himmel steigt. Aber auch mit dem Mond besteht ein enger Zusammenhang; dieser klettert täglich ungefähr eine dreiviertel Stunde später über den Horizont.
Zurück zum Krebs: Der gefährlichste und gleichzeitig von Feinschmeckern begehrteste Teil eines Krebses ist seine Zange oder Schere, die bei manchen, im tiefen Meer beheimateten Tieren unglaubliche Ausmaße annehmen kann. Der Muskel zum Öffnen und Schließen der Schere ist so stark wie bei einer Muschel. Wenn der Krebs nicht freiwillig loslässt, muss man mit Brachialgewalt die ganze Schere zerbrechen.
Ich fühle, also bin ich
Mit dem vierten Zeichen des Tierkreises oder Zodiaks, dem Krebs, beginnt eine völlig neue symbolische Seinsebene: Jetzt geht es nicht mehr um die Eroberung (Widder), Inbesitznahme (Stier) und die Erforschung (Zwillinge) des äußeren, sondern des inneren Raumes. Der Krebs ist das erste Wasserzeichen im astrologischen Tierkreis. Man kann daher sagen, der Mensch, der sich bisher das Feuer (Widder) zu eigen gemacht, sich dann die Erde (Stier) angeeignet und zuletzt das Element Luft (Zwillinge) erobert hat, steht im Abschnitt Krebs vorm Wasser. Begibt er sich hinein, betritt er diese geheimnisvolle Welt, in der die Seele »wohnt«. Er beginnt eine Reise in sein Inneres, ins Land der Träume, Mythen und Märchen – und damit ins Reich der Flüchtigkeit.
Wasser kann man fühlen, ja, sogar kosten, aber es hat keine eigene Form, sondern fügt sich jedem Behältnis, füllt das Flussbett und ergießt sich schließlich ins weite Meer. Wasser ist in der Astrologie und in allen anderen esoterischen Anschauungen ein Bild für die Seele. Also müssen wir uns die Seele so ähnlich wie Wasser vorstellen: Wir können sie – bildlich – »ertasten«, sie sogar »kosten«, aber sie rinnt davon, schmiegt sich in jede Form und verströmt sich irgendwann im Unbestimmten.
Krebsmenschen sind »Seelentaucher«. So wie der Widder den äußeren Raum erobern will und mit jedem in der Außenwelt errungenen Sieg seine Bestimmung erfüllt, so tauchen Krebse in den Raum der Seele.
Eine berühmte Krebspersönlichkeit war Hermann Hesse. In all seinen Erzählungen und vielen seiner Gedichte ist diese Suche nach der Seele zu spüren. Man denke an das Glasperlenspiel oder Narziss und Goldmund. Hesse zu lesen heißt, in eine andere Wirklichkeit zu tauchen. Sie ist nicht auf einem fremden Planeten, nicht einmal in einem anderen Land. Sie beginnt unmittelbar im eigenen Selbst.
Ein weiterer Krebs war Marcel Proust. Nach dem Tod seiner Mutter zog er sich wegen seines schweren Asthmaleidens fast völlig aus der Gesellschaft zurück. Er verbrachte den Rest seines Lebens in einem schalldichten, mit Korkplatten isolierten Raum am Pariser Boulevard Haussmann. Dort widmete sich Proust über fünfzehn Jahre lang dem siebenteiligen Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Sowohl das Thema seines Romans wie auch die Art der Entstehung sind sozusagen »klassisch Krebs«.
Der berühmte Maler und Krebsgeborene Rembrandt van Rijn zeigte im 17. Jahrhundert eine andere Seite von Krebsen: ihre fortwährende Selbstbespiegelung. Seine genialen Bilder lassen auf ein komplexes Verständnis der Seele schließen, aber seine zahlreichen, teilweise phantastischen oder mythologisch überhöhten Selbstporträts zeugen auch von einem lodernden Interesse an sich selbst.
Zu Hause in einer anderen Realität
Der sogenannten Realität stehen Krebse misstrauisch gegenüber. Das kann einfach nicht alles sein! Märchen, Träume, Poesie, ein Gemälde, Musik, Ahnungen, Phantasie – sind dies nicht ebenso Wirklichkeiten? Man denke...