Erster Vortrag
Stuttgart, 21. August 1919
Meine lieben Freunde, wir kommen mit unserer Aufgabe nur zurecht, wenn wir sie nicht bloß betrachten als eine intellektuell-gemütliche, sondern als eine im höchsten Sinne moralisch-geistige; und daher werden Sie es begreiflich finden, daß wir, indem wir heute diese Arbeit beginnen, uns zunächst besinnen auf den Zusammenhang, den wir gerade durch diese unsere Tätigkeit gleich im Anfang herstellen wollen mit den geistigen Welten. Wir müssen uns bewußt sein bei einer solchen Aufgabe, daß wir nicht arbeiten bloß als hier auf dem physischen Plan lebende Menschen; diese Art, sich Aufgaben zu stellen, hat ja gerade in den letzten Jahrhunderten besonders an Ausdehnung gewonnen, hat fast einzig und allein die Menschen erfüllt. Unter dieser Auffassung der Aufgaben ist dasjenige aus Unterricht und Erziehung geworden, was eben gerade verbessert werden soll durch die Aufgabe, die wir uns stellen. Daher wollen wir uns im Beginne dieser unserer vorbereitenden Tätigkeit zunächst darauf besinnen, wie wir im einzelnen die Verbindung mit den geistigen Mächten, in deren Auftrag und deren Mandat jeder einzelne von uns gewissermaßen wird arbeiten müssen, herstellen. Ich bitte Sie daher, diese einleitenden Worte aufzufassen als eine Art Gebet zu denjenigen Mächten, die imaginierend, inspirierend, intuitierend hinter uns stehen sollen, indem wir diese Aufgabe übernehmen.
[Die sich hier anschließenden Worte wurden nicht mitstenographiert. Siehe Hinweise]
Meine lieben Freunde! Es obliegt uns, die Wichtigkeit unserer Aufgabe zu empfinden. Wir werden dies, wenn wir diese Schule als mit einer besonderen Aufgabe ausgerüstet wissen. Und da wollen wir unsere Gedanken wirklich konkretisieren, wir wollen unsere Gedanken wirklich so gestalten, daß wir das Bewußtsein haben können, daß etwas Besonderes mit dieser Schule ausgeführt wird. Wir werden das nur, wenn wir gewissermaßen nicht in das Alltägliche versetzen dasjenige, was mit dieser Schulbegründung getan worden ist, sondern wenn wir es als einen Festesakt der Weltenordnung betrachten. In diesem Sinne möchte ich als erstes geschehen lassen, daß ich hier im Namen des guten Geistes, der führen soll die Menschheit aus der Not und dem Elend heraus, im Namen dieses guten Geistes, der die Menschheit führen soll zu der höheren Stufe der Entwickelung in Unterricht und Erziehung, den allerherzlichsten Dank ausspreche denjenigen guten Geistern gegenüber, die unserem lieben Herrn Molt den guten Gedanken eingegeben haben, in dieser Richtung und an diesem Platze für die Weiterentwickelung der Menschheit dasjenige zu tun, was er mit der Waldorfschule getan hat. Ich weiß, er ist sich bewußt, daß man dasjenige, was man für diese Aufgabe tun kann, heute doch nur mit schwachen Kräften tun kann. Er sieht die Sache so an; aber er wird gerade dadurch, daß wir mit ihm vereint die Größe der Aufgabe und den Moment, in dem sie begonnen wird, als einen feierlichen in die Weltenordnung hineingestellt empfinden, er wird gerade dadurch mit der rechten Kraft innerhalb unserer Mitte wirken können. Von diesem Gesichtspunkte aus, meine lieben Freunde, wollen wir unsere Tätigkeit beginnen. Wir wollen uns selbst alle betrachten als Menschenwesenheiten, welche das Karma an den Platz gestellt hat, von dem aus nicht etwas Gewöhnliches, sondern etwas geschehen soll, was bei den Mittuenden die Empfindung eines feierlichen Weltenaugenblickes in sich schließt. Dasjenige, was ich dann im Anschluß an diese heutige feierliche Eröffnung unserer Vorbereitung zu sagen haben werde, das wird gesagt werden am Ende unseres Kurses, wo sich manches geklärt haben wird, wo wir in einem viel konkreteren Sinne noch vor der Aufgabe stehen werden, die wir uns heute zu stellen beginnen.
Emil Molt: Wenn ich in diesem feierlichen Augenblick das Wort nehmen darf, so geschieht es, um den herzlichsten Dank auszudrücken dafür, daß es mir vergönnt war, diesen Moment hier zu erleben, und daß ich geloben will, was in meiner schwachen Kraft liegt, mitzuwirken an diesem großen Werke, das wir heute beginnen.
Meine lieben Freunde, das erste, womit wir beginnen wollen, müssen Auseinandersetzungen sein über unsere pädagogische Aufgabe, Auseinandersetzungen, zu denen ich heute eine Art von Einleitung zu Ihnen sprechen möchte. Unsere pädagogische Aufgabe wird sich ja unterscheiden müssen von den pädagogischen Aufgaben, die sich die Menschheit bisher gestellt hat. Nicht aus dem Grunde wird sie sich unterscheiden sollen, weil wir in eitlem Hochmut glauben, daß wir gerade von uns aus gewissermaßen eine neue pädagogische Weltenordnung beginnen sollen, sondern weil wir aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft heraus uns klar darüber sind, daß die aufeinanderfolgenden Entwickelungsepochen der Menschheit dieser Menschheit immer andere Aufgaben stellen werden. Eine andere Aufgabe hatte die Menschheit in der ersten, eine andere in der zweiten bis herein in unsere fünfte nachatlantische Entwickelungsepoche. Und es ist nun einmal so, daß dasjenige, was in einer Entwickelungsepoche der Menschheit getan werden soll, dieser Menschheit erst zum Bewußtsein kommt, einige Zeit nachdem diese Entwickelungsepoche begonnen hat.
Die Entwickelungsepoche, in der wir heute stehen, hat in der Mitte des 15. Jahrhunderts begonnen. Heute kommt gewissermaßen aus den geistigen Untergründen heraus erst die Erkenntnis, was gerade in bezug auf die Erziehungsaufgabe innerhalb dieser unserer Epoche getan werden soll. Die Menschen haben bisher, selbst wenn sie mit dem allerbesten Willen pädagogisch gearbeitet haben, noch im Sinne der alten Erziehung gearbeitet, noch im Sinne derjenigen der vierten nachatlantischen Entwickelungsepoche. Vieles wird davon abhängen, daß wir von vornherein uns einzustellen wissen für unsere Aufgabe, daß wir verstehen lernen, daß wir uns für unsere Zeit eine ganz bestimmte Richtung zu geben haben; eine Richtung, die nicht deshalb wichtig ist, weil sie absolut für die ganze Menschheit in ihrer Entwickelung gelten soll, sondern weil sie gelten soll gerade für unsere Zeit. Der Materialismus hat außer dem anderen noch das hervorgebracht, daß die Menschen kein Bewußtsein haben von den besonderen Aufgaben einer besonderen Zeit. Als allererstes aber, bitte, nehmen Sie das in sich auf, daß besondere Zeiten ihre besonderen Aufgaben haben.
Sie werden zur Erziehung und zum Unterricht Kinder zu übernehmen haben, allerdings Kinder schon eines bestimmten Alters, und Sie werden ja dabei bedenken müssen, daß Sie diese Kinder übernehmen, nachdem sie schon in der allerersten Epoche ihres Lebens die Erziehung, vielleicht oftmals die Mißerziehung der Eltern durchgemacht haben. Vollständig erfüllt wird dasjenige, was wir wollen, doch erst werden, wenn wir einmal so weit sind als Menschheit, daß auch die Eltern verstehen werden, daß schon in der ersten Epoche der Erziehung besondere Aufgaben der heutigen Menschheit gestellt sind. Wir werden manches, was verfehlt worden ist in der ersten Lebensepoche, doch noch ausbessern können, wenn wir die Kinder zur Schule bekommen.
Wir müssen uns aber ganz stark durchdringen von dem Bewußtsein, aus dem heraus wir, jeder einzelne, unseren Unterricht und unsere Erziehung auffassen.
Vergessen Sie nicht, indem Sie sich Ihrer Aufgabe widmen, daß die ganze heutige Kultur, bis in die Sphäre des Geistigen hinein, gestellt ist auf den Egoismus der Menschheit. Betrachten Sie unbefangen das geistigste Gebiet, dem sich der Mensch heute hingibt, betrachten Sie das religiöse Gebiet, und fragen Sie sich, ob nicht unsere heutige Kultur gerade auf dem religiösen Gebiet hingeordnet ist auf den Egoismus der Menschen. Typisch ist es gerade für das Predigtwesen in unserer Zeit, daß der Prediger den Menschen angreifen will im Egoismus. Nehmen Sie gleich dasjenige, was den Menschen am tiefsten erfassen soll: die Unsterblichkeitsfrage, und bedenken Sie, daß heute fast alles, selbst im Predigtwesen, darauf hingeordnet ist, den Menschen so zu erfassen, daß sein Egoismus für das Übersinnliche ins Auge gefaßt wird. Durch den Egoismus hat der Mensch den Trieb, nicht wesenlos durch die Pforte des Todes hindurchzugehen, sondern sein Ich zu erhalten. Dies ist ein, wenn auch noch so verfeinerter, Egoismus. An diesen Egoismus appelliert heute in weitestem Umfange auch jedes religiöse Bekenntnis, wenn es sich um die Unsterblichkeitsfrage handelt. Daher spricht vor allen Dingen das religiöse Bekenntnis so zu den Menschen, daß es meistens das eine Ende unseres irdischen Daseins vergißt und nur Rücksicht nimmt auf das andere Ende dieses Daseins, daß der Tod vor allen Dingen ins Auge gefaßt wird, daß die Geburt vergessen wird.
Wenn auch die Dinge nicht so deutlich ausgesprochen werden, so liegen sie doch zugrunde. Wir leben in der Zeit, in der dieser Appell an den menschlichen Egoismus in allen Sphären bekämpft werden muß, wenn die Menschen nicht auf dem absteigenden Wege der Kultur, auf dem sie heute gehen, immer mehr und mehr abwärts gehen sollen. Wir werden uns immer mehr und mehr bewußt werden müssen des anderen Endes der menschlichen Entwickelung innerhalb des Erdendaseins: der Geburt. Wir werden in unser Bewußtsein die Tatsache aufnehmen müssen, daß der Mensch sich entwickelt eine lange Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, daß er innerhalb dieser Entwickelung an einen Punkt gelangt ist, wo er für die geistige Welt gewissermaßen stirbt, wo er unter solchen Bedingungen in der geistigen Welt lebt, daß er dort...