6. Juni und 13. Juni
Niedertalalm, Vent
Schafe im Nebel
Mein Almsommer beginnt mit einer Unmenge von Schafen. Am Vorabend habe ich sie noch gezählt, weil ich nicht einschlafen konnte, jetzt ist es drei Uhr morgens und trotzdem Tagwache. Also nichts wie raus aus dem Bett. Wer beim Schafübertrieb vom Südtiroler Schnalstal auf die Niedertalalm von Vent im Ötztal mitgehen möchte, darf nicht zimperlich sein. Noch dazu an einem Tag wie diesem, an dem der Himmel nicht dem Anlass entsprechend Schäfchenwolken zusammentreibt, sondern dunkle Regenwolken auffahren lässt. Schon am frühen Morgen ist klar: Auf dem Weg über den Pass wird eine Saukälte herrschen, oder sollte man besser von Schafskälte sprechen?
Zumindest regnet es nicht, aber es ist stockdunkel, als ich am Stausee von Vernagt ankomme. Still und einsam liegt er da, kein Mensch weit und breit und kein einziges Schaf. Die Sammelkoppeln, wo die Tiere bis zum Aufbruch schon am Tag zuvor zusammengetrieben werden, befinden sich etwas weiter droben auf einer Anhöhe. Josef Götsch, Obmann der Alpinteressenschaft Niedertal, auf dessen Bergbauernhof im Schnalstal ich übernachtet habe, hat mir alles genau erklärt. Allerdings ist im Dunkeln der Weg kaum erkennbar. Zum Glück ist das Blöken der Schafe von fern her zu hören, sodass ich mich zumindest nach dem Gehör orientieren kann.
1500 Schafe und 176 Ziegen von 26 Südtiroler Bauern sollen an diesem Tag wie jedes Jahr in einem siebenstündigen Marsch bis zur Martin-Busch-Hütte im Ötztal und am nächsten Tag weiter zur Niedertalalm gebracht werden, eine Woche später werden von Kurzras aus nochmals ungefähr so viele über das Hochjoch (2850 m) getrieben. Auf der Niedertalalm sind die Schafe verschiedenen Weiden zugeteilt. Damit sie beim Übertrieb nicht durcheinander geraten, ordnet man sie in vier große Gruppen. Als ich bei den Koppeln ankomme, macht sich gerade das zweite Starterfeld auf den Weg und ich schließe mich ihm an. Die erste Gruppe ist eine halbe Stunde früher gestartet, die dritte wird dreißig Minuten nach uns losmarschieren. Gut geplant, aber die Organisatoren haben offenbar nicht damit gerechnet, dass in der zweiten Gruppe die fittesten Schafe mitlaufen. Der führende Treiber Elmar hat ebenfalls ziemlich viel Schmalz in den Beinen und legt ein dementsprechendes Tempo vor.
Der frühe Aufbruch ist nötig, weil bei fortgeschrittener Tageszeit die Schafe auf dem weichen Schnee der Lawinenkegel, die man überschreiten muss, einbrechen würden. Es braucht also erfahrene Männer, die den Weg auch im Dunkeln kennen. Elmar ist so einer, er führt seine Gruppe sicher und zielstrebig bergwärts, als sei es bereits hell. Weil der Morgen noch jung und unverbraucht ist, wählen er und die anderen Treiber – oder doch die Schafe? – meistens die Direttissima. Für die kleinen Lämmer wird der Marsch eine ziemliche Strapaze werden. Das jüngste ist erst eine zarte Woche alt. Aber vorerst halten auch die Kleinen noch gut mit, bleiben in der Nähe der Mutter und versuchen bei jedem kurzen Zwischenstopp an eine stärkende Milchration zu kommen. Später wird das eine oder andere erschöpfte Jungtier dann von den Hirten getragen, was biblische Assoziationen wachruft.
Nach ungefähr einer halben Stunde Gehzeit wird in der Dämmerung der Weg unter den Füßen sichtbar und die Umgebung schält sich aus dem Dunkel. Weit unter uns liegt im blassen Morgenlicht der Vernagt-Stausee. Man sieht jetzt auch, wer noch mitläuft in der Gruppe, und macht sich untereinander bekannt. Dem weitum bekannten Schafübertrieb schließen sich immer auch Bergwanderer an, die einmal beim großen Ereignis dabei sein wollen. Wenn sie sich einigermaßen geschickt anstellen, können sie durchaus gute Hilfe leisten beim Zusammenhalten der Schafe. In unserer Gruppe befinden sich zwei junge Frauen aus Deutschland. Sie gehören bereits zum Team, denn sie sind schon ein paar Tage mit der Herde unterwegs. Viele Schafe haben bis zur Sammelstelle am Vernagt-Stausee ja bereits einen weiten Anreiseweg hinter sich, denn sie kommen nicht nur aus dem Schnalstal, sondern auch aus dem Eisacktal, Passeiertal, vom Tschögglberg und aus dem Vinschgau.
Schafskälte statt Schäfchenwolken am Tag des großen Übertriebs.
Schafspelz und Anorak gegen die Kälte
Mit einer Schafherde ist es ähnlich wie mit dem Menschenvolk. Alle, die brav mit der Masse mitlaufen, machen keine Probleme, es sind die Verträumten, die Außenseiter oder jene, die nicht so schnell mithalten können, auf welche die Obrigkeit ein Auge hat. Manchmal schert eine eigensinnige Gruppe aus, wird aber von den aufmerksamen Treibern und vom eifrigen Hirtenhund schnell wieder auf den rechten Weg gebracht.
Damit die Übersicht und Erkennung leichter fällt, wurden die Tiere mit großen bunten Klecksen besprüht, es sind also farbenfrohe Herden, die hier ihrem Sommerrefugium zueilen. Zusätzlich besitzt noch jedes Schaf eine Ohrmarke und hat einen Erkennungsstift mit eingeprägter Nummer im Magen. Der Stift wird mit der Nahrung geschluckt und beim Durchleuchten mit einem speziellen Gerät sichtbar. Nach der Schlachtung eines Schafes muss er an den zuständigen Tierarzt abgegeben werden, sonst könnte es sein, dass plötzlich ein Schaffleisch-Konsument eine Kenn-Nummer im Magen hat.
Wir kommen gut voran und alles läuft gut, aber plötzlich ertönen aufgeregte Rufe von den Treibern. Die erste Gruppe ist bereits in Sichtweite, jetzt ist ein geschicktes Überholmanöver gefragt. „Blinker links raus“, meint Elmar, nachdem er sich mit den Treibern der ersten Gruppe abgesprochen hat. In großem Bogen umkreisen wir Gruppe eins, die wir damit auf den zweiten Platz verweisen. Ein bisschen ehrgeiziger Sportsgeist mag dabei sein, aber es geht hier nicht um ein internes Rennen, es geht darum, die Herden gut ans Ziel zu bringen, da ist Trödeln oder höfliches Hintanbleiben nicht gefragt.
Wäre es ein schöner Tag, könnten wir uns jetzt über die ersten Sonnenstrahlen freuen, stattdessen kündigen dicke Regentropfen den Beginn des Schlechtwetters an und dichte Nebelschwaden fallen über uns herein. Regen allein ist nicht so schlimm, wenn nur der gefürchtete Nordwind nicht einsetzt, der vor allem bei Schneefall in den Augen brennt und den Übertrieb besonders schwierig macht, weil dann oft die Schafe der Mut verlässt. Mit Schneefall droben am Ferner ist heute jedenfalls zu rechnen.
Es wird fast mit jedem Höhenmeter kälter. Man spürt es vor allem in den Händen, weil der Körper vom Aufstieg erhitzt ist. Unweit der Ötzi-Fundstelle am Similaun kann man sich jetzt lebhaft vorstellen, dass man hier bis auf die Knochen abfrieren oder in diesem unwirtlichen Gebiet sonst einem Unglück zum Opfer fallen kann. Immerhin leisten unsere Anoraks und Regenponchos gute Dienste. Auch die Vorarbeit dienstbarer Geister kommt uns zugute. Damit es weiter droben im kritischen Bereich keine Komplikationen und unnötige Zeitverzögerungen gibt, haben am Tag zuvor Mitglieder der Alpgemeinschaft zum leichteren Queren der Lawinenkegel in mühsamer Arbeit Wege ausgeschaufelt.
Ein Schlechtwettereinbruch kann in diesen Höhen tödlich sein, der höchste Punkt des Übergangs am Niederjoch bei der Similaunhütte liegt immerhin auf 3019 m. In den vergangenen Jahrzehnten verlief der Übertrieb aber nur einmal tragisch, als die Herden und Treiber in den späten siebziger Jahren in einen Schneesturm gerieten. Damals kamen 70 Schafe um, Menschen wurden zum Glück keine verletzt.
Der schwierigste Streckenabschnitt ist der steile Anstieg zur Similaunhütte, vor allem, wenn er bei Regen und Schneefall schlammig und rutschig wird. Auf Schönwettertage kann man trotzdem nicht warten. Viele der Schafbauern haben keine eigenen Frühweiden, sie geben deshalb die Tiere auf jene Almen, wo früher aufgetrieben wird. Damit sich die Kosten-Nutzen-Rechnung für die Alpinteressenschaft Niedertalalm ausgeht, müssen mindestens 1300 Schafe dort weiden. Außerdem braucht der Schafübertrieb gute organisatorische Vorbereitung, eine Verschiebung um eine Woche kann demnach nur im äußersten Notfall erfolgen.
Im 18. Jahrhundert hat man unter härtesten Bedingungen sogar Ochsen über den Pass getrieben. Wenn sie mit ihrer Masse in den Lawinenkegeln einzubrechen drohten, banden ihnen die Treiber die Vorder- und Hinterbeine zusammen und zogen sie über den Schnee. So entstand eine planierte Bahn, auf der die anderen Tiere folgen konnten. Dagegen ist so ein Schafübertrieb bei einigermaßen guten Bedingungen fast ein Vergnügen. Jedenfalls wenn die Schafe so lammfromm auf den schmalen Steigen zockeln wie eben jetzt, auf dem Anstieg zu den ersten großen Steinmandln, auf halbem Weg zur Similaunhütte.
Stolze Tradition
Die Frage, warum sie die Strapazen auf sich nehmen, stellt sich für viele Schafzüchter nicht. Für die 2176 Hektar große Niedertalalm im Ötztal wurde bereits im Jahr 1415 ein Weiderechtsvertrag zwischen den Bauern von Vent und Schnals abgeschlossen. Obwohl nach dem Ersten Weltkrieg Südtirol und damit auch das Schnalstal zu Italien kamen, blieben die Alprechte erhalten. Man hat sich von den bürokratisch umständlichen Grenzkontrollen nicht...