VORWORT
Man wirft der Psychotherapie vor, daß sie allenfalls einer privilegierten Minderheit, und dies nur sehr bedingt, helfen könne. Dieser Vorwurf ist durchaus berechtigt, solange die Früchte der durchgeführten Therapien wirklich nur Eigentum der wenigen Privilegierten bleiben. Das muß aber nicht so sein.
Die Reaktionen auf mein Buch über Das Drama des begabten Kindes lehrten mich, daß der Widerstand gegen das, was ich zu sagen habe, unter Laien keineswegs größer — in der jungen Generation vielleicht sogar kleiner — ist als unter Fachleuten und daß es deshalb sinnvoll und notwendig ist, das durch Therapien von wenigen gewonnene Wissen nicht in Bibliotheken zu speichern, sondern es der Öffentlichkeit zukommen zu lassen. Diese Einsicht führte mich persönlich zu der Entscheidung, die nächsten Jahre meines Lebens dem Schreiben zu widmen.
Ich möchte hauptsächlich Vorgänge schildern, die sich überall im Leben abspielen, deren tieferes Verständnis aber auf psychotherapeutischer Erfahrung beruht. Das heißt freilich nicht, daß eine fertige Theorie »auf die Gesellschaft angewendet« würde, denn ich glaube, daß ich nur dann einen Menschen wirklich verstehe, wenn ich hören und fühlen kann, was er mir sagt, ohne mich mit Theorien gegen ihn abzusichern bzw. zu verschanzen. Doch die tiefenpsychologische Arbeit mit anderen und mit sich selber verschafft uns Einblicke in die menschliche Seele, die uns überall im Leben begleiten und unsere Sensibilität auch außerhalb des Sprechzimmers schärfen.
Das Bewußtsein der Öffentlichkeit indessen ist noch weit von der Erkenntnis entfernt, daß das, was dem Kind in den ersten Lebensjahren angetan wird, unweigerlich auf die ganze Gesellschaft zurückschlägt, daß Psychosen, Drogensucht, Kriminalität ein verschlüsselter Ausdruck der frühesten Erfahrungen sind. Diese Erkenntnis wird meistens bestritten oder nur intellektuell zugelassen, während die Praxis (die politische, juristische oder psychiatrische) noch stark von mittelalterlichen, an Projektionen des Bösen reichen Vorstellungen beherrscht bleibt, weil der Intellekt die emotionalen Bereiche nicht erreicht. Läßt sich ein emotionales Wissen mit Hilfe eines Buches erreichen? Ich weiß es nicht, aber die Hoffnung, daß durch die Lektüre bei dem einen oder anderen Leser ein innerer Prozeß in Gang kommen könne, scheint mir begründet genug, um es nicht unversucht zu lassen.
Das vorliegende Buch entstand aus meinem Bedürfnis, auf die zahlreichen Leserbriefe zum Drama des begabten Kindes einzugehen, die mir viel bedeutet haben und die ich nicht mehr persönlich beantworten konnte. Daran war auch, aber nicht nur, die zeitliche Überforderung schuld. Ich habe bald gemerkt, daß ich in der Darstellung meiner Gedanken und Erfahrungen der letzten Jahre dem Leser eine größere Ausführlichkeit schulde, weil ich mich nicht auf bestehende Literatur stützen kann. Aus den Fragen der Betroffenen haben sich für mich zwei Problemkomplexe herauskristallisiert: einerseits meine Begriffsbestimmung der frühkindlichen Realität, die vom Triebmodell der Psychoanalyse abweicht, andererseits die Notwendigkeit, den Unterschied zwischen Schuldgefühlen und Trauer noch klarer herauszuarbeiten. Damit hängt nämlich die brennende und oft wiederholte Frage der ernsthaft bemühten Eltern zusammen: Was können wir noch für unsere Kinder tun, wenn wir einmal realisiert haben, wie stark wir dem Wiederholungszwang ausgeliefert sind?
Da ich nicht an die Wirksamkeit von Rezepten und Ratschlägen glaube, zumindest wenn es sich um unbewußtes Verhalten handelt, sehe ich meine Aufgabe nicht in Appellen an die Eltern, ihre Kinder anders zu behandeln, als es ihnen möglich ist, sondern im Herausstellen der Zusammenhänge, in der bildhaften und gefühlsverbundenen Information für das Kind im Erwachsenen. Solange dieses nicht merken darf, was ihm geschah, ist ein Teil seines Gefühlslebens eingefroren und seine Sensibilität für die Demütigungen der Kindheit daher abgestumpft.
Alle Appelle an die Liebe, Solidarität und Barmherzigkeit müssen aber erfolglos bleiben, wenn diese wichtige Voraussetzung des mitmenschlichen Fühlens und Verstehens fehlt.
Diese Tatsache ist bei professionellen Psychologen besonders gravierend, weil sie ohne Empathie ihr Fachwissen nicht hilfreich einsetzen können, unabhängig davon, wieviel Zeit sie den Patienten widmen. Das gilt ebenfalls für die Hilflosigkeit der Eltern, denen weder der hohe Bildungsgrad noch die verfügbare Freizeit helfen, ihr Kind zu verstehen, sofern sie sich vom Leiden ihrer eigenen Kindheit emotional distanzieren müssen. Umgekehrt kann eine berufstätige Mutter unter Umständen die Situation ihres Kindes in wenigen Sekunden begreifen, wenn sie innerlich dafür offen und frei ist.
Ich sehe daher meine Aufgabe darin, die Öffentlichkeit für das frühkindliche Leiden zu sensibilisieren, und versuche dies auf zwei verschiedenen Ebenen, wobei ich auf beiden Ebenen das einstige Kind im erwachsenen Leser ansprechen möchte. Im ersten Teil tue ich das mit der Darstellung der »Schwarzen Pädagogik«, d. h. der Erziehungsmethoden, mit denen unsere Eltern und Großeltern aufgewachsen sind. Bei manchen Lesern wird das erste Kapitel möglicherweise Gefühle von Zorn und Wut auslösen, die sich als sehr heilsam erweisen können. Im zweiten Teil schildere ich die Kindheiten einer Drogensüchtigen, eines politischen Führers und eines Kindesmörders, die selber als Kinder Opfer von schweren Demütigungen und Mißhandlungen waren. Besonders in zwei Fällen stütze ich mich auf deren eigene Schilderungen der Kindheit und des späteren Schicksals und möchte dem Leser helfen, diese erschütternden Zeugnisse aufzunehmen. Alle drei Schicksale bezeugen die verheerende Rolle der Erziehung, ihre Vernichtung des Lebendigen, ihre Gefahr für die Gesellschaft. Auch in der Psychoanalyse, besonders im Triebmodell, lassen sich Spuren der pädagogischen Haltung nachweisen. Die Untersuchung über dieses Thema wurde zunächst als ein Kapitel dieses Buches geplant, mußte aber im Hinblick auf ihren Umfang Gegenstand einer gesonderten Publikation werden, die demnächst erscheinen soll. Dort wird auch die Abgrenzung meiner Gedanken von den einzelnen psychoanalytischen Theorien und Modellen deutlicher werden als in den bisherigen Publikationen.
Das vorliegende Buch ist aus dem inneren Dialog mit den Lesern des Dramas hervorgegangen und als dessen Fortsetzung zu verstehen. Man kann es auch ohne die Kenntnis des Dramas lesen; sollten aber die hier beschriebenen Sachverhalte zu Schuldgefühlen statt zu Trauer führen, dann wäre es ratsam, auch die frühere Arbeit zu kennen. Es wäre auch wichtig und hilfreich, sich bei der Lektüre stets vor Augen zu halten, daß mit Eltern und Kindern nicht bestimmte Personen gemeint sind, sondern bestimmte Zustände, Situationen oder Rechtslagen, die uns alle betreffen, weil alle Eltern einst Kinder gewesen sind und die meisten Kinder von heute einmal Eltern sein werden.
Als Galileo Galilei 1613 mathematische Beweise für die kopernikanische These vorlegte, daß sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, wurde dies von der Kirche als »falsch und absurd« bezeichnet. Galilei wurde gezwungen, seiner These abzuschwören, und erblindete in der Folge. Erst 300 Jahre später entschloß sich die Kirche endlich, ihre Täuschung aufzugeben und Galileis Schriften vom Index zu streichen und freizugeben.
Heute befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie die Kirche zur Zeit Galileis, aber heute steht für uns viel mehr auf dem Spiel. Unsere Entscheidung für die Wahrheit oder für die Täuschung wird viel schwerwiegendere Konsequenzen für das Überleben der Menschheit haben, als dies im 17. Jahrhundert der Fall war. Seit einigen Jahren ist es nämlich bereits erwiesen – was uns immer noch verboten ist, zur Kenntnis zu nehmen -, daß die verheerenden Folgen der Traumatisierung der Kinder unweigerlich auf die Gesellschaft zurückschlagen. Dieses Wissen betrifft jeden einzelnen Menschen und muß – wenn genügend verbreitet – zur grundlegenden Veränderung unserer Gesellschaft, vor allem zur Befreiung von der blinden Eskalation der Gewalt führen. Die folgenden Punkte versuchen anzudeuten, was hier gemeint ist:
- Jedes Kind kommt auf die Welt, um zu wachsen, sich zu entfalten, zu leben, zu lieben und seine Bedürfnisse und Gefühle zu seinem Schutz zu artikulieren.
- Um sich entfalten zu können, braucht das Kind die Achtung und den Schutz der Erwachsenen, die es ernst nehmen, lieben und ihm ehrlich helfen, sich zu orientieren.
- Werden diese lebenswichtigen Bedürfnisse des Kindes frustriert, wird das Kind statt dessen für die Bedürfnisse Erwachsener ausgebeutet, geschlagen, gestraft, mißbraucht, manipuliert, vernachlässigt, betrogen, ohne daß je ein Zeuge eingreift, so wird die Integrität des Kindes nachhaltig verletzt.
- Die normale Reaktion auf die Verletzung wäre Zorn und Schmerz. Da der Zorn aber in einer verletzenden Umgebung dem Kind verboten bleibt und da das Erlebnis der Schmerzen in der Einsamkeit unerträglich wäre, muß es diese Gefühle unterdrücken, die Erinnerung an das Trauma verdrängen und seine Angreifer idealisieren. Es weiß später nicht, was ihm angetan wurde.
- Die nun von ihrem eigentlichen Grund abgespalteten Gefühle von Zorn, Ohnmacht, Verzweiflung, Sehnsucht, Angst und Schmerz verschaffen sich dennoch Ausdruck in zerstörerischen Akten gegen andere (Kriminalität, Völkermord) oder gegen sich selbst (Drogensucht, Alkoholismus, Prostitution, psychische Krankheiten, Suizid).
- Opfer der Racheakte...