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Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace

AutorMatthias Glaubrecht
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783462306798
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Der erste Entdecker der Evolutionstheorie und der verwegenste aller Naturforscher. Ein Wissenschaftskrimi um den größten Naturforscher des 19. Jahrhunderts neben Humboldt und Darwin Er hatte ein enorm spannendes Leben, seine wissenschaftliche Reichweite war atemberaubend, sein soziales Engagement legendär - und er entdeckte das Evolutionsprinzip. Verglichen mit dem bedächtigen Charles Darwin war er ein Indiana Jones der Naturforschung und ein Ernest Hemingway der Naturbeschreibung. Nach ihm sind Mond- und Marskrater, Flugfrösche und ganze geographische Regionen benannt. Warum aber ist so einer heute so wenig bekannt?Auf seiner ersten abenteuerlichen Reise erforschte der Schulabbrecher und Autodidakt vier Jahre lang Brasilien - doch bei der Rückreise fing sein Schiff mitten auf dem Ozean Feuer und sank. Wallace rettete nur sein Leben, seine fantastische naturwissenschaftliche Sammlung ging verloren.Seine zweite Expedition führte ihn durch den malaiischen Archipel, wo er im Alleingang 125.000 naturwissenschaftliche Objekte sammelte, über 1000 Tier- und Pflanzenarten davon noch unbeschrieben - eine unglaubliche Leistung. Während der Reise entwickelte er auch eine Theorie über den Ursprung der Arten, die er brieflich an Charles Darwin sandte. Ein Jahr später erschien dessen Buch »Die Entstehung der Arten«, Darwin wurde weltberühmt und gilt seitdem als alleiniger Vater der Evolutionstheorie.Seit einiger Zeit wird in Fachkreisen heftig gestritten: Was für die einen Zufall oder Zeugnis der Zusammenarbeit zweier bedeutender Forscher ist, wird für andere zur übelsten Fälschungsaffäre der Biologiegeschichte. Matthias Glaubrecht geht zum 100. Todestag Wallaces den Fakten und Gerüchten um den unbekanntesten aller Titanen der Wissenschaftsgeschichte nach - das erste Buch über Wallace in Deutschland, ein Augenöffner für den Leser. Das erste deutsche Buch über Alfred Russel Wallace 100. Todestag am 7.11.2013 «Was er ausgesprochen hat, war wahrscheinlich das Einflussreichste was im 19. Jahrhundert gesagt worden ist.» Gregory Bateson

Der Evolutionsbiologe, Biosystematiker und Wissenschaftshistoriker Matthias Glaubrecht, Jahrgang 1962, ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Leiter des geplanten neuen Hamburger Naturkundemuseums (Evolutioneum) am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Er war Gründungsdirektor des ehemaligen Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg und Leiter der Abteilung Forschung am Museum für Naturkunde Berlin. Glaubrecht ist Autor mehrerer Bücher, darunter eine Biographie Charles Darwins und Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace. Zuletzt erschienen von ihm der Spiegel-Bestseller Das Ende der Evolution - Der Mensch und die Vernichtung der Arten und Die Rache des Pangolin. Wild gewordene Pandemien und der Schutz der Artenvielfalt.

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Leseprobe

Zur Einführung –
Der junge Mann in Eile


Alfred Russel Wallace, britischer Naturaliensammler par excellence und verwegener Naturforscher, war ein Mann, für den sich leicht Superlative finden lassen. Zweifelsohne war er einer der brillantesten, bemerkenswertesten und bedeutendsten, ja einstmals auch einer der berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit. Überdies war er eine schillernde und kontroverse Persönlichkeit, nicht zuletzt dadurch einer der faszinierendsten, weil facettenreichsten Forscher im viktorianischen England.

Wallace durchstreifte die Tropenwälder der Erde – und er hat gemeinsam mit Charles Darwin das Denken der Welt verändert. Immerhin. Nach ihm sind viele Tierarten benannt, darunter Vögel und Flugfrösche; sogar ganze geographische Regionen der Erde und eine markante Faunengrenze tragen seinen Namen, aber auch Krater auf dem Mond und Mars. Zwar ist Wallace neben Darwin einer der wichtigsten Naturforscher des viktorianischen Zeitalters; doch ist er heute kaum noch allgemein bekannt. In Deutschland gab es bislang nicht einmal eine Biographie über ihn.

Dabei bietet sein Leben fraglos Stoff genug. Es hat geradezu romanhafte Züge, ideal auch für eine Verfilmung. Zumal Alfred Russel Wallace um so vieles lebendiger wirkt als sein Landsmann und vierzehn Jahre ältere Zeitgenosse – jener bedächtige, abwägende und abwartende, beinahe ist man versucht zu sagen: vergleichsweise dröge Darwin. Gegen diesen kommt uns Wallace gleichsam vor wie ein Indiana Jones der Naturforschung, ein Ernest Hemingway der naturkundlichen Reisebeschreibung. Ohne dabei nur Draufgänger und Abenteurer gewesen zu sein; vielmehr überaus kundiger Amateur, als der er sich stets sah, und der dennoch Zugang zur wissenschaftlichen Elite Englands gewann. Einerseits also war das Leben dieses »selfmade«-Biologen höchst abwechslungsreich, geradezu abenteuerlich. Andererseits sind seine Person und sein Denken weitaus vielschichtiger und komplexer als bislang bekannt. Zugleich stecken beide, Person und Denken, voller Widersprüche, die bisher – kaum einmal offengelegt – auch nicht aufgelöst wurden.

Wenn wir indes versuchen, Wallace zu verstehen, erfahren wir mehr über die vielfältigen Facetten und Implikationen jener Theorie von der Entstehung und Entwicklung der Arten und des Menschen, wie wir sie beim Blick allein auf Darwin vielleicht nie verstanden haben. Sind tatsächlich auch wir, Homo sapiens, ein Produkt der Evolution durch Selektion, einschließlich unseres Gehirns und unseres Geistes, wie Darwin feststellte? Oder gibt es neben der natürlichen Auslese noch eine Art höhere Instanz, wie Wallace annahm, der wie viele seiner Zeit vom Spiritualismus und Theismus überzeugt war, der also jenseits jeglicher Konfession an das Wirken eines Heiligen Geistes und an die Existenz eines Gottes glaubte?

Wer war Wallace?

Wallace ist einer der ganz Großen, aber auch ein lange Verkannter der Naturforschung. Einst machte er sich nicht nur durch seine vierjährige Feldforschung am Amazonas einen Namen; er reiste weitere acht Jahre kreuz und quer durch die Inselwelt des indo-australischen Archipels zwischen Malaysia und Neuguinea. Dass er diese wohl gewagteste und erfolgreichste Ein-Mann-Expedition bis ans Ende der damals zugänglichen Welt überlebte und dann bei guter Gesundheit mehr als 90 Jahre alt wurde, ist bis heute erstaunlich. Ebenso erstaunlich wie die Tatsache, dass er außer den weit mehr als einhunderttausend naturkundlichen Sammlungsstücken aus den Tropen von dieser Reise auch die zentrale Theorie der Naturforschung mit zurückbrachte. Fernab im indo-australischen Archipel hatte Wallace im Frühjahr des Jahres 1858 – und unabhängig von Charles Darwin – mit seherischer Intuition jenen Mechanismus entdeckt, der die Entstehung von neuen Arten möglich macht. Mit dem Prinzip einer natürlichen Auslese gelang ihm der entscheidende Durchbruch beim Wettlauf um die Entwicklung der Evolutionstheorie. Wenn überhaupt noch, so ist Wallace uns heute als Mitentdecker dieser Theorie in Erinnerung.

Doch Wallace ist auch Begründer einer eigenen Wissenschaftsdisziplin, die derzeit eine Renaissance erlebt: die evolutionäre Biogeographie – das Studium der geographischen Verbreitung von Tieren und Pflanzen. Warum leben bestimmte Arten nur dort, wo sie leben, andere aber anderswo? Bei seiner Reise bis ans Ende des Archipels findet Wallace eine schlüssige Erklärung – und lüftet so ein weiteres großes Geheimnis der Biologie. Wallace war hochangesehener Käfersammler und Schmetterlingsfänger, Weltreisender auf der Suche nach bunten Insekten, Paradiesvögeln und dem Orang-Utan; er war zugleich ein scharfer Beobachter wie auch Theoretiker. Bis heute ist er der Mann, nach dem eine höchst interessante Faunenregion zwischen Asien und Australien (Wallacea) sowie eine markante biogeographische Trennlinie (Wallace-Linie) benannt sind.

Als junger Mann war Wallace zuerst Landvermesser und Lehrer, in späteren Jahren bekennender Spiritualist und radikaler Sozialist, der sich für Landreformen und Menschenrechte einsetzte; aber auch jemand, der noch im hohen Alter über die Möglichkeit von Menschen auf dem Mars und unsere Stellung im Universum nachdachte. Er war naturkundlicher Autodidakt und wurde zum erfolgreichen Autor, dessen Bücher man liest, weil sich darin wissenschaftliche und populäre Darstellung in idealer Weise vereinigen. Er, der Amateur ohne akademischen Abschluss, erhielt die wichtigsten Auszeichnungen seiner Profession und seiner Zeit, die den Nobelpreis noch nicht kannte – als Erster die Darwin Medal sowie die Copley und Royal Medal der britischen Royal Society, die Darwin-Wallace und Gold Medal der Londoner Linnean Society, dann auch die höchste Auszeichnung Order of Merit, die die britische Monarchie zu vergeben hat. Nicht zuletzt war er der Letzte, will heißen: Jüngste, in einer Reihe bedeutender Naturalisten und Evolutionisten.

Der vermeintliche Wettlauf mit Darwin

Alfred Russel Wallace war auch, wie er selbst sagte, »der junge Mann in Eile«. Ausgedacht in zwei Stunden und ausgearbeitet an nur drei Abenden in einer palmwedelgedeckten einfachen Pfahlhütte auf einer abgelegenen Insel am Ende des Archipels, hat er ein zweites Mal jenes universelle Prinzip gefunden, mittels dessen in der Natur neue Arten entstehen. Wallace’ Beiträge zur Evolutionstheorie und zu Vorkommen und Verbreitung von Lebewesen waren dabei ebenso wichtig wie die Darwins. Doch wurde er anders als dieser bald nach seinem Tod vergessen – und mit ihm seine Rolle als Mitentdecker der natürlichen Selektion. Darwin, der Zauderer und Zögerer, erntete den Ruhm allein. Spätere Generationen sollten dann stets annehmen, Darwin habe als Erster und Einziger die Theorie von der Veränderlichkeit der Organismen durch Anpassung und Auslese entwickelt und 1859 in seinem Buch über »Die Entstehung der Arten« veröffentlicht. Wallace wurde zur Fußnote der Wissenschaftsgeschichte.

Kein Zweifel: Von Evolution kann man nicht reden, ohne Charles Darwin zu erwähnen. Doch die Theorie von der Veränderlichkeit der Arten durch natürliche Selektion hat zwei Väter und ist zweimal unabhängig voneinander entdeckt worden. Kein Zweifel aber auch, dass dem, was Alfred Russel Wallace beitrug, heute kaum noch Beachtung geschenkt wird. Viele seiner Arbeiten sind unbekannt, die wenigsten etwa ins Deutsche übersetzt. Lange hat die Wissenschaftsgeschichte das Wirken Wallace’ vernachlässigt; allenfalls ist die auffällige Koinzidenz mit Darwin bei der Entdeckung der Evolutionstheorie in ihren Annalen vermerkt.

Wallace aber ist weitaus mehr als nur der Mann im Schatten Darwins oder gar der ewige Zweite, der nie in gleicher Weise wie dieser für seine Entdeckung anerkannt wurde. Und das keineswegs nur, weil er es war, der in einem kurzen, klarsichtigen Aufsatz jene Theorie von der Veränderlichkeit der Arten durch natürliche Auslese entwarf und als Erster eine bündige und zum Druck bestimmte Abhandlung darüber verfasste. Diese wurde dann unmittelbar danach auch veröffentlicht, gemeinsam mit kurzen Auszügen aus Schriften von Darwin. Während dieser seinen eigenen Beitrag damals als kaum veröffentlichungsreif ansah, äußerte er sich lobend über Wallace’ ebenso einsichtsreichen wie wohlformulierten Aufsatz.

Erst später als »Darwinismus« bekannt geworden, hat die noch zu seinen Lebzeiten als Darwin-Wallace-Theorie bezeichnete Idee von der Evolution durch Selektion für eine Epochenwende gesorgt – und für die Grundlage der modernen Biologie. Die öffentliche Präsentation der Darwin-Wallace-Papiere im Sommer 1858 stellt mithin nicht nur eine zentrale Episode der Biologiegeschichte dar; sie leitete auch eine der größten wissenschaftlichen Revolutionen ein, die bis heute in den Biowissenschaften nachwirkt. Tatsächlich kam es zu einer kopernikanischen Umwälzung unseres Weltbildes.

Rätsel um die Entdeckung der Evolution

Die Episode der vermeintlich gemeinsamen Vorstellung am 1. Juli 1858 vor der Linnean Society in London, bei der jedoch weder Darwin noch Wallace tatsächlich anwesend waren, ist inzwischen vielfach erzählt worden, zumal wir 2009 ein großes und doppeltes Darwin-Jubiläum gefeiert haben. Mittlerweile ist auch klar, dass das Zustandekommen dieser Präsentation keineswegs jener selbstlose Akt zweier Gentlemen war, weder Zufall noch Zeugnis vom Großmut zweier bedeutender Forscher, als den er beinahe ein Jahrhundert lang dargestellt wurde.

Aus Kollegialität und Kompromiss...

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