1.1 Ambivalenz als Signatur der Postmoderne
Der polnisch-englische Soziologe Zygmunt Bauman hat seinem 1991 in England erschienenen Buch »Moderne und Ambivalenz« den plakativen Untertitel gegeben: »Das Ende der Eindeutigkeit«.2 Die »Ordnung der Welt«, so Bauman, ist in der Postmoderne zum Problem geworden, nichts ist mehr selbstverständlich und unhinterfragt gegeben, alles könnte auch ganz anders sein.
Das Ende der Eindeutigkeit, so die Gesellschaftsdiagnose von Bauman, ist nicht plötzlich, gleichsam über Nacht, über uns gekommen, sondern hat sich in einem langen und langsamen Prozess der zunehmenden Säkularisierung und Individualisierung herausgebildet (► Kap. 3.1). Die Geschichte Westeuropas stellt eine Geschichte von Individualisierungsschüben dar, in denen ein subjektiv erwachendes Bewusstsein von Individualität einhergeht mit sozialen Prozessen der Individualisierung und Säkularisierung.3 Das individuelle Subjekt wird sich seit dem ausgehenden Mittelalter seiner selbst zunehmend bewusst, es gehorcht nicht mehr selbstverständlich den Lehren der Kirche, es probt den »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant), es ist Teil einer »Bewegung vom Schicksal zur Wahl«.4 Das individuelle Subjekt fühlt sich zunehmend frei und autonom zu denken, was es will, zu glauben, was ihm einleuchtet, und über seine Angelegenheiten und seinen Lebenslauf, soweit es der gesellschaftliche Rahmen mit seinen Gesetzen und Vorgaben zulässt, selbst zu bestimmen. Und da, wo das Denken »frei« wird, ist es in der Lage zu realisieren, dass alle Lebensphänomene von mehreren Seiten gleichzeitig gesehen und gedeutet werden können. Es gibt nicht mehr die eine, noch dazu von irgendwelchen Autoritäten vorgegebene, Sichtweise, sondern eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich selbst und die Welt im Ganzen zu sehen und zu verstehen.
Das meint Bauman mit dem Begriff der Ambivalenz: »die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen«.5 Dieser Sachverhalt wird von manchen Zeitgenossen als bedrohlich und mit Unbehagen wahrgenommen; für Bauman stellt jedoch das Ende der Eindeutigkeit im Sinn einer Zeit- oder Gesellschaftsdiagnose keinen Verlust, sondern geradezu eine befreiende Errungenschaft, sogar eine Notwendigkeit dar. Denn Eindeutigkeit, so Bauman, neigt dazu, autoritär, ja totalitär zu werden. Die Geschichte des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt das für ihn in erschreckender Weise.
Bauman unterscheidet in seinem Buch nicht klar die Kategorien Ambiguität und Ambivalenz. In dem obigen Zitat ist im Grunde von Ambiguität, von Mehr- und Vieldeutigkeit, die Rede, auf die Ambivalenz eine gefühlsmäßige, denkerische oder willensbezogene Reaktion darstellt.6 An anderen Stellen verwendet er beide Begriffe austauschbar.
Die Moderne, so Bauman in Weiterführung einiger Thesen von Adorno und Horckheimer, wollte das Chaos der Welt ordnen, klassifizieren und unter Kontrolle bringen. In der »modernen Praxis« sollte alles genau bestimmt und definiert werden, für Ambivalenz war da kein Platz. Der Versuch, Ambivalenz zu eliminieren ging notwendig einher mit Intoleranz für alles Abweichende.7 Ein exemplarischer Blick in Politik und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und den USA zeigt, wie verbreitet die Metapher vom Staat als »Gärtner« in der politischen Philosophie jener Zeit war: Sozialtechnologisch wird eine bestimmte Ordnung definiert, die dem vermeintlich Zügellosen der Natur (auch der Natur des Menschen!) Grenzen setzen soll; alles, was von der definierten Ordnung abweicht oder in Widerspruch dazu steht, soll – darin wird die Aufgabe staatlicher Institutionen gesehen – gestutzt, zurückgeschnitten, ausgerottet werden. Der Genozid des Holocaust erscheint nach Bauman als extreme, aber logische Folge dessen, was lange vorher schon gedacht und wissenschaftlich begründet worden war. Dieses genozidale Potential der Moderne kann nach Bauman nur durch einen Pluralismus der Macht und der Meinungen, sowie durch die damit unvermeidlich einhergehende Ambiguität und Ambivalenz eingeschränkt und in Schach gehalten werden.8
Eben das geschieht für Bauman in der Entwicklung hin zu einer Postmoderne: Sie ist daran zu erkennen, dass sie sich von dem Ordnungs- und Klassifikationswahn der Moderne verabschiedet und die »unauslöschliche Pluralität der Welt«, ihre Ambiguität, akzeptiert.9 »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war der Schlachtruf der Moderne, Freiheit, Verschiedenheit, Toleranz ist die Waffenstillstandsformel der Postmoderne.«10 Ähnlich schreibt Wolfgang Welsch: »Die letzten Jahre der Diskussion um Moderne und Postmoderne haben gezeigt, dass keine Wirklichkeitsbeschreibung tragfähig ist, die nicht zugleich die Plausibilität der Gegenthese verfolgt.«11 Damit entsteht eine Welt der universalen Ambivalenz, der gleichzeitigen Gültigkeit verschiedener Erkenntnisse, Normen und Lebensformen. Weil auf diese Weise totalitäre und autoritäre Neigungen aufgelöst werden, sollte man die Ambivalenz der Pluralität loben. Es gibt nicht mehr nur eine einzige, für alle gültige Wahrheit, sondern mehrere Wahrheiten, konkurrierende Wahrheitsansprüche – und man muss sich auch nicht mehr entscheiden, welche man als die einzig richtige wählt, sondern man kann mehrere gleichzeitig oder kurz nacheinander wichtig und wegweisend finden. Etwas pathetisch resümiert Bauman: »Ambivalenz ist nicht zu beklagen. Sie muss gefeiert werden. Ambivalenz stellt die Grenze der Macht der Mächtigen dar. Aus demselben Grunde ist sie die Freiheit der Machtlosen.«12
Allerdings übersieht Bauman, dass es auch in der Postmoderne deutliche Tendenzen zu einer Disambiguisierung (Aufhebung von Ambiguitäten) gibt: Bürokratisierung und Technisierung, vor allem die Digitalisierung unserer Welt repräsentieren starke Tendenzen, die Ambiguität als Defizit verstehen und nach Möglichkeit ausmerzen und wieder Eindeutigkeit herstellen möchte.13
Auch in der Alltagswahrnehmung werden Ambiguität und Ambivalenz von vielen Zeitgenossen als anstrengend, verunsichernd und bedrohlich erlebt. Ambivalenzen stellen eingespielte Selbstverständlichkeiten und fraglos gewordene Gewissheiten in Frage, sie weisen auf Brüche und Risse in unseren Alltagsvorstellungen von Leben und Welt hin.14 Insofern ist es nicht verwunderlich, dass überall die Neigung zu beobachten ist, Ambivalenz doch wieder durch Eindeutigkeit zu ersetzen: In allen konservativen sozialen Strömungen und Fundamentalismen ist diese Tendenz zu besichtigen (► s. u. 1.2), besonders in Politik und Kultur, ganz zu schweigen von der verbreiteten Schwarz-weiß-Rhetorik der Alltagskommunikation. Auch die Wissenschaften erfüllt z. T. beabsichtigt, z. T. unbeabsichtigt die Funktion, Ambivalenz durch Expertenmeinung zu reduzieren und vermeintliche objektive Sicherheit zu garantieren.
Religion und Kirchen haben im Lauf ihrer wechselvollen Geschichte zu den Institutionen gehört, die in besonderem Maß Ambiguität und Ambivalenz eingrenzen, bekämpfen und ausrotten wollten. Die Lehrsätze der Religion, ihre Rituale und ihre Moralkodices galten (und gelten vielfach immer noch) als die feststehenden Säulen im Treibsand der Relativität und Beliebigkeit. In solchen Zeiten wurde Glaube vorrangig als Gehorsam gegenüber Gott, gegenüber den Lehren der Kirche und ihren Repräsentanten definiert. Allerdings wurden Gehorsam gegenüber Gott und Unterordnung unter die Vertreter der Kirchen häufig nicht klar unterschieden, so dass die notwendige Spannung von Gehorsam und Freiheit einseitig zuungunsten der Freiheit ausfiel und der Kirche immer wieder eine anti-modernistische Ausrichtung verlieh.
In der Postmoderne hat sich die Einstellung der Menschen gegenüber den Religionen tiefgreifend gewandelt; sie sind nicht mehr bereit, sich vorschreiben zu lassen, was sie glauben und denken sollen, wie sie zu leben und zu handeln haben. Außenorientierung ist durch Innenorientierung ersetzt; und Innenorientierung bedeutet, so der Soziologe Gerhard Schulze, »Erlebnisrationalität«.15 »›Erlebe dein Leben‹ ist der kategorische Imperativ unserer Zeit.« Die Grundlagen des Alltagslebens in den westlichen Industriestaaten gelten als weithin gesichert, jetzt kann man sich darauf konzentrieren, Spaß am und im Leben zu haben und das Projekt eines schönen Lebens zu verfolgen. Erlebnisansprüche werden zum Maßstab und geben dem Leben Sinn.16
Die Freiheit der Wahl nach Kriterien der Erlebnisrationalität erstreckt sich längst auch auf das Gebiet des Glaubens, der Religion, der Sinnsuche, der Lebensorientierung – ohne dass sich allerdings die Begrifflichkeit gewandelt hätte. Glaube wird nach wie vor mit dem Vorgegebenen, Feststehenden, Eindeutigen und Unveränderlichen, mit Gewissheit und innerer Sicherheit in Zusammenhang gebracht und damit als Gegenentwurf zur Freiheit der Wahl, zu Vieldeutigkeit und Ambivalenz verstanden. Wie passt das zusammen? Muss man nicht Ambivalenz positiv denken, wenn sie eine...