Annäherung
Wer ein Buch über Amsterdam schreibt, muss sich Fragen gefallen lassen. Als da wären:
•Warum noch ein Buch über Amsterdam?
•Was ist das Besondere an diesem Buch?
•Und: Was hast du mitgebracht?
Fragen wie diese sind nur allzu berechtigt. Und ich denke, es ist am besten, wenn ich sie in ihrer Reihenfolge beantworte.
Egal, ob in Buchhandlungen, an Bahnhöfen oder Flughäfen, es lässt sich schwerlich übersehen, dass es schon einige Bücher über Amsterdam gibt. Und wenn man kein Zyniker ist, kann man davon ausgehen, dass die meisten geschrieben wurden, weil den Autoren das Thema am Herzen lag und sie der Meinung waren, sie hätten etwas dazu zu sagen. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass es viele Bücher zum Thema Amsterdam gibt, die brauchbare Informationen enthalten. Es wird die eine oder andere Publikation geben, die aus Trittbrettfahrerei oder Wichtigtuerei verfasst wurde, aber viele sind völlig okay.
Insofern ist die erste Frage berechtigt. Man könnte sie sogar noch weiter zuspitzen. Braucht man überhaupt ein Buch über Amsterdam? Findet man heutzutage nicht alle Informationen im Internet? Lässt sich Amsterdam nicht einfach durch seine statistischen Kerndaten beschreiben?
Versuchen wir’s:
Amsterdam hat 834.713 Einwohner. In der Stadt leben mehr als 180 Nationalitäten. Es gibt 881.000 Fahrräder. 220.000 Bäume. Neun Fähren, 165 Grachten. 1.281 Brücken. 2.500 Wohnboote. 302 Denkmäler. Acht Windmühlen. 18 Kinos. 8.863 Baudenkmäler und 38 Märkte.
Ich könnte noch stundenlang so weitermachen. Und genauso wie es Männer gibt, die glauben, alles über eine Frau zu wissen, wenn sie 90-60-90 hören, gibt es vielleicht sogar Leute, denen dieser Zahlensalat reicht. Und Zahlenmystiker werden bemerken, dass in den Statistiken über Amsterdam erstaunlich oft die Zahl Acht vorkommt und daraus ihre wie auch immer gearteten Schlüsse ziehen.
Daten sind einfach nur Daten, Rohmaterial. Nichts wert ohne Einordnung und Wertung und das ist der Job der Bücher zum Thema. Sie alle helfen, sich ein Bild zu machen.
Aber was für ein Bild?
Geschichtlich gesehen kann man Amsterdam in groben Zügen so beschreiben. Die Stadt erhielt 1306 das Stadtrecht. Am Anfang war sie nicht viel mehr als ein Damm über den Fluss Amstel (daher der Name) und eine Zollschranke für Hamburger Bier. Der Aufstieg begann im 16. Jahrhundert, als die Spanier den Hafen von Antwerpen schlossen und die Diamantschleifer vertrieben. Die Vertreibung geschah aus religiösen Gründen, worum man sich in Amsterdam einen feuchten Kehricht scherte, was die Stadt zur Boomtown machte und ihr im 17. Jahrhundert einen einzigarten Aufschwung bescherte.
Aus diesen Ereignissen leitet sich das Selbstbild ab, das viele eingefleischte Amsterdamer von sich haben. Wach, pfiffig, immer ein offenes Auge für gute Gelegenheiten und bei der Lösung von Problemen auf Nüchternheit und Pragmatismus bedacht, eine leichte Neigung zur Anarchie nicht ausgeschlossen.
Außerdem sieht man sich als frei und unabhängig. Amsterdam hatte nie einen König oder Bischof, der über die Stadt bestimmen konnte. Als es vor Jahrhunderten mal einer versuchte, holte er sich eine blutige Nase. In den 1990er-Jahren wurden bei Bauarbeiten Mauern entdeckt, die auf den ersten Blick wie Teile eines Schlosses aussahen. Da war ganz schön was los. Denn wenn es in Amsterdam ein Schloss gab, dann muss es auch irgendwann mal einen Schlossherren gegeben haben. Zum Glück mehrten sich dann die Anzeichen, dass es sich bei den alten Steinen um Teile der Befestigungsmauer handelte.
Der durchschnittliche Amsterdamer ist nicht nur insgeheim der Meinung, in der coolsten Stadt der Welt zu leben, was ihn aber nicht davon abhält, bei jeder Gelegenheit herumzunörgeln. Und wieder andere verlassen die Stadt, sobald sie es sich leisten können und machen dadurch den Platz frei für Glückssucher, für die Amsterdam immer noch der große Sehnsuchtsort ist.
Die Landsleute im Rest der Niederlande sehen mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis auf die Stadt. Einerseits verkörpert Amsterdam pars pro toto geradezu mustergültig, wofür das Land steht, andererseits würden viele Niederländer in diesem Wirbelsturm aus Lärm und Wichtigtuerei nicht tot überm Zaun hängen wollen.
Auch bei den Besuchern gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Für die einen ist Amsterdam ein Freilichtmuseum, eine große Puppenstube mit immer neuen Verästelungen und ganz viel Zierrat. Für andere wiederum ist die Stadt eine einzige Partymeile, in der man alles machen kann, was man sich zu Hause nicht traut.
Wieder andere sehen in Amsterdam eine Art alternatives Universum, wo alles anders ist und völlig andere Regeln gelten.
Wer hat recht?
Worauf es in einem weiteren Buch über Amsterdam ankommt, wurde mir deutlich, als ich nach langen Jahren mal wieder in Berlin war. Der Arm-aber-sexy-Boom hatte seinen Höhepunkt zwar bereits überschritten, aber immer noch sah man in der Öffentlichkeit diverse Neu-Hauptstädter, die mit allerlei Berlin-Bedrucktem ihren aktuellen Wohnsitz deutlich machen wollten. Es spricht ziemlich viel dafür, dass die meisten dieser Neubürger nur zwischen Kreuzkölln, Friedrichshain und meinethalben immer noch Prenzlauer Berg pendelten, also von der eigentlichen Stadt so gut wie nichts mitbekamen, aber dennoch dem Glauben anhingen, sie wären irgendwie einheimisch und kenntnisreich.
Genau vor demselben Problem steht Amsterdam auch. Jedes Jahr kommen Tausende Touristen in die Stadt, klappern die üblichen Sehenswürdigkeiten ab (Rotlichtviertel, Coffee-shop und vielleicht noch Rembrandt im Reichsmuseum) und glauben dann nach dem Erwerb eines T-Shirts mit irgendeinem dämlichen Amsterdam-Aufdruck, sie hätten begriffen, was die Stadt wirklich ausmacht.
Nun ist dagegen gar nichts einzuwenden, wenn man davon ausgeht, dass doch jeder nach seiner Façon selig werden soll. Die Besucher sind froh, die Einheimischen verdienen Geld, können aber in ihren Wohnquartieren so weiterleben wie bisher. Zudem gibt es Destinationen – da fiele einem zum Beispiel Las Vegas ein – wo es vermutlich ziemlich ernüchternd wäre, wenn man tatsächlich den Versuch unternähme, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen.
Nun ist allerdings bei Amsterdam die Gefahr gering, dass sich die Stadt bei einem intensiveren Blick als eine Art aufgerüschte Provinzschönheit entpuppen würde. Nein, der Autor dieser Zeilen ist schon der Meinung, dass der tiefere Blick sich lohnt.
Denn letztendlich gibt es kein richtig oder falsch, sondern es geht darum, eine Perspektive zu finden, die zu einem passt. Und eine, die länger hält.
Dabei soll dieses Buch helfen. Amsterdam wird abseits der ausgetretenen Touristenpfade vorgestellt. Natürlich kommen wir um das Zentrum mit seinen bekannten Adressen nicht ganz herum, aber auch hier wird der Versuch unternommen, bei bekannten Sehenswürdigkeiten noch neue Aspekte hinzuzufügen.
Für die Schilderung der Stadt bieten sich die vier Himmelsrichtungen an. Es wird also entsprechende Kapitel über den Norden, Westen, Osten und Süden geben.
Das Buch versucht, so praktisch wie möglich zu sein. Die Reisenden können es vor ihrem Trip lesen, ebenso danach, um die Erinnerung noch einmal aufleben zu lassen, aber natürlich auch während sie dabei sind, die Stadt zu erkunden. Aber damit der Blick während der Rundgänge frei ist für das Ambiente der Stadt, verstehen sich die Texte vor allem als Orientierung und Anregung für eigene Exkursionen. Im Sinne der Lesbarkeit gibt es keine Fußnoten1 und bei der Beschreibung der Plätze in der Stadt gilt eine einfache Konvention: Bei der ersten Nennung wird ein Ort kursiv gesetzt und dann folgt in Klammern die Adresse. Ohne Postleitzahl, Telefon oder Internet, denn erstens ändern sich diese Daten öfter als man denkt und zweitens findet man diese Details sofort im Netz, wenn man Namen und Adresse eingibt.
Wenn Sie mithilfe des Werkes am Ende ein ganz individuell geprägtes Amsterdam in Ihrem Herzen tragen, das unverwechselbar ist, weil es eben ihr eigenes ist, dann haben sie etwas, was Ihnen niemand mehr wegnehmen kann.
Ich hoffe, die Fragen, warum es dieses Buch neben allen anderen gibt und was es vom Rest unterscheidet, sind jetzt beantwortet.
Aber, da war doch noch eine dritte, nicht wahr?
Ah ja, richtig.
Aber die habe ich vergessen. Ich beantworte lieber eine andere.
Wieso fühlt sich eine zugereiste Kartoffel berechtigt, ein Buch über Amsterdam zu schreiben, das einen Blick hinter die Kulissen bieten soll?
Das ist eine gute Frage und wenn ich darauf nicht eine ebenso gute Antwort wüsste, hätte ich mich vermutlich vor der Beantwortung...