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Wenn wir uns an den ersten richtigen Urlaub ohne Eltern und Geschwister erinnern, überwiegen häufig die großen Gefühle: Spaß und Aufregung, viel Unabhängigkeit und grenzenlose Freiheit. Wildes Camping hinter den Sanitäranlagen als das große Versprechen auf eine Zukunft, die nicht rosig, sondern golden sein würde. Nüchtern betrachtet ist allerdings nicht mehr passiert, als sich zu fünft in einen alten Opel zwängen (Sardinenbüchse), mit viel Bier und wenig Klamotten das alte Pfadfinderzelt verwüsten (Sardinenbüchse) und zwei Wochen von billigen Konserven leben (Ravioli in Dosen, warm oder kalt). Schön war es trotzdem. Man muss ja nicht über alles Tagebuch führen wie Markus Maria Profitlich …
Markus Maria Profitlich: Jugoslawien
17. Juli 1979
Peter hat ein Auto gekauft! Einen Datsun Sunny. Coupé! Mit vier Monaten TÜV und zwei Reserveanlassern. Der Anlasser ist eine Kinderkrankheit vom Sunny. Menschen kriegen Masern, ein Datsun Sunny kriegt einen kaputten Anlasser.
Ich lege mich unter das Auto und entdecke, dass Peters Datsun auch so was wie Masern hat. Peter meint, das sei nur Flugrost. Beim Abklopfen des Unterbodens breche ich ein Stück des Holms ab. Peter meint, so ein Holm sei nicht sicherheitsrelevant. Und er würde sofort mit dem Auto um die Welt fahren. Beschließen spontan, eine Weltreise zu machen. Der erste eigene Urlaub! Und dann direkt eine Weltreise!
Am Abend kann ich vor Aufregung kaum einschlafen. Später träume ich von Löwen, Elefanten und gefährlichen Abenteuern.
19. Juli 1979
Die Planung steht! Es gibt nur eine kleine Änderung. Wir fahren nicht um die Welt, sondern nach Jugoslawien. Peters Freundin Beate hat keine Lust auf Löwen, Elefanten und gefährliche Abenteuer. Sie meint, sie will lieber am Strand liegen. Und wie das denn meine Freundin sähe. An Monika hatte ich noch gar nicht gedacht! Für Frauen war in meiner Urlaubsplanung einfach kein Platz.
Am Abend überrasche ich Monika mit der Idee, gemeinsam in Urlaub zu fahren und dass man ja vielleicht auch Peter und Beate mitnehmen könnte. Monika küsst mich für meine tolle Idee. Fühle mich geschmeichelt.
21. Juli 1979, 9 Uhr
Es geht los! Auf der Straße stehen: Beate, Monika, Peter, zwei Zelte, vier Liegen, vier Stühle, ein Campingtisch, zwei kleine Reisetaschen (von Peter und mir), zwei große Reisetaschen, ein Gaskocher, zwei Paletten Ravioli, vier Kästen Bier, eine Palette Orangensaft, ein Werkzeugkasten, zwei Anlasser, vier weitere Anlasser (man weiß ja nie), ein irgendwie geschrumpfter Datsun Sunny und ich. Wir beginnen zu packen.
13 Uhr
Es hilft nichts. Entweder zwei Kästen Bier bleiben hier, oder einer von uns. Plädiere für Beate. Kriege sofort Streit mit Monika. Dass Frauen immer so solidarisch sind! Peter hat die rettende Idee. Ein Dachgepäckträger! Frage mich, ob Beate es auf einem Dachgepäckträger bis nach Jugoslawien schafft.
15 Uhr
Wir sitzen im Auto. Alles ist verstaut! Die Jungs vorne, die Mädels hinten, das Bier auf dem Dach. Traue mich nicht, tief einzuatmen, aus Angst, der Datsun könnte platzen. Peter dreht den Zündschlüssel. KLONG! Der Anlasser. Macht
nix. Ersatz findet sich ja im Kofferraum. Ganz unten.
17 Uhr
Unsere Ausrüstung steht wieder auf der Straße. Peter hat den neuen Anlasser eingebaut. Wir packen. Ich versuche, Monika und Beate zu überreden, die anderen Anlasser und den Werkzeugkasten auf den Schoß zu nehmen. Wegen der Ein- und Auspackerei. Falls wider Erwarten mal der Anlasser … Wieder Streit. Als wir endlich losfahren wollen, meint Monika, dass es schon zu spät sei, und ob wir nicht besser morgen früh fahren. Bevor ich eingreifen kann, teilt Beate uns mit, dass sie ebenfalls dieser Meinung ist. Zwei gegen zwei. Keine Chance. Um Monika zu schmeicheln, geb ich ihr recht. Man kann die Sachen ja im Auto lassen und abschließen. Kann man nicht. Wohl auch eine Kinderkrankheit vom Datsun.
Beate und Monika gehen Eis essen. Peter und ich räumen den Datsun aus.
22. Juli 1979, 10 Uhr
Wir sind unterwegs! Jugoslawien, wir kommen! Laut und aufgeregt unterhalten wir uns. Aufgeregt, weil es der erste eigene Urlaub ist. Laut, weil man sich sonst nicht versteht, denn hinten rechts macht der Datsun ein lautes Geräusch. Zwanzig Kilometer hinter Siegburg hält Peter an. Er meint, dass der Reifen am Kotflügel schleift, weil der Datsun hinten rechts zu schwer beladen sei. Schiele auf Beates ausladende Hüften und fange mir einen bösen Blick von Monika ein. Schlage schnell vor, das Gepäck anders zu verteilen und die schweren Sachen nach links zu packen. Monikas Blick ist wieder milde. Glück gehabt.
10 Uhr 5
Sitze jetzt hinten. Links neben Beate. Wegen der Gewichtsverteilung. Mit drei Anlassern und einem Werkzeugkasten auf dem Schoß. Warum konnte ich den Mund nicht halten? Es wird eng.
18 Uhr
Nach acht Stunden und zwei ausgetauschten Anlassern fahren wir durch Österreich. Alle schreien ständig, wie schön die Berge sind. Ich nicht, denn ich kann die Berge nicht sehen. Wer einmal mit ein Meter neunzig Körpergröße in einem Datsun Sunny Coupé hinten gesessen hat, weiß, warum. Mit vorgebeugtem Oberkörper starre ich die ganze Zeit auf den Werkzeugkasten und die Anlasser. Wenn mich später einer fragt, wie ich die österreichischen Berge finde, werde ich sagen: ölig.
Immerhin ist es schön warm. Das findet auch der Datsun. Damit der Kühler nicht kocht, schaltet Peter die Heizung ein. So ein gemeinsamer Urlaub verschweißt ganz schön. Überlege, ob man nicht besser ans Nordkap gefahren wäre.
Um meine Laune zu heben, schlage ich vor, Musik zu hören. Peter schaltet seinen Becker Mexiko Autoreverse ein. Beate will John Denver hören. Ich nicht. Ich will Sweet hören. Kugele mir fast die Schulter aus, um die Sweet-Kassette aus meiner Hosentasche zu angeln. Beate ist schneller. Sie hat ihre Kassetten in ihrer Handtasche. Scheiß Weiberkram! John Denver legt los. Urlaubsgefühle kommen auf. Bei mir nicht so. Dafür aber bei John Denver, denn nach dem Schlussakkord von Country Roads spult die Kassette automatisch zurück, und John fängt wieder von vorne an. Peter meint, das läge am Autoreverse. Und ob er mal kurz nachgucken soll. Die Mädels wollen nicht wieder anhalten. Ich schon. Doch ich habe drei Stimmen gegen mich. Die von Monika, die von Beate und die von John.
22 Uhr
Beate hat Peter abgelöst. Ich darf nicht fahren. Wegen der Gewichtsverteilung. Außerdem könnte ich gar nicht nach vorne gucken. Denn meine Halswirbelsäule hat das Handtuch geworfen und sich kurzerhand zu einem rechten Winkel versteinert. Es ist schon dunkel. Alle sind müde, nur John Denver ist noch munter. Noch. Denn John kennt die jugoslawischen Autobahnen nicht. Beate auch nicht. Und so braust sie mit neunzig Sachen in ein Schlagloch, ungefähr so groß wie der Datsun. John verstummt. Ich schreie auf. Der Schlag meines Kopfes gegen das Autodach gibt meiner Halswirbelsäule den Rest.
Der Mensch ist für den aufrechten Gang geboren. Ich offenbar nicht. Nach vorne gekrümmt stehe ich neben dem Datsun und schaue Peter zu, wie er den Wagen von unten abklopft.
Der Datsun hat den Schlag gut weggesteckt. Nur dem Holm mit den Masern fehlt ein weiteres Stück. Peter meint, das macht nix, denn die tragende Funktion der Karosserie übernähme ja der Dachgepäckträger. Das leuchtet ein. Wir quetschen uns wieder in den Sunny. Heimlich gebe ich dem Auto einen Spitznamen: Eiserne Jungfrau. Ich nicke ein und träume von Dosenöffnern, die Country Roads singen.
1 Uhr nachts
COUNTRY ROAAAADS! Ich werde wach. Sitze allein im Auto. Versuche, die Reste meiner Halswirbelsäule so zu falten, dass ich aus dem Seitenfenster sehen kann. Peter, Beate und Monika sitzen zusammen mit anderen Urlaubern um ein Lagerfeuer. Einer spielt Gitarre. Alle singen glücklich Country Roads. Im Hintergrund sehe ich ein paar Zelte. Dahinter das Meer. Wir sind da!
23. Juli 1979
Ich kann wieder gerade stehen! Zumindest theoretisch. Die Nacht im Zelt hat meiner Halswirbelsäule gutgetan, meinen Füßen weniger. Denn wenn ich ausgestreckt im Zelt liege, befinden sich meine Füße draußen. Und auf meinen Füßen muss heute Nacht ein rauschendes Fest stattgefunden haben. Mit einem Festbankett für eine Million jugoslawischer Moskitos. Überlege kurz, die kommende Nacht im Sunny zu verbringen. Sofort stellen sich Rückenschmerzen ein. Ein Warnsignal des Körpers! Humpele ins Meer, um meine geschwollenen Füße zu kühlen. Dann gibt es Frühstück. Ravioli.
25. Juli 1979
Bin das Mückenproblem angegangen, indem ich nachts meine Füße in Mülltüten stecke. Mit Erfolg. Nach dem Aufstehen jucken meine Füße nicht mehr. Dafür stinken sie jetzt. Die anderen zwingen mich, meine Frühstücksravioli einige Meter entfernt zu mir zu nehmen. Parmesan hätte man genug. Hahaha! Fühle mich ausgestoßen.
27. Juli 1979
Haut muss atmen. Das gilt auch für Füße. Verwerfe die Idee mit den Tüten und greife auf Chemie zurück. Im Campingplatzsupermarkt gibt es kein Autan. Der Verkäufer empfiehlt einen jugoslawischen Toilettenreiniger. Auf dem Etikett ist ein Totenkopf. Das wird die Mücken abhalten.
28. Juli 1979
Fahren morgens ins Krankenhaus. Immerhin darf ich vorne sitzen. Hinten ginge auch gar nicht, denn ich muss meine Füße ausstrecken, damit sich das Blut nicht in ihnen staut und...